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Karlsruhe: Stadtgeschichte Digitale Angebote: Stadtchronik Karlsruhe Die Chronik bietet Einträge zur Geschichte der Stadt Karlsruhe von ihrer Gründung als Residenz­stadt im Jahre 1715 an bis in die Gegenwart als Zentrum der Techno­lo­gie­Re­gion Karlsruhe. Stadt­teilchro­ni­ken der einge­mein­de­ten, ehemals selbstän­di­gen Stadtteile, die zum Teil sehr viel älter sind als Karlsruhe, liefern histo­ri­sche Infor­ma­tio­nen über die Entwick­lung des geogra­fi­schen Raumes, den die Großstadt Karlsruhe heute einnimmt. Die den Einträgen zugeord­ne­ten Bilder veran­schau­li­chen auch das jeweilige Zeitko­lo­rit, und an der Folge histo­ri­scher Stadtpläne kann die stadt­pla­ne­ri­sche Entwick­lung nachvoll­zo­gen werden. 10. August 1810 Durch eine Kabinettsordre wird das Großherzogliche Hoftheater gegründet. Die Theatertruppe Wilhelm Vogels wird auf Rechnung des Hofes übernommen. Oberst Freiherr v. Stockhorn wird erster Intendant. Die reguläre Spielzeit beginnt am 9. November mit der Oper "Achilles" von Fernando Paër. 31. Oktober 1810 Alle politischen Blätter des Landes müssen mit Ausnahme der "KarlsruherZeitung" ihr Erscheinen einstellen. Eine entsprechende Verordnung hatte Napoleon erzwungen. Ab 1. Januar 1811 bis 1817 erscheint die "Karlsruher Zeitung" als "Großherzogliche Badische Staatszeitung". 10. November 1810 Eine landesherrliche Verordnung führt neue Maße auf der Grundlage des Dezimalsystems ein. Die alten Maße und Gewichte werden jedoch erst 1829 entgültig abgeschafft. 10. Juni 1811 Tod des Großherzogs Karl Friedrich. Vom 21. - 23. Juni ist der Tote im Marmorsaal des Schlosses aufgebahrt. Am Morgen des 24. Juni wird der Leichnam in Pforzheim beigesetzt. Nachfolger wird sein Enkel Karl. 1. August 1811 Nach Übernahme des Postbetriebes durch das Land Baden wird in der Stadt eine Postdirektion (ab 1814 Oberpostdirektion) eingerichtet. Das Gebäude der Post von Thurn und Taxis in der Adlerstraße wird übernommen. 29. August 1811 In einer neuen Bauordnung werden dreistöckige Modellhäuser für Bürgerbauten zugelassen. 31. Oktober 1811 Versteigerung des alten Rathauses, das 1812 abgebrochen wird. Die Handelsleute Schmieder und Füeßlin errichten ein viergeschossiges Modellhaus. 1812 Die Geschäftsvermehrung in der Stadtverwaltung, die durch die Zunahme der Bevölkerung verursacht wird, erfordert die Bestellung eines zweiten Bürgermeisters. Wilhelm Christian Griesbach wird dadurch Karlsruhes erster Oberbürgermeister. 1812 Stadtrat und Stadtamt ziehen in die fertig gestellten Hintergebäude des geplanten neuen Rathauses um. 1812 Empfindliche Teuerung aller Lebensmittel. 1812 Baubeginn einer neuen Poststraße nach Ettlingen, der heutigen Ettlinger Straße nach Plänen von Johann Gottfried Tulla. 1. Februar 1812 Karlsruher Bataillone verlassen die Stadt zur Teilnahme am Russlandfeldzug Napoleons. 22. August 1812 Karlsruhe und Klein-Karlsruhe werden vereinigt. Der Gemeindevorsteher von Klein-Karlsruhe wird Mitglied des Stadtrats, die Bewohner mit mindestens 1.200 Gulden Vermögen und ausreichender Gewerbebefähigung erhalten das Bürgerrecht, alle anderen werden Hintersassen der Stadt. 1813 Nach der regen Bautätigkeit, die die Erhebung Badens zum Großherzogtum auslöste, gibt es nun 899 Häuser (gegenüber 488 im Jahre 1801) in der Stadt. 1813 Prinzessin Friederike, die Frau des ehemaligen Königs Gustav IV. von Schweden, erwirbt das von Johann Fr. Weyhing erbaute Palais in der heutigen Hans-Thoma-Straße 1. Seitdem wird das Gebäude auch "Schwedenpalais" genannt. Schwedenpalais 1813 In Karlsruhe werden Sammlungen veranstaltet zur Bildung eines freiwilligen Jägerkorps "zur Erhaltung Badens, zur Erkämpfung deutscher Freiheit und Unabhängigkeit". Aufgerufen dazu hatte Großherzog Karl am 9. Dezember 1812. Damit wird auch hier die Abkehr von Napoleon und der Anschluss an die deutsche Sache dokumentiert. 1813 Gottlieb Braun, Buchhändler aus Heidelberg, erhält die Genehmigung zur Niederlassung als Sortimentsbuchhändler in der Stadt. 7. Januar 1813 In einem Rundschreiben an den Karlsruher Handelsstand wird zu einem organisatorischen Zusammenschluss aufgerufen. Am 18. Januar findet die erste Versammlung statt. Tagungslokal ist das "Eckzimmer eine Stiege hoch" im Lokal des Museums am Marktplatz, wo sich heute ein Modehaus befindet. 28. Januar 1813 Grundsteinlegung für den Neubau der Museumsgesellschaft Ecke Ritter- und Lange Straße, der von Friedrich Weinbrenner geplant worden war. Die Einweihung findet am 9. Dezember 1814 statt. Gebäude der Museumsgesellschaft, Nordostecke Lange Straße/Ritterstraße. Der Weinbrennerbau wurde 1835 durch Hübsch vergrößert und brannte 1918 nieder. StadtAK 8/PBS oXIVa 627 18. Februar 1813 Die Reste (etwa 144 Mann) der ehemals 6.700 badischen Soldaten, die bei Napoleons Feldzug gegen Russland mitmarschierten und -kämpften, kehren nach Karlsruhe zurück. 25. September 1813 Das "Pfandhaus", dessen Einrichtung ein Edikt von Großherzog Karl vom 12. Dezember 1812 anordnete, wird im Rathaus hinter der "Großen Metzig" eröffnet. 28. November 1813 Kaiser Alexander von Russland besucht Karlsruhe. Freiherr Karl Drais von Sauerbronn führt einen von Menschenkraft getriebenen Wagen vor. 1814 Daniel Raphael Marx, der seit einigen Jahren eine Leihbibliothek betreibt, erhält die Erlaubnis, eine Verlagsbuchhandlung zu eröffnen. 28. Januar 1814 Großherzogin Stephanie lädt die badischen Frauen zur Bildung eines Vereins zur Unterstützung der im Feld stehenden Truppen ein. 26. Dezember 1814 Der nach Plänen von Friedrich Weinbrenner 1808 begonnene Bau der katholischen Stadtkirche wird am Namenstag der Großherzogin Stephanie eingeweiht. Großherzog Karl Friedrich hatte der Gemeinde die Glocken des vormaligen Klosters St. Blasien geschenkt. 1815 Zum 100-jährigen Bestehen der Stadt erscheint Theodor Hartlebens "Statistisches Gemälde der Residenzstadt Karlsruhe". 3. - 5. Oktober 1815 Johann Wolfgang v. Goethe weilt in Karlsruhe. Neben der ausführlichen Besichtigung des Naturalienkabinetts trifft er mit dem Straßburger Jugendfreund Johann Heinrich Jung-Stilling, Karl Christian Gmelin, Friedrich Weinbrenner und Johann Peter Hebel zusammen. 1816 Karl August Varnhagen v. Ense kommt als preußischer Gesandter nach Karlsruhe, wo er bis 1819 mit seiner Frau Rahel geb. Levin lebt. In seinen Denkwürdigkeiten und Tagebüchern sowie in ihren Briefen spiegeln sich die Karlsruher Verhältnisse jener Tage. 1816 Gründung einer neuen Lesegesellschaft, die ab 1817 Konzerte, Bälle und andere Veranstaltungen anbietet. Politische Gespräche sind hier ausdrücklich verboten. Im Gegensatz zur Museumsgesellschaft trifft sich hier das einfachere Gewerbebürgertum. 1816 Überschwemmungen, Unwetter und Missernten führen zu einer Teuerungswelle. Auch das Jahr 1817 bringt den Karlsruhern manche Not, die ganze Familien zur Auswanderung nach Nordamerika oder Russland veranlasst. 2. Juni 1816 Einweihung der neuen Evangelischen Stadtkirche am Marktplatz. Die Festpredigt hält Gottlieb August Knittel, der gleichzeitig die Jubelhochzeit der 87-jährigen Eheleute Hambel zelebriert. 18. November 1816 Eine "Ersparniskasse" wird eröffnet und mit dem Leihhaus verbunden. 1817 Erfindung einer Laufmaschine (Draisine), Vorläuferin des Fahrrads, durch Freiherr Karl Drais von Sauerbronn. Karl Friedrich Drais von Sauerbronn Karl Friedrich Drais von Sauerbronn auf dem von ihm erfundenen Laufrad.StadtAK 8/PBS oIII 115 1817 Das Mühlburger Tor wird westwärts an den heutigen Platz gleichen Namens verlegt. 1817 Einrichtung einer israelitischen Schule Ecke Kronen-/Lange Straße. 1817 Bildung einer Zunft der Bierbrauer und Küfer. 1816 gibt es zwölf Brauereien in der Stadt. 1817 Beginn der Rheinkorrektion bei Knielingen durch Johann Gottfried Tulla. Sie ist eine der großen technischen Leistungen des 19. Jahrhunderts, die Überschwemmungen und Hochwasserschäden verhindert. Das Werk Tullas wird mit der Regulierung des Rhein-Oberlaufs gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Max Honsell abgeschlossen. Der Verkehr mit Großschiffen auf dem Oberrhein wird möglich, ebenso großräumige Wirtschafts- und Verkehrsplanung. Johann Gottfried Tulla Johann Gottfried Tulla.StadtAK 8/PBS III 1586 1818 Das erste, seitdem regelmäßige herausgegebene Karlsruher Adressenverzeichnis erscheint. 1818 Die Artilleriekaserne wird aus der Kreuz-/Spitalstraße nach Gottesaue verlegt. 2. Februar 1818 Als zweiter deutscher Kunstverein wird der Badische Kunstverein in Karlsruhe gegründet. 22. August 1818 Der todkranke Großherzog Karl unterzeichnet die Verfassungsurkunde, die von Karl Friedrich Nebenius ausgearbeitet worden war. Baden erhält damit eine der liberalsten Verfassungen dieser Zeit. 1819 In Karlsruhe bestehen durch Verordnung vier Pfarreien mit vier evangelischen Pfarrern und zwei Vikaren. 1819 Friedrich List, Vorkämpfer der deutschen Zolleinigung, hält sich vor seiner Auswanderung nach Amerika vorübergehend in Karlsruhe auf. 1819 In der alten Artilleriekaserne Ecke Kreuz-/Spitalstraße wird die Schule untergebracht, deren Haus wegen der Neugestaltung des Markplatzes abgerissen wurde. 18. Februar 1819 Nachdem vom 22. Januar bis 4. Februar die Wahlmänner gewählt worden waren, wählen diese die drei Karlsruher Abgeordneten für den Landtag. Gewählt werden Christian Griesbach mit 45, Christoph Jakob Eisenlohr mit 41 und Friedrich Sievert mit 31 Stimmen. 22. April 1819 Feierliche Eröffnung des badischen Landtages. Die Sitzungen finden im Schloss statt. 1820, als der Landtag wieder zusammentritt, finden die Sitzungen der Zweiten Kammer im Haus Schlossstraße 18 (heute Karl-Friedrich-Straße) am Rondellplatz statt und 1822 im Saal des Hauses der Museumsgesellschaft. 27. August 1819 Unter dem antijüdischen Schlachtruf "Hepp! Hepp!" kommt es zu Ausschreitungen gegen jüdische Einwohner der Stadt. 18. Oktober 1819 Ein neues Schlachthaus wird beim heutigen Leopoldplatz eröffnet. Weitere Links zum Thema Ausführliche Informationen zur Stadtchronik Stadtteilchroniken Kurze Karlsruher Stadtgeschichte Suche in der Chronik 1715 - 1719 1720 - 1729 1730 - 1739 1740 - 1749 1750 - 1759 1760 - 1769 1770 - 1779 1780 - 1789 1790 - 1799 1800 - 1809 1810 - 1819 1820 - 1829 1830 - 1839 1840 - 1849 1850 - 1859 1860 - 1869 1870 - 1879 1880 - 1889 1890 - 1899 1900 - 1909 1910 - 1919 1920 - 1929 1930 - 1939 1940 - 1949 1950 - 1959 1960 - 1969 1970 - 1979 1980 - 1989 1990 - 1999 2000 - 2007
https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/chronik/?epoche=181%&title=Die%20Jahre%201810%20bis%201819
Karlsruhe: Stadtgeschichte Digitale Angebote: Stadtchronik Karlsruhe Die Chronik bietet Einträge zur Geschichte der Stadt Karlsruhe von ihrer Gründung als Residenz­stadt im Jahre 1715 an bis in die Gegenwart als Zentrum der Techno­lo­gie­Re­gion Karlsruhe. Stadt­teilchro­ni­ken der einge­mein­de­ten, ehemals selbstän­di­gen Stadtteile, die zum Teil sehr viel älter sind als Karlsruhe, liefern histo­ri­sche Infor­ma­tio­nen über die Entwick­lung des geogra­fi­schen Raumes, den die Großstadt Karlsruhe heute einnimmt. Die den Einträgen zugeord­ne­ten Bilder veran­schau­li­chen auch das jeweilige Zeitko­lo­rit, und an der Folge histo­ri­scher Stadtpläne kann die stadt­pla­ne­ri­sche Entwick­lung nachvoll­zo­gen werden. 1850 Gründung des Katholischen Vereins Karlsruhe zur Erhaltung und Belebung des kirchlichen Lebens unter den Katholiken. Vorsitzender ist Archivdirektor Dr. Franz Joseph Mone. 1850 Gründung der "Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins" durch Archivdirektor Dr. Franz Joseph Mone. 1851 Prof. Karl Weltzien errichtet eines der ersten großen chemischen Laboratorien Deutschlands am Polytechnikum. 20. Januar 1851 Auf Anregung von Amalie Bader gründen einige katholische Frauen den St.-Vincentius-Verein zum Zweck der Armen- und Krankenpflege. Nach vorübergehender Unterkunft im alten Gewerbehaus (Spitalstraße 31) bezieht der Verein in der Kriegsstraße 49 am 28. August 1861 ein eigenes Haus. 6. Juni 1851 Auflösung der Karlsruher Bürgerwehr. 1852 Im Alleehaus zwischen Karlsruhe und Durlach wird die erste Badische Zündholzfabrik eingerichtet. 21. Februar 1852 Prinz Friedrich übernimmt die Stellvertretung des Großherzogs Leopold. Nach dessen Tod am 24. April fällt ihm die Regentschaft für seinen kranken Bruder Ludwig II. zu. Am 5. September 1856 nimmt er die Würde des Großherzogs an. Großherzog Friedrich I. regiert Baden bis zu seinem Tod am 28. September 1907 als geachteter und geliebter Landesvater. 23. Juli 1852 Am dritten Jahrestag der Kapitulation der badischen Revolutionäre in Rastatt wird zur Erinnerung an die bei der Niederwerfung des Aufstands gefallenen preußischen Militärangehörigen das Preußendenkmal eingeweiht. Das auf dem heutigen alten Friedhof (Kapellenstraße) stehende Denkmal hatte König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen in Auftrag gegeben. Es wurde von Friedrich Eisenlohr und August Kiss entworfen. 23. August 1852 Eduard Devrient wird erster Fach-Intendant am Karlsruher Hoftheater. Er bleibt in diesem Amt bis 1870 und stirbt in Karlsruhe am 4. Oktober 1877. Eduard Devrient Eduard Devrient, Theaterintendant 1852 - 1870. StadtAK 8/PBS III 245 1853 Vielbeachtete Erstaufführung von Gustav Freytags "Journalisten". 1853 Neuaufbau des Rüppurrer Tores bei der Kriegs-/Kronenstraße. Es erhält den Namen Friedrichstor. 1853 Die seit Ende der 1720er-Jahre bestehende Schule in Klein-Karlsruhe erhält ein eigenes Schulgebäude in der Spitalstraße und wird als zweite Evangelische Stadtschule mit einfachem Unterrichtsbetrieb geführt. 17. Mai 1853 Eröffnung des von Heinrich Hübsch geplanten Theaterneubaus am Schlossplatz mit Schillers "Jungfrau von Orleans". 3./4. Oktober 1853 Der "Allgemeine Deutsche Musikverein" veranstaltet in Karlsruhe ein Musikfest. Hofkapellmeister Joseph Strauß und Franz Liszt dirigieren im Hoftheater. Das neue, von Heinrich Hübsch geplante Hoftheater eröffnete 1853 seine erste Spielzeit. StadtAK 8/PBS oXIVa 376 1854 Gründung der Privatbank Veit L. Homburger, die 1911 einen Neubau in der Karlstraße bezieht. Am 1. Januar 1939 wird die Bank "arisiert". 19. Dezember 1854 Einweihung der vom Regenten Friedrich I. gegründeten Kunstschule. Erster Direktor wird der aus Düsseldorf berufene Johann Wilhelm Schirmer. 28. Januar 1855 Richard Wagners "Tannhäuser" wird in Karlsruhe erstmals aufgeführt. 1856 Die Pariser Silberwarenfabrik Christofle & Cie eröffnet einen Filialbetrieb. 1856 Ferdinand Jakob Redtenbacher wird Leiter der Polytechnischen Schule bis 1863. Unter seinem Direktorat entwickelt sich diese zu einer Technischen Hochschule. 1856 Wilhelm Lauter, der spätere Oberbürgermeister, legt neue Hafen- und Kanalpläne vor. Vorerst wird jedoch lediglich der Maxauer Hafen weiter ausgebaggert. 23. Februar 1856 Durch das erste öffentliche Abonnementskonzert der Großherzoglichen Hofkapelle wird das musikalische Leben in der Stadt bereichert. Zuvor hatten vorwiegend Kammermusikkonzerte stattgefunden, u. a. seit 1841 Soireen im Rathaussaal. 20. September 1856 Vermählung Großherzogs Friedrich I. mit Prinzessin Luise von Preußen, der Tochter des späteren Kaisers Wilhelm I. in Berlin. Das neuvermählte Paar zieht am 27. September in Karlsruhe ein. Hochzeit Großherzogs Friedrich I. 1857 Fertigstellung des neuen Orangeriegebäudes an der heutigen Hans-Thoma-Straße nach Plänen von Heinrich Hübsch. 13. März 1857 Erstellung eines Bebauungsplanes der Stadt, der am 2. August vom Stadtrat erlassen wird. Er enthält die Grenzen des Baubezirks der Stadt und bestimmt, dass je nach Bedarf die unbebauten Grundstücke distriktweise zur Bebauung freigegeben werden. Eröffnet wird zunächst die Bebauung zwischen Amalien-, Kriegs- und Karlstraße. Mit der Bebauung des Viertels hinter dem Bahnhof (der heutigen Südstadt) wird in absehbarer Zeit gerechnet. Stadtplanung Mai 1857 Gründung eines Katholischen Gesellenvereins. 20. November 1857 Mit dem Eintritt von Friedrich Wolff in den kleinen, seit 1843 bestehenden Betrieb seines Vaters wird die Firma Wolff & Sohn für Parfümerie- und Feinseifenartikel gegründet. 1858 Karl Friedrich Lessing kommt als Direktor an die Großherzogliche Kunsthalle. 1863 wird er Professor an der Kunstschule. Karl Friedrich Lessing 1858 Der Fabrikant Georg Friedrich Holtzmann gründet als Kreditgenossenschaft den Vorschußverein Karlsruhe, die spätere Volksbank Karlsruhe. 15. April 1858 Eröffnung eines Stadtpostamtes im Direktionsgebäude der Post in der Kreuzstraße. Die früheren Räumlichkeiten im Bahnhof waren nicht mehr ausreichend gewesen. Das Postamt 1 wird am 1. August 1866 in das Haus Friedrichsplatz 1 verlegt. 1. September 1858 Der Betrieb des Städtischen Krankenhaus wird den evangelischen Diakonissen und dem katholischen Orden der Vincentinerinnen übergeben. Es werden zwei getrennte konfessionelle Abteilungen eingerichtet. 16. - 22. September 1858 Die 34. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte tagt in Karlsruhe. Etwa 900 Teilnehmer, darunter Gelehrte wie Robert Wilhelm Bunsen, Hermann Helmholtz, Gustav Robert Kirchhoff, Justus v. Liebig und Rudolf Virchow tagen in der Orangerie, im Ständehaus und im Polytechnikum. 1859 Die Uraufführung von Richard Wagners "Tristan" scheitert wie auch 1861 an technischen und personellen Schwierigkeiten, die das Werk einer Inszenierung stellt. 1859 Durch Gerichtsentscheid wird Karlsruhe das auf Beiertheimer Gemarkung liegende Sallenwäldchen zugeschlagen. 6. Juni 1859 Gründung des "Badischen Frauenvereins" in Karlsruhe auf Initiative von 14 Karlsruher Frauen. Großherzogin Luise wird zur entscheidenden Förderin des Vereins. 10. August 1859 Die Bahnlinie Karlsruhe-Wilferdingen wird eröffnet, die Verlängerung nach Pforzheim ist 1861 fertig gestellt. 10. November 1859 Anlässlich des 100. Geburtstages von Friedrich Schiller findet wie vielerorts auch in Karlsruhe eine dem nationalen Gedanken verpflichtete Festveranstaltung statt. Ähnliche Feiern folgen zum 100. Geburtstag Johann Gottlieb Fichtes (19. Mai 1862) und zum 50. Todestag Theodor Körners (29. August 1863). Weitere Links zum Thema Ausführliche Informationen zur Stadtchronik Stadtteilchroniken Kurze Karlsruher Stadtgeschichte Suche in der Chronik 1715 - 1719 1720 - 1729 1730 - 1739 1740 - 1749 1750 - 1759 1760 - 1769 1770 - 1779 1780 - 1789 1790 - 1799 1800 - 1809 1810 - 1819 1820 - 1829 1830 - 1839 1840 - 1849 1850 - 1859 1860 - 1869 1870 - 1879 1880 - 1889 1890 - 1899 1900 - 1909 1910 - 1919 1920 - 1929 1930 - 1939 1940 - 1949 1950 - 1959 1960 - 1969 1970 - 1979 1980 - 1989 1990 - 1999 2000 - 2007
https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/chronik/?epoche=185%&title=Die%20Jahre%201850%20bis%201859
Karlsruhe: Stadtgeschichte Digitale Angebote: Stadtchronik Karlsruhe Die Chronik bietet Einträge zur Geschichte der Stadt Karlsruhe von ihrer Gründung als Residenz­stadt im Jahre 1715 an bis in die Gegenwart als Zentrum der Techno­lo­gie­Re­gion Karlsruhe. Stadt­teilchro­ni­ken der einge­mein­de­ten, ehemals selbstän­di­gen Stadtteile, die zum Teil sehr viel älter sind als Karlsruhe, liefern histo­ri­sche Infor­ma­tio­nen über die Entwick­lung des geogra­fi­schen Raumes, den die Großstadt Karlsruhe heute einnimmt. Die den Einträgen zugeord­ne­ten Bilder veran­schau­li­chen auch das jeweilige Zeitko­lo­rit, und an der Folge histo­ri­scher Stadtpläne kann die stadt­pla­ne­ri­sche Entwick­lung nachvoll­zo­gen werden. 1870 Die Lammstraße wird zur Kriegsstraße verlängert. 1870 Friedrich Gutsch begründet die "Karlsruher Nachrichten". 1870 Eine Hans-Thoma-Ausstellung im Badischen Kunstverein endet mit einem Misserfolg. 1870 Zur Wahrnehmung der Armenpflege nach dem neuen Gesetz wird die Stadt in sechs Armendistrikte eingeteilt und eine Anzahl freiwilliger Armenpfleger ernannt. 1870 Gründung der Privatbank Straus & Co., die später am Friedrichsplatz ein repräsentatives Gebäude errichtet (heute Badische Bank). 1938 musste das jüdische Unternehmen verkauft werden. 1. Februar 1870 Gründung der Firma Junker & Ruh, die anfangs Nähmaschinen, später Herde und Öfen produziert. 5. Mai 1870 Mit einem Stiftungsgesetz werden das Krankenhaus und dessen Vermögen unter die Verwaltung der Gemeinde gestellt. Die Verträge mit den Kirchlichen Verbänden werden gekündigt, die räumliche Trennung des Jahres 1858 wieder aufgehoben. 1883 erwirbt die Stadt von der Stiftung Grundstücke, Gebäude und Inventar des Krankenhauses, das nun reine Gemeindeanstalt wird. 14. Mai 1870 Verabschiedung des Gesetzes über die neue badische Gemeindeordnung, die am 1. Juni in Kraft tritt. Sie hält am Prinzip der Bürgergemeinde fest. Abgeschafft wird der Bürgerausschuss, eingeführt wird wieder die unmittelbare Wahl der Gemeinderäte und der Bürgermeister durch die Bürger. 15. Juni 1870 Das Lehrerseminar bezieht das Hauptgebäude an der Bismarckstraße, wo heute noch die Pädagogische Hochschule ihren Sitz hat. 30. Juni 1870 Als Nachfolger Jakob Malschs wird Wilhelm Lauter von den wahlberechtigten Bürgern direkt zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Am 28. Juli kann noch ein neuer Gemeinderat gewählt werden, dann unterbricht der Krieg gegen Frankreich die ebenfalls fälligen Wahlen zum großen Bürgerausschuss. Wilhelm Florentin Lauter (1821 - 1892).StadtAK 8/PBS III 901 14. Juli 1870 Die Kriegsfurcht treibt viele Karlsruher zum Sturm auf die Sparkasse, der bei der Auszahlung der Guthaben das Geld auszugehen droht. 18. - 20. Juli 1870 Der Oberbefehlshaber der badischen Truppen, der Kronprinz von Preußen, weilt in Karlsruhe und wird von der Bevölkerung stürmisch begrüßt. 4. August 1870 Eröffnung des Betriebs der Rheintalbahn zwischen Mannheim und Karlsruhe. Sie mündet beim Mühlburger Tor in die Maxau-Bahn. Über die Einmündung der Rheintalbahn in das bestehende Schienennetz westlich oder östlich von Karlsruhe war ein heftiger Meinungsstreit entstanden. 4./6. August 1870 An diesen Tagen ist in Karlsruhe der Kanonendonner der Schlachten bei Weißenburg zu hören, die mit deutschen Siegen enden. Kriegslazarett in der Maschinenhalle der Straßenbahnwerkstätte in Karlsruhe, 1870/71. StadtAK 8/PBS oVI 152 26. Oktober 1870 Gegen Abend wütet ein schwerer Orkan in Karlsruhe und Umgebung, der große Sachschäden anrichtet. 1871 Der erste Fröbelsche Kindergarten wird in der Hirschstraße eingerichtet. 1871 Die Stadt gründet die Aktiengesellschaft "Verein zur Erbauung billiger Wohnhäuser", die bis 1873 30 Wohnhäuser in der Südstadt baut. 18. Januar 1871 Bei der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Versailler Schlosses ruft Großherzog Friedrich I. das Hoch auf Kaiser Wilhelm I. aus. 3. März 1871 Bei den ersten Reichstagswahlen, bei denen, wie schon bei den Wahlen zum Zollparlament 1868, alle männlichen Einwohner über 25 Jahre das gleiche und direkte Stimmrecht ausüben, wird im Wahlkreis Karlsruhe-Bruchsal Prinz Wilhelm von Baden als Abgeordneter gewählt. Sein einziger Gegenkandidat von der Katholischen Volkspartei erhält nur wenige Stimmen. 13. März 1871 Mit einer feierlichen Beleuchtung der Stadt und des Schlosses wird das Ende des Deutsch- Französischen Krieges gefeiert. 3. April 1871 Feierlicher Einzug der badischen Truppen in der Stadt mit Prinz Wilhelm von Baden an der Spitze. Mai 1871 Bei Inbetriebnahme des neuen Wasserwerks mit zwei dampfgetriebenen Kolbenpumpen sind 57 Grundstücke angeschlossen. Die Zahl der privaten Nutzer steigt rasch. 29./30. Mai 1871 In der Nacht des Pfingstmontag bricht in der Kronenstraße ein Brand aus, dem auch die Synagoge zum Opfer fällt. Die Synagoge in der Kronenstraße. Erbaut nach Plänen von Friedrich Weinbrenner 1798 - 1806, niedergebrannt 1871. StadtAK 8/PBS oXIVc 137 17. Juni 1871 Beschluss über die Errichtung einer städtischen Hypothekenbank, durch die vor allem Neubauten in der Innenstadt anstelle älterer Häuser gefördert werden sollen. Sie nimmt Mitte 1872 ihre Arbeit auf. 22./28. Juni und 3. Juli 1871 Neuwahlen zum Bürgerausschuss gemäß der neuen badischen Gemeindeordnung. 14. November 1871 Vorlage eines neuen Bebauungsplanes, der die sprunghaft vermehrte Bautätigkeit nach Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges regeln soll. Oberbürgermeister Lauter geht von einer höchsten Bevölkerungszahl von 60.000 aus. Ausgebaut werden sollen u. a. die Südstadt, in der Innenstadt sollen die zweistöckigen Häuser durch drei- bis vierstöckige ersetzt werden. Dafür waren schon 1860 Prämien ausgesetzt worden. 14. Dezember 1871 Der Bürgerausschuss fasst einstimmig den Beschlssß zur Errichtung einer Handelsschule, die am 10. April 1872 mit dem Unterricht beginnt. 1872 Es gibt 22 Brauereien in der Stadt, die zum Teil nur für den Bedarf der Bierwirtschaft des Besitzers betrieben werden. 1914, nach einem anhaltenden Konzentrationsprozess, produzieren noch 10 Brauereien in Karlsruhe Bier. 1872 In den Jahren 1872 - 1875 werden sämtliche Stadttore abgebrochen, um den Erfordernissen des Verkehrs Rechnung zu tragen. 1872 Die Karlsruher Messe findet letztmals auf dem Schlossplatz statt, der 1873 neu bepflanzt wird. Jahrmarkt auf dem Schlossplatz am 4. Oktober 1853. Tribünen für Geschicklichkeitsspiele gehörten zu den Attraktionen. StadtAK 8/PBS XI 1758 Oktober 1872 Gründung der "Henri Ehrmann & Cie.", die sich mit der Herstellung von Patronen befasst. Aus ihr wird 1878 die "Deutsche Metallpatronenfabrik Lorenz". 1873 Die im Jahr zuvor in eine staatliche Institution umgewandelte Hofbibliothek bezieht ihr Domizil in dem neuen Sammlungsgebäude am Friedrichsplatz. 1913 verfügt sie über etwa 3.800 Handschriften und 220.000 Bücher. 1873 An der Ettlingerstraße werden die Eisenbahnschienen durch einen Fußgängersteg überbrückt. Die Klagen über Störungen und Gefahren für den Verkehr nehmen jedoch weiter zu. Der Steg wird 1889 wieder abgerissen. 1873 In der Karlsruher Münze werden die ersten Reichssilbermünzen geprägt. 3. April 1873 Der unter Leitung von Josef Durm 1871 begonnene Bau des Vierordtbades wird feierlich eröffnet. Damit erhält die Stadt nach verschiedenen unbefriedigenden Einrichtungen die erste öffentliche Badeanstalt zunächst ohne Schwimmbad. Der Bankier Heinrich Vierordt hat etwa 40 Prozent der Baukosten gestiftet. 10. Mai 1873 Die seit 1837 geführten Verhandlungen über die Gemarkung Gottesaue werden mit der Eingemarkung nach Karlsruhe abgeschlossen. Oktober 1873 Fanny Trier gründet für die Ausbildung von Lehrerinnen ein privates Lehrerinnenseminar in der Stephanienstraße. Unter dem Namen "Prinzessin-Wilhelm-Stift" wird die Anstalt 1878 dem Oberschulrat unterstellt und zur Abhaltung von Staatsprüfungen ermächtigt. 1883/84 zieht das Seminar in die Sophienstraße um. Lehrerinnenseminar 7. Dezember 1873 Erster altkatholischer Gottesdienst. Auch in der Residenzstadt verwerfen eine Anzahl von Katholiken die Beschlüsse des Vatikanischen Konzils über das unfehlbare Lehramt des Papstes und bilden eine eigene Gemeinde. Ihr Anspruch auf Mitbenutzung der Stephanskirche führt zu heftigen Auseinandersetzungen, die sich auch in der Presse niederschlagen. Die Altkatholiken dürfen schließlich die evangelische Kleine Kirche mitbenutzen. 1874 Gründung des Vereins Bildender Künstler. 1874 Mit der Überwölbung des Landgrabens/Steinschiffkanals vom Friedrichstor (heute Mendelssohnplatz) längs der Steinstraße zum Durlacher Tor entsteht die spätere Kapellenstraße. Die Modellstadt von der Rückseite um das Jahr 1840. Am Landgraben entlang der heutigen Steinstraße stehen die Häuschen des \"Dörfle\". Im Hintergrund das Bürgerhospital am Lidellplatz. StadtAK 8/PBS XIIIb 54 10. Januar 1874 Bei den Reichstagswahlen kandidiert erstmals ein Vertreter der Sozialdemokratie, der in Karlsruhe 443 Stimmen erhält. 3. Oktober 1874 Das Karlsruher Gymnasium feiert die Einweihung seines neuen Schulgebäudes an der Bismarckstraße. 16. November 1874 Erste Beerdigung auf der neuen Anlage des heutigen Hauptfriedhofs, die als erster Parkfriedhof Deutschlands gilt. Die Kapelle, von Josef Durm geplant, ist 1876 vollendet. 1875 Fertigstellung des Gebäudes der Generaldirektion der Großherzoglich Badischen Staatsbahn in der Lammstraße am Friedrichsplatz. Der neugeschaffene Friedrichsplatz mit dem Sammlungsgebäude (Bibliothek und Naturkunde) und dem Gebäude der Generaldirektion der Badischen Eisenbahnen. StadtAK 8/PBS oXIIIb 47 1875 In der Rüppurrer Straße wird ein zweites, konfessionell gemischtes Lehrerseminar eröffnet. 1875 Zahlreiche Firmenzusammenbrüche markieren das Ende der sogenannten Gründerjahre. 1875 Als Organ der "Süddeutschen", später "Freisinnigen Volkspartei", erscheint der "Badische Landbote", dessen Herausgabe 1914 wieder eingestellt wird. 1875 Die zwischen Preußen und Baden abgeschlossene Militärkonvention hat die Auflösung des badischen Kriegsministeriums zur Folge. Karlsruhe wird Sitz des Generalkommandos des XIV. Armeekorps, das seinen Sitz in dem Neubau Bismarckstraße 2, dem sogenannten Werderschen Palais, nimmt. Das im zweiten Weltkrieg zerstörte Gebäude wird 1954 abgebrochen. 10. Februar 1875 Gründung der Volksbibliothek für das Lesebedürfnis der ärmeren Schichten. Sie wird von Anfang an von der Stadt unterstützt, die seit 1893 die Räumlichkeiten stellt. 17. März 1875 Oberbürgermeister Wilhelm Lauter wird wiedergewählt. Erster Bürgermeister wird Karl Schnetzler. Die Neuwahl sämtlicher Gemeindegremien ist notwendig durch das Gesetz über die neue Städteordnung vom 24. Juni 1874. Sie setzt an die Stelle der Bürgergemeinde das Prinzip der Einwohnergemeinde, die alle ortsansässigen und über 24-jährigen Männer gleichstellt. Mai 1875 Der am Platz des Ettlinger Tors errichtete Malschbrunnen ist fertig gestellt. Er ist von Heinrich Lang und Otto Warth (Architektur) sowie Friedrich Moest (Skulpturen) entworfen worden. Er soll an die Fertigstellung der Karlsruher Wasserversorgung erinnern. 12. Mai 1875 Feierliche Einweihung des Synagogenneubaus in der Kronenstraße. Architekt ist Josef Durm. 1876 Carl Engler wird als Direktor an das Chemisch-Technische Labor der Polytechnischen Schule berufen. 1876 Übernahme der Kunstschule in staatliche Leitung. Sie erhält 1893 den Namen "Akademie der Bildenden Künste". 1876 Die konservative "Landpost", später "Badische Post" erscheint. Die Zeitung stellt 1904 ihr Erscheinen ein. 1876 Uraufführung der 1. Sinfonie von Johannes Brahms unter Leitung von Otto Dessoff. 1876 Fertigstellung der Humboldt-Schule an der 1912 so genannten Englerstraße. 1. Januar 1876 Die Reichsbank-Filiale nimmt ihren Geschäftsbetrieb auf. November 1876 Einweihung der Friedhofskapelle auf dem neuen Hauptfriedhof. 1877 Eröffnung des Hotels Germania am Ettlinger Tor. 1877 Die Entleerung der Abortgruben in der Stadt erfolgt nach einem neuen System, das die Geruchsbelästigung deutlich vermindert. 1877 Errichtung einer provisorischen Ausstellungshalle am Festplatz. Sie wird 1886 gegenüber der Festhalle neu aufgebaut und für Zirkus- und Theaterveranstaltungen um einem Mittelbau erweitert. Im Juni 1913 wird das langlebige Provisorium abgerissen. 1877 Die Schreibweise des Namens der Stadt Karlsruhe mit K, bisher oft auch mit C, wird verbindlich. 10. Januar 1877 Bei den Reichstagswahlen siegt der Kandidat der Nationalliberalen Partei vor dem der Konservativen, der von der Zentrumspartei unterstützt wird, und dem der SPD. 21. Januar 1877 Eröffnung der Pferdebahn vom Durlacher Tor zum Mühlburger Tor, der im Mai die Inbetriebnahme der Strecke Marktplatz-Bahnhof folgt und im September die nach Mühlburg. Die Konzession für den Bahnbetrieb hat die Stadt dem Bremer Ingenieur Karl Westenfeld für 50 Jahre übertragen. 24. April 1877 Die Neuorganisation des Volksschulwesens tritt in Kraft. Ausgearbeitet wurde sie von Bürgermeister Karl Schnetzler und dem Leiter des gesamten Karlsruher Volksschulwesens Gustav Specht. Aufgrund des Landesgesetzes von 1876 sind die Volksschulen, wie von der Stadt schon 1836 gewünscht, konfessionell gemischt. Die Volksschule war - für Jungen und Mädchen getrennt - vielfach gegliedert. Schnetzler begründete dies damit, dass die Mannigfaltigkeit des Lebens an die einzelnen Volksklassen unterschiedliche Anforderungen stelle. Darauf habe die Schule Rücksicht zu nehmen. 29. April 1877 Feierliche Einweihung der von Josef Durm geplanten Festhalle auf der früheren Schießwiese am Festplatz. In diesem Jahr übernimmt die Stadt den Tiergarten und vereinigt ihn mit den Außenanlagen bei der Festhalle zum Stadtgarten. Portal der Festhalle 1892, im Hintergrund das Vierordtbad. Die von Josef Durm geplante Festhalle wurde 1944 bei einem Luftangriff zerstört. StadtAK 8/PBS oXIVa 157 1. August 1877 Eröffnung einer Allgemeinen Kunst- und Gewerbeausstellung für das Großherzogtum Baden, die der Gewerbeverein veranstaltet. 1878 Vollendung des Baus der Fichte-Schule an der Sophienstraße. 27. April 1878 Durch landesherrliche Verordnung wird die Kunstgewerbeschule ins Leben gerufen. Im Oktober 1889 bezieht sie einen Neubau in der Westendstraße (heute Reinhold-Frank-Straße) 81. Dort wird auch das 1890 geschaffene Kunstgewerbemuseum untergebracht. 6. November 1878 Eröffnung der Baugewerkeschule, der heutigen Fachhochschule an der Moltkestraße. 1879 An der Kriegsstraße entsteht unter Leitung Josef Durms ein Palais im Stil der italienischen Renaissance im Auftrag des Hoftheaterintendanten Dr. Albert Bürklin. Auf dem Grundstück des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Palais steht heute das Studio Karlsruhe des Süddeutschen Rundfunks. 1879 Die Lumpenverwertungsfirma Vogel & Schnurmann verlegt ihren Betrieb von Muggensturm nach Karlsruhe. 1899 eröffnet die Firma neue Betriebsgebäude am Westbahnhof. 8. Mai 1879 Aufgrund einer landesherrlichen Verordnung zur Einrichtung von Mittelschulen für die weibliche Jugend wird die frühere Höhere Töchterschule neu organisiert. Sie führt jetzt den Namen Höhere Mädchenschule. 21. Mai 1879 Die Lange Straße wird zur Goldenen Hochzeit des deutschen Kaiserpaares in Kaiserstraße umbenannt. Ihre westliche Fortsetzung, die bisherige Mühlburger Allee, erhält am 29. Januar 1880 den Namen Kaiserallee. 17. Juni 1879 Durch Ortsstatut wird die Zahl der Beigeordneten, die ab 1884 die Bezeichnung Bürgermeister erhalten, auf drei erhöht und die der Stadträte von 22 auf 21 vermindert. Am 24. März 1886 wird der frühere Zustand wiederhergestellt. 2. Oktober 1879 Mit Inkrafttreten der Reichsjustizreform erhält der oberste badische Gerichtshof, das Oberlandesgericht, seinen Sitz in Karlsruhe. 14. Oktober 1879 Die Kraichgaubahn nach Eppingen wird in Betrieb genommen. 1. November 1879 Beginn der Landgraben-Korrektion nach den Plänen von Hermann Schück. Weitere Links zum Thema Ausführliche Informationen zur Stadtchronik Stadtteilchroniken Kurze Karlsruher Stadtgeschichte Suche in der Chronik 1715 - 1719 1720 - 1729 1730 - 1739 1740 - 1749 1750 - 1759 1760 - 1769 1770 - 1779 1780 - 1789 1790 - 1799 1800 - 1809 1810 - 1819 1820 - 1829 1830 - 1839 1840 - 1849 1850 - 1859 1860 - 1869 1870 - 1879 1880 - 1889 1890 - 1899 1900 - 1909 1910 - 1919 1920 - 1929 1930 - 1939 1940 - 1949 1950 - 1959 1960 - 1969 1970 - 1979 1980 - 1989 1990 - 1999 2000 - 2007
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Karlsruhe: Stadtgeschichte Digitale Angebote: Stadtchronik Karlsruhe Die Chronik bietet Einträge zur Geschichte der Stadt Karlsruhe von ihrer Gründung als Residenz­stadt im Jahre 1715 an bis in die Gegenwart als Zentrum der Techno­lo­gie­Re­gion Karlsruhe. Stadt­teilchro­ni­ken der einge­mein­de­ten, ehemals selbstän­di­gen Stadtteile, die zum Teil sehr viel älter sind als Karlsruhe, liefern histo­ri­sche Infor­ma­tio­nen über die Entwick­lung des geogra­fi­schen Raumes, den die Großstadt Karlsruhe heute einnimmt. Die den Einträgen zugeord­ne­ten Bilder veran­schau­li­chen auch das jeweilige Zeitko­lo­rit, und an der Folge histo­ri­scher Stadtpläne kann die stadt­pla­ne­ri­sche Entwick­lung nachvoll­zo­gen werden. 1880 Gustav Schönleber wird als Lehrer für Landschaftsmalerei an die Kunstschule berufen. Gustav Schönleber 1880 Felix Mottl wird als Nachfolger Otto Dessoffs 1. Kapellmeister. 1904 verlässt er Karlsruhe. Unter seiner Leitung erwirbt sich die Karlsruher Oper den Ruf eines "Klein-Bayreuth". Felix Mottl 1880 Das seit 1863 bestehende städtische Rheinbad bei Maxau, beliebtes Ausflugsziel mit der Maxau-Bahn, wird völlig umgebaut und modernisiert. 28. Juni 1880 Neukonstituierung der Handelskammer, deren Bezirk stark vergrößert worden ist. Präsident wird der Bankier Karl August Schneider. 1881 Das Leihhaus und die Ersparniskasse werden aufgrund neuer gesetzlicher Vorschriften zur Städtischen Spar- und Pfandleihkasse zusammengeschlossen. 8. Februar 1881 Gründung des 1890 in "Karlsruher Altertumsverein" umbenannten Geschichtsvereins. 3. Juni - 16. Oktober 1881 Zur Silberhochzeit Großherzogs Friedrich I. mit Großherzogin Luise und zur gleichzeitigen Vermählung der Prinzessin Viktoria mit Kronprinz Gustav Adolf von Schweden am 20. September 1881 findet eine Kunst- und Gewerbeausstellung statt. An den Festtagen bei Hofe weilen neben dem deutschen Kaiserpaar zahlreiche deutsche und europäische Fürstlichkeiten in Karlsruhe. Triumphbogen auf dem Marktplatz zur Silberhochzeit des Großherzogspaares und zur Vermählung von Prinzessin Viktoria mit Kronprinz Gustav Adolf von Schweden. StadtAK 8/PBS oXI 551 16. Juli 1881 Zwischen Durlacher Tor und Durlach nimmt eine Dampfbahn den Betrieb auf. Sie benötigt für die 3,7 km lange Strecke 13 Minuten. Um die gleiche Zeit wird die zwischenzeitlich geschlossene Pferdebahn-Strecke Marktplatz-Bahnhof wieder eingerichtet. 27. Oktober 1881 Erstmals kandidiert bei den Reichstagswahlen ein Vertreter der Demokraten, einer zweiten liberalen Partei. Stärkste Partei bleiben die Nationalliberalen. 28. November 1881 Einweihung der von Gustav Ziegler geplanten Synagoge der orthodoxen Israelitische Religionsgesellschaft im Hinterhaus Karl-Friedrich-Straße 14. 1882 Die von Josef Durm geplante Villa von August Schmieder in der Karlstraße 10 ist fertig gestellt. Bezogen wird sie 1883. 1899 erwirbt Prinz Max von Baden die Villa, die fortan seinen Namen trägt. Prinz Max von Baden 22. Juni 1882 Bildung einer städtischen Archivkommission, der am 10. Juli 1885 die Einrichtung des Stadtarchivs folgt. 1883 Aus der Deutschen Metallpatronenfabrik Lorenz wird die Maschinenfabrik Lorenz Karlsruhe/Baden ausgegliedert. 1883 Gründung der "Badischen Historischen Kommission". Ihre Mitglieder versammeln sich jährlich in Karlsruhe. 1. Januar 1884 Inbetriebnahme der ersten Fernsprechanlage mit 25 Teilnehmern. Als erste Verbindungen nach außerhalb wird 1890 die nach Durlach eröffnet. 1. Mai 1884 Auf Initiative der Handelskammer wird mit Unterstützung durch die Stadtverwaltung in der Gartenstraße 39 ein Exportmusterlager eröffnet. Es soll der Absatzförderung badischer Gewerbe- und Industrieprodukte dienen. 15. September 1884 Gründung des Großherzoglichen Konservatoriums, das von der Stadt einen Zuschuss erhält. Erster Leiter wird Heinrich Ordenstein. Am 20. Oktober 1893 kann ein eigenes neues Schulgebäude in der Sophienstraße bezogen werden. Heinrich Ordenstein 1885 Die anhaltenden Diskussionen um die Verbesserung der Verkehrssituation am Hauptbahnhof führen zur Anlage eines Fußgängertunnels am Rüppurrer Tor (1885) und am Ettlinger Tor (1886). 1885 Umwidmung der Polytechnischen Schule in "Technische Hochschule". 1885 Erstes Erscheinen des Vorgängers der "Badischen Presse", die zwar kein Parteiblatt sein will, zumeist aber liberale Standpunkte vertritt. 1885 Unter dem Protektorat der Großherzogin Luise wird eine Malerinnenschule gegründet, die bis 1923 existiert. 27. - 31. Mai 1885 Drittes Musikfest in Karlsruhe. Im Mittelpunkt stehen Werke von Wagner, Liszt und Berlioz. September 1885 Die 1879 nach Plänen von Stadtbaurat Hermann Schück begonnenen Korrekturarbeiten am Landgraben werden mit dessen Überwölbung abgeschlossen. Er ist nun das Rückgrat des unterirdischen Kanalnetzes für die Entwässerung der Stadt. 1. Januar 1886 Eingemeindung Mühlburgs durch Landesgesetz vom 12. Dezember 1885. 9. April 1886 In seinem Elternhaus in der Stephanienstraße stirbt Joseph Viktor v. Scheffel. Die Beerdigung wird zu einer der größten Trauerbekundungen in der Stadt. Joseph von Scheffel Der Trauerzug für Johann Viktor von Scheffel in der Kaiserstraße. Der Blick in die Kaiserstraße zeigt das Nebeneinander alter Modellhäuser und neuer mehrgeschossiger Bauten. StadtAK 8/PBS III 1292 Oktober 1886 Das neue Gasversorgungswerk II östlich von Gottesaue eröffnet seinen Betrieb. Beide Gaswerke müssen zur Bedarfsdeckung immer wieder erweitert werden. 1884/85 erzeugt man 3,5 Millionen Kubikmeter Gas, 1913 16,5 Millionen. Das zweite Gaswerk im Osten der Stadt. StadtAK 8/PBS XIVa 80 23. Oktober 1886 Einweihung der Uhlandschule, die in zwei Etappen nach Plänen von Heinrich Lang und Wilhelm Strieder errichtet wurde. 1887 In diesem und dem folgenden Jahr entdeckt der Professor für Physik an der Technischen Hochschule, Heinrich Hertz, die elektromagnetischen Wellen. Damit sind die Voraussetzungen für die drahtlose Nachrichtenübermittlung geschaffen. 28. März 1887 Feierliche Eröffnung des neuen von Wilhelm Strieder geplanten Schlachthofes im Osten der Stadt. Erweiterungsbauten erweisen sich 1897 und 1914 als notwendig. 28. April 1887 Grundsteinlegung für die nach Entwürfen von Ludwig Diemer gebaute evangelische Johanniskirche in der Südstadt. Dies ist der erste Kirchenneubau, der durch das Wachstum der Stadt nötig wurde. Die Einweihung findet am 1. April 1889 statt. Die evangelische Johanniskirche in der Südstadt. StadtAK 8/PBS oXIVc 42 24. November 1887 Eröffnung der Kaiserpassage. 7. Juli 1888 In der Kaiserstraße 136 eröffnet als private Anstalt das Friedrichsbad seinen Betrieb. Es verfügt über die erste Schwimmhalle in der Stadt. 26. November 1888 Gründung der Bürger-Gesellschaft in der Südstadt. Sie ist der erste Bürgerverein eines Karlsruher Stadtteils. Er soll die Interessen des Stadtteils, der durch die Bahnlinie und die langen Schließungszeiten der Bahnübergänge von der Stadt abgetrennt ist, gegenüber den Behörden wahrnehmen. 1889 Der am 28. Mai 1865 gegründete Lebensbedürfnisverein wird in eine GmbH umgewandelt. Nach einer Krise anfangs der 70er-Jahre entwickelt er sich bis 1913 zu einem Unternehmen mit 28 Vereinsläden und einem Hauptlager in der Roonstraße 28. April 1889 Die Stadtverwaltung übernimmt die Straßenreinigung und die Hausmüllabfuhr in eigene Regie. Die Müllablagerung erfolgt südlich des Gasversorgungswerks II. Der entstandene Hügel wird später beim Bau der neuen Bahnlinie für die Aufschüttung des heutigen Messplatzes verwendet. 10. Mai 1889 Die katholische St.-Peter-und-Paul-Kirche in Mühlburg wird feierlich eingeweiht. Der erste Gottesdienst fand an Weihnachten 1886 statt. 19. August 1889 Kaiser Wilhelm II. kommt erstmals nach Karlsruhe und wird u. a. von 20.000 ehemaligen badischen Soldaten, die freie Fahrt mit der Eisenbahn nach Karlsruhe erhielten, festlich empfangen. Bis 1914 kommt der Kaiser noch 30 mal in die Residenzstadt. Weitere Links zum Thema Ausführliche Informationen zur Stadtchronik Stadtteilchroniken Kurze Karlsruher Stadtgeschichte Suche in der Chronik 1715 - 1719 1720 - 1729 1730 - 1739 1740 - 1749 1750 - 1759 1760 - 1769 1770 - 1779 1780 - 1789 1790 - 1799 1800 - 1809 1810 - 1819 1820 - 1829 1830 - 1839 1840 - 1849 1850 - 1859 1860 - 1869 1870 - 1879 1880 - 1889 1890 - 1899 1900 - 1909 1910 - 1919 1920 - 1929 1930 - 1939 1940 - 1949 1950 - 1959 1960 - 1969 1970 - 1979 1980 - 1989 1990 - 1999 2000 - 2007
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Karlsruhe: Stadtgeschichte Digitale Angebote: Stadtchronik Karlsruhe Die Chronik bietet Einträge zur Geschichte der Stadt Karlsruhe von ihrer Gründung als Residenz­stadt im Jahre 1715 an bis in die Gegenwart als Zentrum der Techno­lo­gie­Re­gion Karlsruhe. Stadt­teilchro­ni­ken der einge­mein­de­ten, ehemals selbstän­di­gen Stadtteile, die zum Teil sehr viel älter sind als Karlsruhe, liefern histo­ri­sche Infor­ma­tio­nen über die Entwick­lung des geogra­fi­schen Raumes, den die Großstadt Karlsruhe heute einnimmt. Die den Einträgen zugeord­ne­ten Bilder veran­schau­li­chen auch das jeweilige Zeitko­lo­rit, und an der Folge histo­ri­scher Stadtpläne kann die stadt­pla­ne­ri­sche Entwick­lung nachvoll­zo­gen werden. 1900 Im Karlsruher Adressbuch sind 337 Vereine und Verbände aufgeführt. Dies verweist auf die Ausdifferenzierung des Vereinswesens nach den unterschiedlichsten Interessen und Bedürfnissen. 1900 Anlage und Benennung des Gutenbergplatzes im Zuge der Bebauung der südlichen Weststadt zwischen Karlsruhe und Mühlburg. Bis 1829 war hier eine Hinrichtungsstätte, dann 1867 bis 1891 der Schießplatz der Schützengesellschaft. Im September 1908 wird der von Friedrich Ratzel entworfene Brunnen fertig gestellt. 1900 Die Technische Hochschule erhält das Promotionsrecht für die ingenieurwissenschaftlichen Fächer. 19. März 1900 Die Pferdebahn-Strecke zwischen Durlacher und Mühlburger Tor wird auf elektrischen Betrieb umgestellt. Bereist ab 10. Februar verkehrte zwischen Durlacher Tor und Durlach statt der Dampfbahn die "Elektrische". Straßenbahnhaltestelle Durlacher Tor etwa 1895. Noch fährt die Dampfbahn nach Durlach, daneben liegen die Gleise der innerstädtischen Pferdebahn zum Depot beim Gottesauer Platz. StadtAK 8/PBS oXIVg 29 15. Mai 1900 Einweihung des neuen St.-Vincentius-Krankenhauses in der Südendstraße. 2. Juli 1900 Nach zweijährigen Um- und Neubauten wird das Vierordtbad wiedereröffnet. Neben verschiedenen Badeeinrichtungen steht nun auch eine Schwimmhalle zur Verfügung. 1. September 1900 Vorführung der ersten echten Filmbilder im Varieté-Theater Colosseum u. a. mit Lokalaufnahmen vom Marktplatz und Bahnhof in Karlsruhe. 14. Oktober 1900 Einweihung der Christuskirche am Mühlburger Tor. Die Pläne stammen vom Architekturbüro Curjel & Moser. 18. Oktober 1900 Feierliche Eröffnung des neuen von Wilhelm Walter geplanten Reichspostgebäudes am heutigen Europaplatz anstelle der alten, 1897 abgerissenen Infanteriekaserne. Im Jahre 1912 wird mit dem Postscheckamt zum Stephanplatz das Geviert des Gebäudes geschlossen. Stephanplatz um 1900. Noch steht ein Teil der alten Infanteriekaserne. Im Hintergrund rechts der Neubau der Reichspost. StadtAK 8/PBS oXIVa 409 10. November 1900 Feierliche Einweihung des nach Plänen von Friedrich Ratzel erbauten Kunstvereinsgebäudes an der Waldstraße. 22. Dezember 1900 Als erster mehrerer neuer Streckenabschnitte wird die Straßenbahnlinie vom Mühlburger Tor über die Schillerstraße zum Kühlen Krug eröffnet. 1901 Anlage des heutigen Stephanplatzes. Zuvor wird die alte städtische Kaserne abgerissen. Auf dem nördlichen Platzteil findet der vom Ludwigsplatz verlegte Wochenmarkt statt. 1901 Gründung des Bürgerverein Altstadt. 1955 und nochmals 1974 wird er jeweils wiederbelebt. 1901 Das Flussbaulaboratorium der Technischen Hochschule zur Untersuchung und Simulierung von strömungsdynamischen Abläufen nimmt seinen Betrieb auf. 10. April 1901 Das in städtischer Regie betriebene Elektrizitätsversorgungswerk nimmt den Betrieb auf. Es wurde von der hier ansässigen Gesellschaft für elektrische Industrie beim Rheinhafen errichtet. Das Städtische Elektrizitätswerk am Rheinhafen. StadtAK 8/PBS oXIVa 97 1. Mai 1901 Nachdem am 22. April das erste Schiff eingelaufen ist, wird der Rheinhafen offiziell für den Verkehr freigegeben. Die feierliche Einweihung findet erst am 27. Mai 1902 statt im Rahmen der Feiern des 50-jährigen Regierungsjubiläums des Großherzogs Friedrich I. 5. Mai - 30. September 1901 Der Kunstgewerbeverein veranstaltet die erste Glasmalereiausstellung in Deutschland. 1. Oktober 1901 Die Großherzogliche Majolika-Manufaktur nimmt in einem Werkstattgebäude in der Hoffstraße ihre Arbeit auf. Die im Hardtwald gelegenen Neubauten der Majolika-Manufaktur sind 1909 fertig gestellt. 26. Oktober 1901 Feierliche Einweihung der Bernharduskirche am Durlacher Tor, deren Grundstein am 28. Juni 1896 gelegt wurde. Die Pläne fertigte der erzbischöfliche Baudirektor Max Meckel. Ihr Namenspatron ist der 1458 verstorbene selige Bernhard, Markgraf von Baden. 13. November 1901 Eröffnung einer vom Bürgerausschuss genehmigten Volkslesehalle in der Waldhornstraße, in der die politischen Zeitungen ärmeren Schichten zur Bildung eines eigenen Urteils zugänglich sein sollen. In der Folgezeit werden mehrere wechselnde Leseräume eingerichtet. 1902 Großherzog Friedrich I., seit 1900 erster Dr.-Ing. ehrenhalber, entspricht einer Bitte der Hochschule und genehmigt ihr, sich ihm zu Ehren "Fridericiana" zu nennen. April 1902 Zum 50-jährigen Regierungsjubiläum des Großherzogs Friedrich I. finden zahlreiche Feiern statt, eine Kunst- und eine Gartenausstellung werden veranstaltet. Die Karlsruher sammeln knapp 80.000 Mark für die wohltätige Großherzog-Friedrich-Jubiläumsstiftung. 13. Juni 1902 Der badische Landtag bewilligt weitere Mittel zum Kauf von Gelände südlich des Lauterbergs für die Neuanlage des Karlsruher Hauptbahnhofs. Damit ist auch der heftige Streit in der Stadt über die Hauptbahnhoffrage beendet. 16. Oktober 1902 Bezug der Nebeniusschule in der Südstadt. 13. November 1902 Gründung eines Karnevalsvereins, der 1903 bis 1910 jeweils einen Maskenzug durch die Stadt veranstaltet. Der Verein löst sich am 7. November 1911 auf. 1903 Die Allgemeine Versorgungsanstalt erhält mit einer neuen Satzung den Namen "Karlsruher Lebensversicherung". 1. Januar 1903 Das seit 1856 bestehende Bankhaus Eduard Koelle wird von der Oberrheinischen Bank übernommen. Diese hatte hier seit 1900 eine Filiale und wird am 19. Dezember mit der Rheinischen Creditbank fusioniert. 26. März 1903 Der Erwerb der Straßenbahn durch die Stadt für 6,3 Millionen Mark wird mit der Eintragung im Handelsregister vollzogen. 27. September 1903 In Mühlburg wird die 1786 erbaute evangelische Kirche völlig renoviert. Sie trägt nun den Namen Karl-Friedrich-Gedächtniskirche. 2. November 1903 Mehrere Karlsruher gründen den "Verein zur Hebung des Fremdenverkehrs", der von der Stadt gefördert wird. 7. Dezember 1903 Fertigstellung des Krematoriums im Hauptfriedhof, in dem im April 1904 die erste Feuerbestattung stattfindet. 1909 wird nach dem Entwurf von August Stürzenacker der Bestattungsplatz für die Urnen architektonisch und gärtnerisch gestaltet. 3. Mai 1904 Einrichtung eines Marktes auf dem Werderplatz. 3. Juli 1904 Feierliche Enthüllung des von Friedrich Moest geschaffenen Bismarck-Denkmals vor dem Portal der Festhalle. Seit 1953 steht das Denkmal vor dem Bismarckgymnasium in der Bismarckstraße. 1905 Die älteste deutsche Fabrik für Feuerwehrgeräte von Carl Metz verlegt ihren Betrieb nach Karlsruhe. Eröffnung des nach Plänen von Friedrich Ratzel ausgeführten Neubaus für das Generallandesarchiv und den Verwaltungsgerichtshof an der Hildapromenade. 1905 Fertigstellung des Brunnens auf dem Stephanplatz, den Hermann Billing (Architektur) und Hermann Binz (Plastik) geschaffen haben. 1. Mai 1905 Die 1891 geschaffene Arbeitsvermittlung wird von der Stadt übernommen und erhält am 1. Oktober 1907 die Bezeichnung Städtisches Arbeitsamt. 9. Mai 1905 Zum Abschluss verschiedener Feiern zum 100. Todestag Friedrich Schillers läuten von 17.00 Uhr bis 17.30 Uhr sämtliche Kirchenglocken der Stadt. Am gleichen Tag wird die Schiller-Schule an der Kapellenstraße eingeweiht. Das Karlsruher Theater führt in der Spielzeit 1904/05 sämtliche Schiller-Dramen in der Reihenfolge ihrer Entstehung auf. 19./28. Oktober 1905 Bei den Landtagswahlen, die erstmals als Direktwahl ohne Zwischenschaltung eines Wahlmännergremiums durchgeführt werden, gewinnen die Liberalen und die Sozialdemokraten je zwei der vier Karlsruher Wahlkreise. 1906 In einem Ortsstatut wird der Schulzwang für Gehilfen und Lehrlinge unter 18 Jahren angeordnet. Dies gilt erstmals in Deutschland auch für Mädchen, die in der Gewerbeschule nun die nötige Fachbildung für ihren Beruf erhalten. 8. Mai 1906 Der Bürgerausschuss stimmt dem Verkauf der städtischen Maxau-Bahn an das Land Baden zu. Die Maxau-Bahn hatte durch neue Bahnlinien und die Eröffnung des Rheinhafens ihre Bedeutung verloren. 14. Juli - 24. September 1906 In diesen Wochen finden zahlreiche Feiern zum 80. Geburtstag des Großherzogs Friedrich I., zur Goldenen Hochzeit des Großherzogs Friedrich I. mit Großherzogin Luise und der Silberhochzeit des schwedischen Kronprinzenpaares statt. Zu den Feierlichkeiten kommen allein mit der Eisenbahn zwischen dem 15. und 23. September etwa 150.000 Menschen nach Karlsruhe. Festlichkeiten am Badischen Hof 1906 13. August 1906 Eröffnung des Neubaus für die Pfandleihkasse in der Schwanenstraße 6. 31. August 1906 Eröffnung einer Stadtgeschichtlichen Ausstellung. Sie findet wie einige andere Ausstellungen in diesem Jahr statt aus Anlass von drei Jubiläumstagen. Friedrich I. ist 50 Jahre Großherzog, er wird 80 Jahre und feiert Goldene Hochzeit. 6. Dezember 1906 Tod des Oberbürgermeisters Karl Schnetzler, für den 1913 ein Denkmal in Auftrag gegeben und nach dem Ersten Weltkrieg am 13. Dezember 1919 in der Bahnhofstraße enthüllt wird. Die Büste schuf Otto Feist und die Architektur Wilhelm Vittali. Zum Nachfolger Schnetzlers wird am 22. Dezember der bisherige Bürgermeister Karl Siegrist gewählt. 1907 An der Technischen Hochschule richtet Prof. Dr. Hans Bunte die erste gastechnische Forschungs- und Versuchsanstalt der Welt ein. 1907 Fertigstellung der Telegraphen-Kaserne an der Hertzstraße. Das Rathaus wird durch eine Brücke mit dem Gebäude Karl-Friedrich-Straße 8 verbunden. Januar 1907 Eingemeindung Beiertheims, Rintheims und Rüppurrs nach teilweise 30 Jahre geführten Verhandlungen. 13. März 1907 Gründung der Genossenschaft Gartenstadt, der ersten ihrer Art in Deutschland. Bis 1. Juli 1912 sind in Rüppurr 61 Häuser bezogen. Gründer der Genossenschaft ist Hans Kampffmeyer, an den Bauplänen wirken Karl Kohler, Friedrich Ostendorf und Max Laeuger mit. Max Laeuger 4. August 1907 Im "Kinematographen" in der Waldstraße 26 ist der erste ortsfeste Kinoraum etabliert. Kurz darauf nennt er sich Thalia-Theater. 31. August 1907 In das nach Plänen von Wilhelm Strieder gebaute neue Städtische Krankenhaus an der Moltkestraße westlich der Infanteriekaserne und südlich des großen Exerzierplatzes werden die Kranken aus dem alten Haus in der Spitalstraße verlegt. 28. September 1907 Glockengeläut verkündet um 9.30 Uhr das Ableben von Großherzog Friedrich I., der auf der Insel Mainau um 9.00 Uhr gestorben ist. Öffentliche und private Gebäude zeigen Trauerfahnen, zahlreiche Einwohner legen Trauerkleidung an. Tod Großherzogs Friedrich I. Oktober 1907 In einem Zelt, das 2.500 Sitzplätze bietet, führt auf einer 80 qm großen Bildfläche ein Tournee-Unternehmen zweimal täglich ein zweistündiges Filmprogramm vor. 3. Oktober 1907 Der Leichnam des Großherzogs Friedrich I. kommt in die trauernde Stadt. An der Bahre in der Schlosskirche erweisen allein am 4. Oktober mehr als 20.000 Menschen dem Toten die letzte Ehre. Am 7. Oktober finden in Anwesenheit des Kaisers Wilhelm II. die Trauerfeierlichkeiten statt. Der Leichnam wird im Mausoleum beigesetzt. 10. November 1907 Einweihung der Lutherkirche an der Durlacher Allee, die von dem Architekturbüro Curjel & Moser im romanischen Stil geplant wurde. 27. November 1907 Die bisher im Rathaus untergebrachte Sparkasse bezieht in der Karl-Friedrich-Straße 8 neue Räume. 1908 Vollendung des an der Kaiserallee gelegenen Gebäudekomplexes der Gutenbergschule durch den Bau Ecke Goethe-/Nelkenstraße. 1908 Albert Geiger, der 1902 den "Verein Heimatliche Kunstpflege" gegründet hat, veröffentlicht seinen Roman "Martin Staub", dessen Schauplatz Karlsruhe ist. Sein nach 1910 geschriebenes Werk "Die versunkene Stadt" trägt unverhüllt autobiographische Züge und gibt Einblicke in das lokale Geschehen seiner Zeit. Das Buch ist posthum 1924 erschienen. 12. September 1908 Für einen Teil des Realgymnasiums beginnt im Neubau der Goetheschule an der Renckstraße der Unterricht. Die offizielle Einweihung des Gebäudes findet am 8. Dezember statt. 18. Oktober 1908 Die Bonifatiuskirche in der Weststadt wird eingeweiht. 15. Dezember 1908 Eröffnung des ersten Kinoneubaus. Das Residenztheater in der Waldstraße verfügt über 300 Sitzplätze. Weitere sieben Kinos folgen bis 1912. 1909 Der Verein Bildender Künstler erwirbt am Karlstor das Karlsruher Künstlerhaus, ehemals das Palais Berckholtz. Das Karlstor um 1910. Im Vordergrund die beiden 1912 abgebrochenen Torhäuschen, links das Künstlerhaus, ehemals Palais Berckholtz, rechts das Weltzienhaus. StadtAK 8/PBS oXIIIb 132 1909 Dem Professor für Physikalische Chemie an der Technischen Hochschule, Fritz Haber, gelingt die Darstellung von synthetischem Ammoniak. Dafür erhält er 1918 den Nobelpreis. 1909 Bildung einer Sozialdemokratischen Frauengruppe unter Leitung von Kunigunde Fischer, der im November 1910 etwa 150 Frauen angehören. 1. Januar 1909 Eingemeindung Grünwinkels durch Landesgesetz vom 19. September 1908. 1. Mai 1909 Verlegung des Marktes vom Promenadenweg der Sophienstraße (seit 3. Mai 1904) auf den Gutenbergplatz. 14. Mai 1909 Durch Ortsstatut wird die Stelle eines Dritten Bürgermeister geschaffen, um den gestiegenen Anforderungen an die Verwaltung gerecht zu werden. 30. Mai 1909 Der FC Phönix, gegründet am 6. Juni 1894, wird in Breslau mit einem Sieg über Viktoria Berlin Deutscher Fußballmeister. 2. Oktober 1909 In der Staatlichen Kunsthalle wird die "Hans-Thoma-Kapelle" eingeweiht. 21. Oktober 1909 Bei den Landtagswahlen erhält die SPD drei und die Nationalliberalen eines der vier Karlsruher Mandate. Weitere Links zum Thema Ausführliche Informationen zur Stadtchronik Stadtteilchroniken Kurze Karlsruher Stadtgeschichte Suche in der Chronik 1715 - 1719 1720 - 1729 1730 - 1739 1740 - 1749 1750 - 1759 1760 - 1769 1770 - 1779 1780 - 1789 1790 - 1799 1800 - 1809 1810 - 1819 1820 - 1829 1830 - 1839 1840 - 1849 1850 - 1859 1860 - 1869 1870 - 1879 1880 - 1889 1890 - 1899 1900 - 1909 1910 - 1919 1920 - 1929 1930 - 1939 1940 - 1949 1950 - 1959 1960 - 1969 1970 - 1979 1980 - 1989 1990 - 1999 2000 - 2007
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100 Jahre Mädchen-Gymnasium in Deutschland Karlsruhe 100 Jahre Mädchen-Gymnasium in Deutschland Karlsruhe 100 Jahre Mädchen-Gymnasium in Deutschland Ä Karlsruhe Herausgeber Stadt Karlsruhe G. Braun Geleitwort Der Begriff „badische Liberalität" ist zu einem Markenzeichen geworden, das seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Die badische Verfassung von 1818 galt als die freiheitlichste ihrer Zeit. Die Juden erlangten in Baden früher als in anderen Ländern Deutschlands die volle Gleichberechtigung. Wie neueste Forschungen inzwischen eindrucksvoll belegt haben, spielten Baden und seine Haupt- und Resi­ denzstadt Karlsruhe nicht nur hier eine Vorreiterrolle. Auch in einer Fra­ ge, die noch in der aktuellen politi­ schen Diskussion eine wichtige Be­ deutung hat, in der Frage nach der Stellung und der Chancen der Frauen in unserer Gesellschaft, erlangte Karls­ ruhe eine Schrittmacherfunktion. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts entwickelte sich die Frauenbe­ wegung zu einer der größten Bewe­ gungen Deutschlands. Es gab zwei zentrale Forderungen: die nach der politischen Gleichberechtigung und die nach gleichen Chancen in der Bil­ dung. Schon seit 1874 konnten Frau­ en als Armenpflegerinnen mitarbeiten, während 3 000 preußische Armenpfle­ ger noch 1896 mit sofortiger Amtsnie­ derlegung drohten, falls sie nur eine Frau in ihre Reihen aufnehmen müß­ ten. Die badische Gemeindereform von 1910 schrieb dann sogar ver­ pflichtend vor, daß in bestimmten kommunalen Kommissionen Frauen mitarbeiten sollten. Einen wahren Meilenstein auf dem Weg in die Gleichberechtigung legte die Karlsruher Stadtverwaltung aber im September 1893, als mit ihrer Hilfe hier in den Räumen der Höheren Mäd­ chenschule das erste Gymnasium für Mädchen eröffnet werden konnte. Bis dahin durften Frauen nirgendwo Abitur machen, der Zugang zu den Universi­ täten war ihnen versperrt. Zwar legte die Privatinitiative einiger Frauen, an­ geführt von Hedwig Kettler, den Grundstein für die volle Gleichberech­ tigung in der Bildung, doch das wäre ohne die Unterstützung der Stadt da­ mals nicht möglich gewesen. Als sich 1897 abzeichnete, daß die Schule als private Institution nicht mehr weiterge­ führt werden konnte, übernahm die Stadt das Gymnasium und gab ihm damit den Status einer öffentlichen Schule mit fest besoldeten Professo­ ren als Lehrkräfte. Damit war ihr Be­ stand gesichert, so daß 1899 die er­ sten Abiturientinnen von Karlsruhe aus auf die Universitäten in Baden ge­ hen konnten. Wir dürfen also mit Stolz auf die Eröff­ nung des ersten Mädchen-Gymnasi­ ums Deutschlands in den Mauern un­ serer Stadt zurückblicken und sehen das Ereignis als Auftrag, auch weiter­ hin in der Tradition der badischen Li­ beralität die Chancengleichheit aller Bürgerinnen und Bürger Karlsruhes herzustellen und zu gewährleisten. Prof. Dr. Gerhard Seiler Oberbürgermeister 5 Grußwort der Anita Augspurg Eine Stimme aus der Vergangenheit, ein Grußwort von einer Frau, die als eine der ersten die Türen zur Universität aufgestoßen hatte: Anita Augspurg (1857-1943), treibende Kraft der bürgerlichen Frauenbewegung und Mitglied des „Frauen­ vereins Reform", lebte zunächst in München, später in Berlin. 1893 ging sie nach Zürich, um ein Studium der Jura aufzunehmen, das sie 1897 mit einer Promotion abschloß. Energisch und voller Optimismus setzte sie sich für die Gleich­ stellung der Frauen in der deutschen Verfassung ein, ab 1900 galt ihr weiteres Engagement insbesondere dem Frauenwahlrecht. Hatte sie 1893 zur Eröffnung des Mädchen-Gymnasiums in Karlsruhe gesprochen, so mag sie nun - 100 Jahre später- ein fiktives Resümee ziehen. Anita Augspurg. Mitbegründerin des „Internationalen Ausschusses für einen dauernden Frieden" (1918). Sie wurde 1933 aus Deutschland ausgebürgert und starb 1943 im Exil in Zürich Vor 100 Jahren wurde das erste deut­ sche Mädchen-Gymnasium gegrün­ det! Lud man mich damals ein, die Schlußworte zu sprechen, so ist es mir heute eine noch viel größere Ehre, mit meinem Gruße die Reihe der Beiträge einzuleiten. Niemand kann heute mehr ermessen, welch bedeutender Schritt innerhalb der langen Geschichte des trotzen­ den Ringens um gleiche Rechte für die Frau mit der Eröffnung dieses Gymnasiums getan wurde. Denn was in rückblickender historischer Be­ trachtung als eine unaufhaltsame und folgerichtige Tatsache erscheinen mag, daß Frauen endlich den Schau­ platz der Kultur betreten und daß ihre Hände endlich in den Gang der po­ litischen Geschehnisse eingreifen durften, erforderte damals den uner­ schrockenen Kampf und die organi­ sierte Arbeit vieler. Erinnert sei deshalb an den dornenrei­ chen Weg, der erst zu überwinden, an das Gestrüpp, durch das sich Bahn zu brechen war: Daß die Frau an Anmut verlieren wür­ de, je mehr sie an geistiger Reife Zuge­ winne, so lautete unter den Einwän­ den gegen das Frauenstudium nur der gängigste. Zum „Beweise", daß alle intellektuelle Förderung des weib­ lichen Geschlechts sich mit Naturnot- 6 wendigkeit als vergeblich herausstel­ len müsse, berief man sich bald auf der Frau kleineres Gehirn, bald auf ihre „Putzsucht", die dem Bildungs­ drange im Wege stünden. „So laßt es uns Frauen doch zuerst versuchen und urteilt hernach!", ver­ langten wir immer wieder und - lange Zeit ungehört. Fast eines Jahrhunderts bedurfte es, bis aus den frühen Rufen nach höherer Bildung für die Frau Wirklichkeit werden konnte. Auch bezüglich der engeren Ge­ schichte des Karlsruher Gymnasiums verstrichen Jahre von den ersten Peti­ tionen bis zu dessen feierlicher Eröff­ nung. Erst dem 1888 gegründeten „Frauenverein Reform", später in „Verein Frauenbildungsreform" umbe­ nannt, an dessen Spitze die uner­ schrockene Frau Hedwig Johanna Kettler stand, gelang der Durch­ bruch, als er 1888/89 an die Landta­ ge petitionierte. Mit der Gründung der Schulstätte in Karlsruhe im Jahre 1893 wurde ein Meilenstein gesetzt - aber auch erst ein Grundstein gelegt, galt es doch überhaupt erst einmal, einen Schulbe­ trieb zu organisieren, welcher dem der Knaben-Gymnasien ebenbürtig war, und welcher den Mädchen die Mög­ lichkeit der Reifeprüfung sichern konnte! Als ich am 16. September 1893 sagte, endlich brauche die deutsche Frau nicht mehr im Auslande zu suchen, was ihr das Vaterland verwehrt, den Schlüssel zum Hochschulstudium, ahnte ich nicht, daß es weitere Jahre würde auf sich warten lassen, bis es den Frauen nicht nur erlaubt wäre, die notwendige Vorbildung für ein wis­ senschaftliches Studium zu erwerben, sondern auch „ordentlich" zu studie­ ren - überall in Deutschland. Es war auch hier das Land Baden, das sich an die Spitze der Bewegung stellte und schon im Jahre 1900 Frauen zum Studium zuließ. Wir gedenken heute der Geburtsstun­ de einer Bildungsstätte, die im wahr­ sten Sinne „Schule gemacht" hat. Längst ist es üblich geworden, auch in den Frauen die Blüte der Intelligenz zu vermuten! Daß Mädchen die Reife­ prüfung ablegen, ist heute eine Selbst­ verständlichkeit. Scharen von Frauen streben an die Hochschulen, und von ferne scheint es, als seien all unsere damaligen bildungsreformerischen Ideen in die Tat umgesetzt und am Werke. Und doch sehe ich mit Weh­ mut im Herzen, daß es noch viele Be­ reiche gibt, wo sich die Gerechtigkeit gegen das weibliche Geschlecht im­ mer noch Bahn brechen muß. Zum heutigen Festakte laßt uns mit Stolz und Freude all dessen geden­ ken, was bisher für die Frauenbildung errungen wurde und Mut daraus schöpfen für alles weitere, das es noch zu erringen gilt! (Gaby Pailer) f ü r 6 a ö § a f r 1993. 7 Ein Jahrhundert gymnasiale Mädchenbildung Die wilhelminische Ära: traditionelle Werte und erwachendes Selbstbewußtsein. Oberprima der Fichte-Schule 1905/06. Unter den Lehrern im Bildhintergrund Friedrich Keim (zweiter von links), später Direktor des neuerbauten Lessing-Gymna- siums, und Dr. Edmund Sallwürk (vierter von rechts), Leiter des Lehrerinnen-Semi­ nars in Karlsruhe 8 9 Kaiserzeit und Weimarer Republik Wenn gesellschaftliche Rollenbilder verändert werden, so löst das Irritationen aus. Eva Hirtler schildert, wie sich die Debatte von Befürwortern und Gegnern eines Mädchen-Gymnaiums immer wieder am gedachten Widerspruch zwischen „echter Weiblichkeit" und Abitur entzündete. Die Auseinandersetzung sollte das Mädchen-Gymnasium von der Gründung bis in die zwanziger Jahre hinein begleiten. Die Autorin ist Lehrerin am Lessing-Gymnasium in Karlsruhe. Positionen in der Epoche der Aufklärung „Mühsames Lernen oder peinliches Grübein, wenn es gleich ein Frauen­ zimmer darin hoch bringen sollte, ver­ tilgen die Vorzüge, die ihrem Ge­ schlechte eigentümlich sind, und können dieselbe wohl um der Selten­ heit willen zum Gegenstande einer kal­ ten Bewunderung machen, aber sie werden zugleich die Reize schwä­ chen, wodurch sie ihre große Gewalt über das andere Geschlecht aus­ üben."1 Diese Auffassung, die Immanuel Kant in seiner frühen Schrift „Beobachtun­ gen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" vertritt, ist typisch für die damalige Zeit. Sie spricht den Frauen die Fähigkeit zu geistiger Arbeit zwar nicht grundsätzlich ab, verwirft sie aber als unangemessen mit der Be­ gründung, dies mindere ihre besonde­ ren Vorzüge und ihre Attraktivität für das männliche Geschlecht. Der Ver­ zicht auf die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten, der Vernunft, wird somit als wesensgemäß für Frauen erklärt. Sie sollen damit genau jenes Instru­ ment vernachlässigen, dessen Kulti­ vierung in der Epoche der Aufklärung als unabdingbare Voraussetzung zur Schaffung einer besseren, humanen Gesellschaft aus freien, selbstbe­ stimmten Individuen erkannt wird. Trotzdem war diese Auffassung von der weiblichen Bestimmung, wie eine Vielzahl ähnlicher Äußerungen zeigt, noch auf Jahrzehnte hinaus vorherr­ schend. Kant selbst distanzierte sich später - anders als die meisten seiner Zeitgenossen - von diesem Stand­ punkt. In seiner Schrift „Beantwor­ tung der Frage: Was ist Aufklärung" kritisiert er die daraus folgende Konse­ quenz der Unmündigkeit, die er unter anderem bei der Gesamtheit der Frau­ en gegeben sieht. Mit der Aufforde­ rung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"2 verwirft er alle Bestrebungen, vom eigenen Den­ ken abzuhalten und charakterisiert sie als Anmaßung: „Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zu­ erst dumm gemacht haben, und sorg­ fältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie ein- sperreten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ih­ nen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie wür­ den durch einigemal Fallen wohl end­ lich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern, und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab."3 Mit dieser von Kant hier geäußerten Auffassung stimmt auch die Position des aufgeklärten Bürgertums überein, die von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen aufgrund der allgemeinen Vernunftfähigkeit ausgeht. Eine sol­ che Haltung erfordert in wesentlichen Punkten die gleiche Erziehung für bei­ de Geschlechter. Ganz in diesem Sinn verlangt der mit Kant befreundete Th. G. v. Hippel in seinem Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber", auch in der Mädchenbildung die Erziehung zum mündigen Staatsbürger in den Mittelpunkt zu stellen und den für die Erfüllung der Rolle als Hausfrau und Mutter notwendigen besonderen In­ halten nur sekundären Rang einzuräu­ men: „Man erziehe Bürger für den Staat, ohne Rücksicht auf den Ge­ schlechtsunterschied, und überlasse das, was Weiber als Mütter, als Haus­ frauen wissen müssen, dem beson­ dern Unterricht; und alles wird zur Ordnung der Natur zurückkehren."4 Bei der allmählichen Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahr­ hunderts setzte sich jedoch diese fort­ schrittliche, von aufklärerischem Geist getragene Haltung nicht durch. 10 Die Veränderung der Familienstruktur im 19. Jahrhundert Das ausgehende 18. Jahrhundert und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahr­ hunderts wurden geprägt von der wachsenden Bedeutung des Bil­ dungsbürgertums, bestehend aus Ver­ waltungsbeamten, Professoren, Ärz­ ten und anderen.5 Ausgehend von deren Erfordernissen entstand als neu­ es Leitbild - anstelle des von ständi­ schen Normen geprägten Menschen - das autonome Individuum, das durch Selbstdisziplin, Eigenverantwortung und soziale Mobilität bestimmt ist. Die Einübung der heranwachsenden Ge­ neration in die bürgerlichen Tugenden wurde im wesentlichen zur Aufgabe der Familie, die daraus eine verän­ derte, wichtige Funktion erhielt. Die frühere Produktions- und Konsumti­ onseinheit des Hauswesens mit den verschiedenen aufeinander bezoge­ nen Funktionen ihrer Mitglieder wurde in dieser neuen Schicht dadurch auf­ gelöst, daß die Erwerbstätigkeit außer Hause stattfand. Damit ging eine rigide Trennung der Aufgaben in der Familie vor sich: Die zum Unterhalt der Familie nötige Erwerbsarbeit fiel ausschließlich dem Mann zu, der Frau dagegen die stark intensivierte Erziehung der Kin­ der und die Pflege des familiären Be­ reichs, der zu einem von der Arbeits­ welt völlig abgeschnittenen Refugium wurde. Die Verpflichtung der Frauen auf diese Rolle führte dazu, daß sie im Bereich der bürgerlichen Öffentlichkeit keinerlei Einfluß gewinnen konnten. Ein Schulausflug, Pfingsten 1912. Ganz rechts auf dem Felsen sitzend Johanna Schlechter, die 1949 als erste Frau die Leitung des Fichte-Gymnasiums überneh­ men sollte Musik in freier Natur, Pfingsten 1912. Rechts Johanna Schlechter 11 Zwar gab es zunächst Entwürfe, die aus der Befreiung von der Erwerbstä­ tigkeit und der daraus resultierenden Möglichkeit, sich ohne äußere Zwän­ ge der Pflege der Kultur zu widmen, den Frauen die dominierende Rolle in der Gesellschaft als Kulturträgerinnen zuschrieben (der Mann sollte für das bloße Überleben, die Frau dagegen für das Leben im emphatischen Sinn zuständig sein6). Jedoch wurden keine Versuche gemacht, den Frauen in öffentlichen Einrichtungen die um­ fassende Bildung zu ermöglichen, die dafür notwendig gewesen wäre. Die auf das Bildungsbürgertum bezogene neuhumanistische Bildungsinstitution, das Gymnasium, war ihnen verschlos­ sen. Deshalb konnten die Beispiele emanzipierter und (durch Privatunter­ richt) hochgebildeter Frauen aus dem Großbürgertum wie beispielsweise Rahel Varnhagen oder Bettina von Brentano, die sich, teilweise gegen massiven Druck ihrer Umgebung, ein eigenständiges Leben erkämpften und in den Salons ein kulturelles Betä­ tigungsfeld schufen, für die Frauen des mittleren Bürgertums kein Vorbild werden. Ziele der bürgerlichen Mädchen­ bildung in den Anfängen Die den Bürgertöchtern zugestandene Bildung war stattdessen vollständig durch das bestimmt, was als notwen­ dig für die Erfüllung der Rolle als Gat­ tin, Hausfrau und Mutter galt. Dazu wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Städten Schu­ len für die Mädchen des Bürgertums gegründet, die „Höheren Töchter­ schulen". In Karlsruhe entstand relativ früh, 1827, eine solche Schule am Ett­ linger Tor, die 1838 in städtische Ver­ waltung übernommen wurde. Wäh­ rend des gesamten 19. Jahrhunderts standen die meisten dieser Schulen unter privater Leitung. Daher lagen die Anforderungen auf unterschiedli­ chem, meist jedoch auf sehr niedri­ gem Niveau, weil wegen schlechter Bezahlung die Fluktuation unter den Lehrkräften hoch war7. Mit der Über­ nahme der Karlsruher Schule durch die Stadt wurde sie als „erweiterte Volksschule" eingestuft. In ihren Un­ terrichtzielen und der Wahl der Inhalte war sie ganz durch die bürgerliche Vorstellung von der Besonderheit ei­ nes „weiblichen Wesens" und der dar­ aus folgenden Bestimmung der Frau zur Gattin, Hausfrau und Mutter ge­ prägt. So wird im Entwurf der Schul­ ordnung von 1838 betont, bei der Auswahl der Lehrerinnen und Lehrer werde darauf geachtet, „daß sie über die künftige Bestimmung der Töchter richtig denken, daß sie die Kunst ver­ stehen, aus der ganzen Masse von Unterrichtsgegenständen das dem weiblichen Geschlecht Angemessene auszuheben".8 Selbst zwanzig Jahre später bedeu­ tete das, wie dem Jahresbericht über das Schuljahr 1859/60 zu entnehmen ist, daß in der ersten Klasse die Fächer Deutsch, Rechnen, Schreib- und Ge­ sangsunterricht zusammen elf Stun­ den unterrichtet wurden, gegenüber zwölf Stunden für „weibliche Handar­ beiten". Noch in der fünften Klasse hatte kein anderes Fach so viele Un­ terrichtstunden, nämlich sechs. Von Gewicht waren während der gesam­ ten Schulzeit ansonsten nur die Fä­ cher Deutsch und Französisch mit durchschnittlich fünf Wochenstunden pro Klasse.9 Ganz im Gegensatz zu den Intentio­ nen eines von Hippel und anderer wur­ den die speziellen Inhalte der Mäd­ chenbildung nicht der allgemeinen staatsbürgerlichen Bildung unterge­ ordnet, sondern umgekehrt die ge­ samte Erziehung auf das einge­ schränkt, was für die gesellschaftlich vorgegebene Rolle der Gattin, Haus­ frau und Mutter als angemessen galt. Die Verweigerung einer allgemeinen Erziehung zum „Bürger für den Staat" (v. Hippel) fand ihre Ergänzung durch die umfassende Verweigerung bürger­ licher Rechte: So hatten Frauen kein Wahlrecht und besaßen nach der Ver­ heiratung nur eingeschränktes Recht über ihr Vermögen. Dies wurde mit dem besonderen „weiblichen Wesen" begründet, das die Frauen auf die Fa­ miliensphäre verweise. Auch eine Be­ rufstätigkeit erachtete man nicht als mögliche Perspektive der Mädchenbil­ dung; denn bereits im Kleinbürgertum, später auch vom Facharbeiter an auf­ wärts, galt Berufstätigkeit der Ehefrau als nicht standesgemäß.10 An eine Vorsorge für den Fall, daß kein Ehe­ mann als Ernährer zur Verfügung stand, wurde nicht gedacht. Unverhei­ ratet gebliebenene und verwitwete Frauen hatten vielfach Schwierigkei­ ten; sie waren, wenn sie nicht von ihrer Familie mitversorgt werden konn­ ten, auf öffentliche Unterstützung an­ gewiesen oder mußten in schlecht­ bezahlte Tätigkeiten ausweichen: als Erzieherin in privaten Haushalten oder als Lehrerin an einer Mädchen­ schule, wobei in Karlsruhe (und auch anderswo) in der städtischen „Höhe­ ren Töchterschule" Frauen lange Zeit nicht als Hauptlehrerin angestellt wurden und nur im Fach „weibliche Handarbeiten" und in den Fremdspra­ chen unterrichteten.11 Eine weitere, je­ doch nicht von vielen wahrnehmbare Möglichkeit bestand in der Leitung ei­ nes Mädchenpensionats.12 Insgesamt blieben die Möglichkeiten zur Exi­ stenzsicherung für Frauen des Bürger­ tums bis zum Ende des 19. Jahrhun­ derts sehr spärlich. Die Bedeutung der Wohltätigkeits­ vereine in Baden In Baden gelang es den Frauen, auf­ grund des hier herrschenden Libera­ lismus und durch die tatkräftige Unter­ stützung der Großherzoginnen Sophie und Luise jedoch früher als in anderen deutschen Staaten, den Spielraum in­ nerhalb der Grenzen, die durch die Festlegung auf das „weibliche We­ sen" gesetzt waren, zu erweitern.13 So wurden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wohltätigkeits­ vereine aufgebaut und wesentlich von Frauen mitgetragen. Da sich 12 diese Tätigkeiten als Erweiterung der in der Familie ausgeübten Funktionen des Erziehens und Helfens verstehen ließen, konnten die Frauen sich damit ein ehrenamtliches Betätigungsfeld in der Öffentlichkeit schaffen, das trotz­ dem nicht in Widerspruch zur „weib­ lichen Bestimmung" stand. Große Be­ deutung erlangte vor allem der Badische Frauenverein, der 1859 aus Anlaß des österreichisch-italienischen Krieges mit dem Zweck der Hilfe für die Hinterbliebenen von Gefallenen gegründet wurde und sich nach der raschen Beendigung des Krieges all­ gemein der Krankenpflege und Wohl­ tätigkeit verschrieb. 1873 wurde zu diesen Aufgaben ausdrücklich auch die „Förderung der Bildung und Er­ werbsfähigkeit des weiblichen Ge­ schlechts"14 hinzugenommen. Darin erwies sich der Verein als fortschritt­ lich und weitblickend, da er über die Symptome hinaus auch die Ursa­ chen, die erst die von ihm praktizierte Großherzogin Luise von Baden (1838- 1923). Ihrer Initiative und Unterstützung sind die Fortschritte in der Frauenbildung in Baden zu verdanken Zweite Klasse des Viktoria-Pensionats in Karlsruhe 1901. Das von Großherzogin Luise gegründete Institut galt als führende Einrichtung für die Erziehung der höheren Töchter Armenfürsorge notwendig machten, bekämpfen wollte. Obwohl seine Mit­ glieder der traditionellen Vorstellung von der auf die Familie gerichteten Be­ stimmung der Frauen verhaftet waren, ergab sich in diesem Punkt eine Über­ einstimmung zu den Forderungen der Frauenbewegung, die sich nach 1848 in Deutschland bildete und den Kampf um die Berufstätigkeit und die Verwirk­ lichung der staatsbürgerlichen Rechte für Frauen aufnahm. Anders als bei den Bemühungen um politische Gleichberechtigung, die noch auf lan­ ge Zeit erfolglos blieben, wurden auf dem Gebiet der Mädchenbildung und der Förderung der Berufstätigkeit von Frauen Fortschritte erzielt, wenn auch nur langsam. Daß in Baden die Aufgeschlossenheit für die Gründung eines Mädchen- Gymnasiums größer als anderswo war, ist mit Sicherheit nicht unwesent­ lich auf die umfangreiche Tätigkeit des Badischen Frauenvereins zurückzu- 13 14 Eine Klasse der Höheren Mädchenschule (spätere Fichte-Schule) 1903 mit ihrer Lehrerin Therese Schmitz-Auerbach führen. Da konnte nicht nur das Pro­ blem der finanziell unversorgten Frau­ en deutlicher als anderswo artikuliert werden, die Tätigkeit von Frauen in der Öffentlichkeit, wenn auch nur auf einem begrenzten Gebiet, war über­ haupt besser akzeptiert. Sozialer Wandel durch die Industriali­ sierung Einschneidende soziale Veränderun­ gen im letzten Drittel des 19. Jahrhun­ derts bildeten die Hauptursache dafür, daß das Leitbild der auf die Familie ausgerichteten Frau brüchig wurde. So fand im mittleren Beamtentum eine tendenzielle Verarmung statt, her­ vorgerufen durch mangelnde Auf­ stiegsmöglichkeiten aufgrund eines Bewerberüberschusses und - daraus folgend - für viele eine geringe Besol­ dung über viele Jahre. Dies führte dazu, daß viele Männer erst in höhe­ rem Lebensalter eine Familie gründen konnten und zahlreiche Ehefrauen ge­ zwungen waren, durch versteckte Heimarbeit das Familieneinkommen aufzubessern.1b Damit zusammen­ hängend stieg das Heiratsalter und auch die Zahl der unverheiratet blei­ benden Frauen stark an. Die wenigen Berufe, die den Frauen aufgrund ihrer Vorbildung offen standen, wie derjeni­ ge der Lehrerin, waren bald hoff­ nungslos überfüllt. Bereits 1864 beklagte die Industrie- und Handels­ kammer Karlsruhe diesen Mißstand.16 Darin zeigt sich, daß inzwischen von gesellschaftlich relevanter Seite ein gewisses Interesse an der erweiterten Ausbildung der Mädchen bestand. Insbesondere mit der wirtschaftlichen Expansion nach der Reichsgründung von 1871 entstand ein riesiger Bedarf an Arbeitskräften im industriellen Sek­ tor sowie in der Verwaltung. Die Vorbehalte gegenüber einer derart veränderten gesellschaftlichen Rolle der Frauen waren jedoch gleichfalls immens. Ein eher kurioses Dokument des Zwiespalts zwischen der Anerken­ nung gesellschaftlichen Wandels und dem Wunsch nach Bewahrung der bisherigen Rollenaufteilung stellt die von der Organisation der Lehrer an Mädchenschulen verfaßte Weimarer Denkschrift von 1872 dar. Dort wird die Notwendigkeit, die Mädchenbil­ dung zu verbessern, zwar anerkannt, gleichzeitig aber die Perspektive einer Berufstätigkeit ausgeklammert. Statt dessen wird eine mögliche Beein­ trächtigung des Ehemannes durch die mangelhafte Bildung der Frauen beschworen: „Es gilt, dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes in der Allgemeinheit der Art und der Interessen ebenbürtige Bildung zu er­ möglichen, damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt werde, daß ihm vielmehr das Weib mit Verständnis dieser Interessen und der Wärme des Gefühls für diesel­ ben zur Seite stehe .,."17 Ersfe Reformen der Mädchenbildung Anfang der siebziger Jahre wurde in einem ersten Schritt das Niveau der „Höheren Töchterschulen" vereinheit­ licht. In Baden wurde ab 1877, auf 15 einer dreiklassigen Vorschule aufbau­ end, die fünfklassige „Mittlere Töchter­ schule" und die siebenklassige „Hö­ here Töchterschule", später „Höhere Mädchenschule" genannt, unterschie­ den.18 Der siebenklassige Zug wurde formal den Mittelschulen der Knaben gleichgestellt, blieb inhaltlich aber nach wie vor am bisherigen weibli­ chen Erziehungsideal orientiert, so daß eine Vergleichbarkeit zu den Kna­ benschulen nicht gegeben war. So blieb nach den Fächern Deutsch und Französisch mit durchschnittlich fünf Wochenstunden das Fach „Weibliche Nadelarbeiten" (vier Wochenstunden) wichtigstes Fach.19 Inzwischen wurde aber von Vertrete­ rinnen der Frauenbewegung immer lauter die Forderung erhoben, den Mädchen die Gymnasialbildung zu er­ möglichen: Denn in anderen europä­ ischen Ländern wurden vereinzelt Frauen zum Studium zugelassen, während die Universitäten in Deutsch­ land dies mit dem Hinweis auf das fehlende Abitur verweigerten.20 Nach vorsichtigen, aber erfolglosen Bemü­ hungen des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins gegen Ende der sechzi­ ger Jahre, Landtage und Städte zur Schaffung der Voraussetzungen für die Gymnasialbildung von Mädchen zu gewinnen21, wurde 1888 ein erneu­ ter Versuch unternommen. Daß trotz der Reform der Mädchenbil­ dung in den siebziger Jahren der Kampf um die Gymnasialbildung so schwierig und lang war, lag mit Sicher­ heit daran, daß damit auch die über­ kommene Rolle der Frauen in Frage gestellt wurde. Zwar konnte die Forde­ rung nach Gymnasialbildung durch­ aus im Sinne des traditionellen Ver­ ständnisses weiblicher Aufgaben durch den Hinweis begründet wer­ den, daß mit der Zulassung zum Stu­ dium der Medizin und der Fächer für das Lehramt der Bereich der helfen­ den und erziehenden Tätigkeiten nicht verlassen, sondern nur erweitert werde, jedoch war mit dem Abitur die Zulassung zu allen universitären Fach­ richtungen verknüpft. Mit diesem Zugeständnis formaler Gleichberechti­ gung wurde zumindest im begrenzten Bereich der Bildung die Behauptung eines besonderen „weiblichen We­ sens" negiert. Außerdem war damit implizit anerkannt, daß den Frauen nicht grundsätzlich ein geringeres in­ tellektuelles Vermögen als den Män­ nern zu unterstellen sei. Zudem mußte davon ausgegangen werden, daß eine größere Anzahl geistig ge­ schulter Frauen auch verstärkt Forde­ rungen nach politischer Gleichberech­ tigung stellen würden. Die Zulassung der Mädchen zur Gymnasialbildung stellte also grundlegende Überzeu­ gungen der damaligen Gesellschaft und insbesondere eines Großteils der Männer in Frage. Sie war deshalb von prinzipiellem Interesse für die Frauen­ bewegung und stieß aus dem gleichen Grund auch auf erheblichen Wider­ stand. In der Vorgehensweise bei der Durch­ setzung dieser Forderung zeigt sich das Bemühen um eine möglichst brei­ te Basis in der Gesellschaft. Dies konnte nur gelingen, wenn die damit verbundenen allgemein emanzipatori- schen Ansprüche möglichst wenig hervorgehoben wurden, damit auch Teile der Bevölkerung, die diesen ab­ lehnend gegenüberstanden, dafür ge­ wonnen werden konnten. Die Durchsetzung eines ersten Mädchen-Gymnasiums Mit der Gründung des „Frauenvereins Reform", der nur das Ziel der Gymna­ sialbildung für Mädchen verfolgte, aber keine politischen Rechte for­ derte, wurde den Vorbehalten in der Öffentlichkeit organisatorisch Rech­ nung getragen. Auch in der Argumen­ tation der Gründungsaufrufe vermied man jeden emanzipatorischen An­ spruch. Daß dies aber nicht auf einen Mangel an Bewußtsein bei den Verfasserinnen schließen läßt, zeigt insbesondere der zweite Aufruf. In geradezu virtuoser Weise werden in der Argumentation dem Anschein nach die herrschenden Vorstellungen übernommen, bei genauer Lektüre zeigt sich jedoch, daß diesen exakt widersprochen wird. Den Auftakt bildete im Januar 1888 ein Rundschreiben der Herausgeberin der seit 1886 bestehenden Zeitschrift „Frauenberuf" an Mitarbeiterinnen. Darin wird sehr stark das soziale Pro­ blem der unverheirateten, finanziell unversorgten Frauen des Bürgertums hervorgehoben. Die schlechten Mög­ lichkeiten zur Berufsausbildung wer­ den zum „Kernpunkt der Frauen-Fra­ ge" erklärt: „Niemand verkennt, daß die Zahl der den Töchtern der gebilde­ ten Stände offenstehenden Berufe heute eine noch sehr beschränkte ist, daß infolgedessen der Zudrang zu je­ dem einzelnen dieser wenigen Er­ werbszweige ein enormer geworden ist (man erinnere sich z. B. nur der heutigen Massenproduktion an Kla­ vierlehrerinnen!), und daß selbstver­ ständlich aus diesem Grunde das Ein­ kommen der Einzelnen in den meisten Fällen ein durchaus unbefriedigendes sein muß. Diejenigen also, welche sich für den Fall des Unverheiratetbleibens durch Ausbildung zu einer Erwerbs- thätigkeit zu sichern suchen, müssen dies mit dem drückenden Gefühl der Aussicht auf nur geringen Erfolg thun!"22 Zur Lösung dieses Problems wird ge­ fordert, „jene Schulbildung, die der männlichen Jugend den Weg zu allen Berufsthätigkeiten der gebildeten Stände eröffnet: die Gymnasial-bezw. die Realschulbildung"23 auch für Mäd­ chen zu ermöglichen. Bereits in die­ sem internen Rundschreiben aber fühlt sich die nicht genannte Autorin genötigt, mögliche Befürchtungen zu zerstreuen, „daß die Frau sich dann, wenn ihr solche Vorbildung gegeben, auch auf ihr naturgemäß fremde, ih­ rem natürlichen Berufe feindliche Ge­ biete begeben würde"24, das heißt, daß die formale Gleichberechtigung in der Bildung die Frauen auf den Ge­ danken bringen könnte, sich über die gängige Vorstellung von ihrer Bestim­ mung hinwegzusetzen. So hebt sie 16 besonders hervor, daß Frauen damit die Möglichkeit gegeben würde, den Beruf der Ärztin anzustreben, der dem traditionellen Verständnis von der helfenden Rolle der Frau entge­ genkomme, und sie fügt die Überzeu­ gung hinzu, „daß jene Berufe, für wel­ che sich unser Geschlecht aus irgend einem Grunde als nicht geeignet that- sächlich erweisen sollte, sobald man überhaupt erst einmal zu einer sol­ chen Erweisung Gelegenheit geboten haben wird, uns andauernd und mit vollem Recht unzugänglich bleiben werden."25 Diese Reverenz vor der herrschenden Meinung wird jedoch durch eine spä­ tere Passage im Text relativiert, die sich in der Forderung nach erweiter­ ter Bildung auf die Würde der Frauen beruft und Vorbehalte dagegen als Vorurteile zurückweist: „Unserer Wür­ de und dem Ernste der Zeit entspre­ chend verlangen wir eine Ausbildung, die uns so viel gewährt und so wenig vorenthält, wie jene den Männern ge­ widmete: die uns in den Stand setzt, alle Vorurteile, die eine jahrhunderte­ lang vernachlässigte Erziehung ge­ gen uns und unsere Fähigkeiten er­ zeugt hat, zu beseitigen."26 Der Grundtenor im anschließenden, an die Öffentlichkeit gerichteten Aufruf des „Frauenvereins Reform" dagegen zeigt ein erheblich höheres Selbstbe­ wußtsein. Es drückt sich in der spiele­ rischen Ironisierung hergebrachter Vorstellungen aus. Der Aufruf beginnt mit der Feststellung: „Der .natürliche Beruf des Weibes (wie nicht minder der des Mannes) ist die Ehe."27 Aus dem so oder ähnlich bestimmten „na­ türlichen Beruf" der Frau war während des ganzen 19. Jahrhunderts die Ver­ schiedenheit der Bildung und der ge­ sellschaftlichen Rolle der Frauen, das heißt tatsächlich die Vernachlässi­ gung der Bildung und die Verweige­ rung staatsbürgerlicher Rechte be­ gründet worden. Bereits dadurch, daß der Begriff des „natürlichen Berufs" in Anführungszeichen gesetzt ist, findet eine leichte Distanzierung statt. Die als beiläufig in Klammern gesetzte Er- Traditionelle Rollenverteilung um die Jahr­ hundertwende. Operationsschwestern und Ärzte des Ludwig-Wilhelm-Krankenheims (spätere Landesfrauenklinik in der Kaiser­ allee) gänzung, daß auch für den Mann die Ehe den natürlichen Beruf bilde, macht schließlich vollends den ge­ wohnten Begründungszusammen­ hang zunichte; denn wenn für den Mann in gleicher Weise wie für die Frau die Ehe zur höchsten Bestim­ mung erklärt wird, taugt sie nicht mehr als Begründung, den Frauen Bil­ dung und staatsbürgerliche Rechte zu verweigern. Die Rollenverteilung der bürgerlichen Ehe wird im darauffolgenden Satz als gegeben festgestellt: „In der Ehe ist nach unserer heute geltenden Auffas­ sung der Mann der Ernährer der Fami­ lie, also auch des Weibes."28 Durch den Zusatz, der dies als Auffassung der Zeit charakterisiert, wird implizit ausgesagt, daß diese Konstellation nicht naturgegeben, sondern verän­ derbar ist. Weder der Vorstellung einer spezifisch weiblichen Sphäre noch dem Leitbild des Mannes als des Ernährers wird offen widersprochen; trotzdem ist ih­ rer Geltung als Prinzipien der Lebens­ gestaltung bereits der Grund entzo­ gen. Auch im folgenden gibt es nirgendwo offene Kritik. Statt dessen wird die Gründung von Mädchen- Gymnasien als Lösung für die Schwie­ rigkeiten, die der Erfüllung der Ehe als Lebensperspektive im Wege stehen, dargestellt. Wie im bereits zitierten Rundschreiben an Mitarbeiterinnen wird ausführlich die Notwendigkeit be­ schworen, die zum sozialen Problem gewordene große Anzahl von „unver­ heiratet bleibenden Mädchen mit Si­ cherheit vor Not zu schützen"29, das heißt, die Berufstätigkeit ist für den Fall, daß eine Eheschließung nicht zu­ stande kommt, vorgesehen. Darüber hinaus wird die „Beteiligung der ver­ heirateten Frau am Erwerbsleben" mit dem Hinweis auf das Beispiel der „sog. arbeitenden Klassen" als Mittel empfohlen, um „die Eheschließung auch der wachsenden Zahl jener Män­ ner zu ermöglichen, deren Einkommen nicht ausreichen würde, eine den ge­ sellschaftlichen Ansprüchen ihres Standes entsprechende Familien­ haushaltung zu führen".30 Dieser Vor­ schlag stellte - gerade auch durch 17 Die Schülerinnen und Lehrkräfte des Prin­ zessin-Wilhelm-Stifts 1913, einem Ausbil­ dungsseminar für zukünftige Lehrerinnen. In der Mitte der ersten Reihe Dr. Edmund Sallwürk, Direktor des Stifts von 1911 bis zu dessen Auflösung 1924. Die Absolventin­ nen galten als ausgezeichnet geschult und wurden bevorzugt in den Höheren Mäd­ chenschulen eingesetzt den Hinweis auf die Unterschicht - das soziale Normgefüge stark in Fra­ ge. Er konnte, da er ein wesentliches Element des männlichen Selbstver­ ständnisses berührte (wie erwähnt, galt bereits vom Facharbeiter an auf­ wärts die Berufstätigkeit der Ehefrau - zumindest die öffentlich erscheinen­ de - als nicht standesgemäß), nicht ernsthaft als Argument gedacht sein, um eine zögernde bis ablehnende Öf­ fentlichkeit zur Zustimmung zu bewe­ gen; eher wohl sollte er ironisierend aufzeigen, was eine Gesellschaft, für die das Ideal der Ehe vorgeblich so großes Gewicht hat, unternehmen müßte, wenn ihr an der Verwirkli­ chung tatsächlich so viel gelegen wäre. Im weiteren Text des Aufrufs werden die zu erwartenden Wider­ stände seitens der Regierungsvertre­ ter erörtert und realistisch einge­ schätzt; man vertraut jedoch auf die List der Vernunft, „denn unter den ge­ setzgebenden Volksvertretern so gut wie in den maßgebenden Kreisen der Regierungsbehörden fehlt es leider (oder sollen wir diesmal sagen: gott­ lob?) nicht an Vätern unverheirateter Töchter".31 Nachdem die Entscheidung über eine erste Petition 1888/89 im Badischen Landtag vertagt worden war32, trat der seit 1891 den Namen „Frauenbil- dungs-Reform" tragende Verein wie­ der mit Petitionen an die verschiede­ nen Landtage, in denen um die Erlaubnis zur Eröffnung eines Mäd­ chen-Gymnasiums auf privater Basis ersucht wurde. Überall erfolgte eine Ablehnung, mit Ausnahme von Ba­ den, wo sich insbesondere der natio­ nalliberale Abgeordnete Kiefer dafür einsetzte.33 Eröffnung und Anfangsprobleme des ersten deutschen Mädchen- Gymnasiums Am 16. September 1893 wurde das vom Verein „Frauenbildungs-Reform" organisatorisch getragene und finan­ ziell unterstützte Gymnasium mit ei- 18 ner ersten Klasse feierlich eröffnet. Die beiden Vorstandsmitglieder Hedwig (Johanna) Kettler und Anita Augspurg sprachen in diesem Zusammenhang auch erstmals aus, daß es nicht nur um das isolierte Problem der Versor­ gung unverheirateter Frauen ging, sondern daß mit dieser Gründung Hoffnungen auf Fortschritte im Kampf um eine gleichberechtigte Partizipati­ on der Frauen am öffentlichen Leben insgesamt verknüpft wurden. So rief Hedwig (Johanna) Kettler in der Eröff­ nungsansprache die Schülerinnen auf: „Halten Sie sich stets vor Augen, daß ... Sie mit jedem gemachten Fort­ schritt, mit jedem gut bestandenen Examen mithelfen, den Beweis zu er­ bringen von der natürlichen Ebenbür­ tigkeit des Frauengeistes, von seiner Entwickelungsfähigkeit weit über die ihm heute gesteckten Grenzen hin­ aus, und daß Sie auf diese Weise mit teilnehmen an dem großen Kampfe, den Tausende Ihres Geschlechtes heute kämpfen für Frauenbildung und Frauenrecht!"34 Anita Augspurg mahnte in der Schlußansprache die aktive Rolle der Frauen bei der Gestal­ tung des öffentlichen Lebens an: „Denn der Gang der Geschichte will es und die sozialen Aufgaben hei­ schen es, daß die Frau auf dem Kul­ turschauplatze erscheine und daß Frauenhände eingreifen in das Gestal­ ten der sozialen Verhältnisse."35 Auf das hier erhoffte emanzipatorische Potential dieser Schulgründung richte­ ten sich auch die Befürchtungen der Gegner der Frauenbildung; wie groß das Mißtrauen eines erheblichen Teils der Öffentlichkeit war, zeigte sich in vielen Äußerungen. Deshalb schrieb der dem Mädchen-Gymnasium wohl­ gesonnene Geheime Rat Gustav Wendt 1899 einen Bericht, in dem er auf die Befürchtungen einging und sie zu zerstreuen suchte: „Davon, daß auch nur eine einzige der dort unter­ richteten Schülerinnen, die mir in der Prüfung vorgeführt wurden, durch die vergangene ernste und gründliche Be­ schäftigung mit den alten Schriftstel­ lern (Homer, Herodot, Sophokles Audienz im Karlsruher Schloß um 1903: Prinzessin Auguste Viktoria, Gattin Wilhelms IL, neben Großherzogin Luise in der Schloßauffahrt usw.) an echter Weiblichkeit auch nur im mindesten Einbuße erlitten hätte, kann gar nicht die Rede sein."36 Daß auch Wohlwollen der Schule ge­ genüber vielfach mit Skepsis gepaart war, zeigt der Jahresbericht der Schu­ le von 1903/1904. Darin wird über eine Audienz bei der Kaiserin im Karlsruher Schloß berichtet: „Diese Grundgedan­ ken, daß der gesteigerte Bildungs­ drang der Mädchen befriedigt wer­ den müsse ebenso durch besonders geregelte Schuleinrichtungen, die auch zum Hochschulstudium befähi­ gen, erkannte Ihre Majestät die Kaiserin in der oben erwähnten huld­ reichen Audienz mit regstem Interesse an, und mit wohltuender Wärme zeigte sie sich namentlich erfreut über die Tatsache, daß die Schülerinnen des Karlsruher Mädchengymnasiums bei aller Hingabe an den dem Weibe scheinbar fernliegenden Stoff sich auch herzliche Fröhlichkeit und volle Weiblichkeit des Wesens erhalten."37 Die ersten Jahre des Gymnasiums ge­ stalteten sich schwierig. Auseinander­ setzungen um die Unterrichtsinhalte, finanzielle Probleme wegen zu großzü­ giger Vergabe von Stipendien und or­ ganisatorische Probleme, bedingt durch die weite Entfernung zum Hauptsitz des Vereins, Hannover, häuf­ ten sich derart, daß die Schule im Jahr 1897 von der Schließung bedroht war.38 In dieser Situation erklärte sich die Stadt Karlsruhe bereit, die Schule zu übernehmen. Darauf zog sich der Vorstand des Vereins unter Hedwig (Johanna) Kettler von dem Projekt zu­ rück mit dem Ziel, anderswo ein Mäd­ chen-Gymnasium zu gründen. Hedwig (Johanna) Kettler bestritt dem Karlsru­ her Gymnasium sogar das Recht, sich weiterhin als erstes deutsches Mäd­ chen-Gymnasium zu bezeichnen.39 Da die Schule aber weiterbestand, blieb dies wirkungslos. Sie wurde als Gymnasialzug der Höheren Mädchen- 19 „... volle Weiblichkeit des Wesens". Mädchen während der Schulferien anläß­ lich des 25jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. am 15. Juni 1913 auf dem Engländerplatz schule in der Sophienstraße 14 ange­ gliedert. Damit war das Überleben des Karlsruher Mädchen-Gymnasiums ge­ sichert, allerdings um den Preis, daß es stärker als vorher als Teil des spezifi­ schen Mädchenschulwesens er­ schien. Da die Gymnasialklassen je­ doch ohnehin auf der siebten Klasse der Höheren Mädchenschule aufbau­ ten, erleichterte diese Lösung mit Si­ cherheit einer größeren Anzahl von El­ tern den Entschluß, ihre Töchter diese Schullaufbahn einschlagen zu lassen. Die allgemeinen Vorbehalte bekamen auch die Schülerinnen zu spüren. So berichtete Rahel Straus, geborene Goitein, eine der vier ersten Abiturien­ tinnen, von den abfälligen Bemerkun­ gen, die auch in ihrer Umgebung über emanzipierte Frauen und insbesonde­ re über die englischen Suffragetten gemacht wurden, und von der Über­ windung, die es kostete, sich zu ih­ nen zu bekennen.40 Auch in der von ihr gehaltenen Abiturrede zum ersten Abitur dieses Mädchen-Gymnasiums im Jahre 1899 zeigte sie das Dilemma auf, in das die Mädchen gerieten, die den Weg der Gymnasialbildung ein­ schlugen. Sie versichert darin: „Nein, wir wollen nicht emanzipiert sein im schlechten Sinn, häufig ge­ brauchten Sinn dieses Wortes. Wir wollen nicht - das Schreckbild der Emanzipation - unsere Haare kurz scheren und Zigarren rauchen, wir wollen nicht unsere weibliche Natur, unser Wesen aufgeben, um den Män­ nern nachzuahmen, in der Meinung, daß wir dadurch etwas Besseres, Hö­ heres werden." Aber sie erkennt auch klar die emanzipatorischen Möglich­ keiten zu einer selbstbestimmten Existenz, die in diesem Weg liegen. So betont sie, ganz im Sinne der Auf­ klärung, „wir wollten lernen, wie man lernt, wie man durch das Wissen selb­ ständig wird und innerlich frei; damit wir uns eigene Ansichten, eigene Ge­ danken bilden könnten; damit wir be­ fähigt werden, von dieser Grundlage des Gelernten aus, uns selbst weiter vorwärts zu bringen."41 Die Entwicklung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Schwierigkeiten gab es zunächst noch bei der Anerkennung des Abiturs durch die Universitäten; man­ che weigerten sich, Abiturientinnen des Mädchen-Gymnasiums aufzu­ nehmen. Erst 1904 wurde das Abitur des Mädchen-Gymnasiums in Karlsruhe offiziell durch eine großher­ zogliche Verordnung mit dem anderer Gymnasien gleichgestellt.42 Trotz die­ ser anfänglichen Hindernisse war aber inzwischen der Bann gebro­ chen; etwa gleichzeitig zur Grün­ dung in Karlsruhe richtete in Berlin Helene Lange Gymnasialkurse ein, die auf dem Besuch der Höheren Mädchenschule aufbauten 43, in zahl­ reichen anderen Städten Deutsch­ lands entstanden Mädchen-Gym­ nasien, und der gymnasiale Zweig in Karlsruhe erhielt allmählich so großen Zulauf, daß beschlossen wurde, ein neues Gebäude zu errichten, das 1911 bezogen werden konnte. Aus diesem Anlaß wurden die verschie­ denen bisher an der Höheren Mäd­ chenschule vereinten Züge wieder getrennt. Darüber berichtet die „Chronik der Residenzstadt Karls­ ruhe" von 1911: „Die Höhere Mäd­ chenschule wurde im September 1911 in zwei Schulen getrennt. In dem früheren Anstaltsgebäude in der Sophienstraße blieb eine Vor­ schule und eine Höhere Mädchen­ schule. Diese Anstalt führt nunmehr Lehrerkollegium der Fichte-Schule. Rechts am Tisch sitzend Direktor Löhlein Die Höhere Mädchenschule, Sophien­ straße 14 (heutiges Fichte-Gymnasium), um die Jahrhundertwende 20 21 Professor Friedrich Keim, Direktor der Höheren Mädchenschule von 1902 bis 1911, danach Leiter der neuerbauten Lessing-Schule den Namen .Fichte-Schule'. In das neue Gebäude am Gutenberg-Platz wurde eine Vorschule, eine Höhere Mädchenschule mit Oberstufe und das Mädchengymnasium verlegt. Diese Anstalt führt den Namen ,Les­ sing-Schule'."44 Der Direktor der bis­ herigen Schule, Friedrich Keim, zog in das neue Gebäude; Direktor der Fichte-Schule wurde Joseph Metz­ ger. Er bemühte sich schon bald nach dem Wegzug der Gymnasialab­ teilung um eine Erweiterung durch eine Oberrealschule mit Oberreal­ schulabitur als Kontrast und Ergän­ zung zur Lessing-Schule. Dies wur­ de 1926 verwirklicht: Von nun an existierten zwei Mädchen-Gym­ nasien in Karlsruhe, und an der Fichte-Schule konnten 1929 die er­ sten Oberrealschülerinnen das Abitur ablegen.45 Die Berufstätigkeit, zumindest von un­ verheirateten Frauen, nahm, bedingt durch die wachsende Industrialisie­ rung, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stetig zu; wenn sich die auch größtenteils auf wenige „frauengeeignete" Berufe wie Kran­ kenschwester, Sekretärin und Verkäu- Hofansicht der Lessing-Schule. Postkarte aus dem Jahr 1915 ferin beschränkte, so bildete diese Entwicklung doch die Basis für die wachsende Akzeptanz auch der wis­ senschaftlichen Ausbildung von Frau­ en. Als durch die Novemberrevolution 1918 das seit langem von der Frauen­ bewegung geforderte Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, war ein wei­ teres Hindernis auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe von Frau­ en am öffentlichen Leben aus dem Weg geräumt. Weiterhin galt Berufstätigkeit von Frauen nur als Notlösung, die für ledi­ ge Frauen generell, für verheiratete Frauen aber nur in einer Ausnahmesi­ tuation in Frage kommen sollte. Als solche wurde ein Krieg angesehen, für den die Berufsausbildung von Frauen als nützlich erkannt wurde. So schrieb der an der Lessing-Schule tätige Dr. Sigmund Reichenberger im Jahr 1918, am Ende des Ersten Welt­ kriegs, in seinem Rückblick auf das erste Vierteljahrhundert des Mäd­ chen-Gymnasiums: „Der gewaltige Kampf, in dem wir jetzt seit vier Jah­ ren stehen, hat an die deutsche Frau die höchsten Anforderungen gestellt. Er hat aber auch gelehrt, von wie un­ schätzbarem Wert es ist, wenn wir Frauen haben, die mit der umfassend­ sten Bildung ausgerüstet sind."46 Am Ende seines Berichts, bei der Erläute­ rung einer Tabelle über Studium, Ver­ heiratung und Berufstätigkeit der ehe­ maligen Abiturientinnen, konkretisiert er diese Aussage im Hinblick auf die Berufstätigkeit verheirateter Frauen: „Welche Frauen sind nach der Verhei­ ratung noch berufstätig? Unser Ver­ zeichnis beantwortet die Frage mit Ja bei 21; und zwar bei 15 Ärztinnen, drei Philologinnen, zwei Volkswirtschaftle- rinnen, einer Apothekerin." Bezeich­ nend ist seine Interpretation dieser Fakten: „Doch hängt die Höhe dieser Zahl mit dem Kriege zusammen. In mehreren Fällen, wo die Frau den Be­ ruf zugunsten ihrer Frauenpflichten aufgegeben hatte, kehrte sie im Krie- „Beim Packen von Uebespaketchen für unsere Grauen", so lautet die Bild­ unterschrift für diese Fotografie aus dem Jahr 1915. Frauen wurden während des Krieges dringend als Arbeitskräfte benötigt, wenn auch in erster Linie in der Kriegs­ produktion und als Ersatz für die an die Front einrückenden Männer Schaffnerinnen 1915 22 ge wieder zu ihm zurück. Die Gattin des Arztes, des Apothekers, die selbst Ärztin und Apothekerin ist, hat entschlossen die Pflichten des im Fel­ de stehenden Gatten auf sich genom­ men. Die Lehramtspraktikantin oder Oberlehrerin tritt an die Stelle des ein­ berufenen Amtsgenossen; und ein rei­ ches und dankbares Betätigungsfeld bietet sich der Volkswirtschaftlerin. Diese Frauen werden, zumal wenn sie Mütter sind, im Frieden wieder ins Haus zurückkehren. Nur einige Ärztin­ nen üben auch als Ehefrauen regelmä­ ßige Berufstätigkeit aus."47 Die selbst­ verständliche Annahme, daß die Frauen sich wieder aus dem Berufsle­ ben zurückziehen würden, zeigt, daß auch bei einem für die Frauenbildung aufgeschlossenen Autor und Lehrer an der Lessing-Schule eine Berufstä­ tigkeit nur als Ersatzfunktion galt. Ins­ gesamt aber wurde in den zwanziger Jahren der Frauenbildung größere Be­ deutung zugemessen, und Frauen be­ teiligten sich in immer stärkerem Maß an öffentlichen Aufgaben. Mit der Machtübernahme der Nationalsozali- sten wurde diese Entwicklung jedoch abrupt beendet. Anmerkungen: Immanuel Kant, Werkausgabe, Band 2, W. Weischedel (Hrsg.), Frankfurt 1977, S. 852 7 a. a. O., Band 11, S. 53 3 a. a. O., Band 11, S. 53/54 4 Th. G. v. Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Frankfurt 1977, S.133 5 vergleiche hierzu und zum folgenden: Heidi Rosenbaum, Formen der Familie, Frankfurt 1982, S. 255ff; außerdem: Da­ niela Alexander, Bürgerliche Frauenbil­ dung als Bestandteil der Standesproble­ matik des Bürgertums im Deutschen Reich von 1871 bis 1918, unveröffent­ lichte Diplomarbeit im Fach Geschichte, Universität Bamberg 1989, S. 4ff. 6 a. a. 0., S. 26ff. a. a. O., S. 61/62 zitiert nach dem Jahresbericht von 1859/ 60, S. 12 a. a. O., S. 19 bis 28 siehe zum Beispiel: „Karlsruher Frauen 1715-1945", Ausstellung der Karlsruher Stadtgeschichte 1992, Karlsruhe 1992, S. 186; Daniela Alexander, a. a. O..S.49 vergleiche den Jahresbericht von 1859/ 60, S. 29 siehe dazu: „Karlsruher Frauen 1715- 1945", S. 136 a. a. O., S. 150ff. a. a. O., S. 208 siehe dazu: Daniela Alexander, a. a. O., S. 49f. siehe dazu: „Karlsruher Frauen 1715— 1945", S. 201 zitiert nach: Hannelore Faulstich-Wie­ land, Koedukation - Enttäuschte Hoff­ nungen?, Darmstadt 1991, S. 16; H. Lange und G. Bäumer (Hrsg.), Hand­ buch der Frauenbewegung, III. Teil, Ber­ lin 1902, S. 111 vergleiche den Jahresbericht der Hö­ heren Töchterschule von 1877/78. Die daraus abgetrennte Höhere Mädchen­ schule residierte ab 1878 in der Sophien­ straße 14 siehe den Jahresbericht von 1877/78, S. 8 G. Kaller, „Mädchenbildung und Frau­ enstudium", in: Zeitschrift für die Ge­ schichte des Oberrheins 140, 1992, S. 361/362 vergleiche M. Twellmann, Die deutsche Frauenbewegung, Meisenheim 1972, S. 77ff. zitiert nach: Das Mädchengymnasium in Karlsruhe. Amtlicher Bericht, Weimar 1894, S. 5/6 O. 7 O., o. a. a a. a a. a, a. a. O a. a. O a. O a. O a. O a. O 10 S. 11 S. 15 33 Das Mädchengymnasium in Karlsruhe, S. 18 34 a. a. O., S. 30 35 a. a. O., S. 34 36 zitiert nach S. Reichenberger: Das Karls­ ruher Mädchengymnasium in den ersten fünfundzwanzig Jahren, Karlsruhe 1918, S. 23 37 Jahresbericht von 1903/1904, S. 8 38 vergleiche G. Kaller, a. a. O., S. 361 ff 39 Luise Riegger, Geschichte der Mädchen­ bildung in Karlsruhe, Karlsruhe 1973, S. 20; GLA 235/42414 40 Rahel Straus, Wir lebten in Deutschland, Stuttgart 1961, S. 76/77 41 Die Rede von Rahel Straus, geb. Goitein ist abgedruckt auf Seite 46ff 4? vergleiche dazu die ausführliche Darstel­ lung bei G. Kaller, a. a. O., S. 373 43 vergleiche dazu G. Kaller, a. a. O., S. 373 44 Chronik der Residenzstadt Karlsruhe von 1911, S. 68 45 vergleiche: Hundert Jahre Fichtegymna­ sium in Karlsruhe, S. 10 46 S. Reichenberger, a. a. O., S. 7 47 a. a. O., S. 58/59 siehe G. Kaller, a. a. O., S.362 24 Eingriff - Umbruch - Neuaufbau Wechselvoll Ist die Geschichte des Mädchen-Gymnasiums seit 1933: Unter­ werfung unter nationalsozialistische Doktrin, kriegsbedingte allmähliche Auf­ lösung des schulischen Lebens, nach 1945 Wiederaufbau und schließlich die massiven Veränderungen der Bildungsreform. 1973 findet mit der Einführung der Koedukation die Geschichte des Mädchen-Gymnasiums, aber nicht die Geschichte der Mädchen an Gymnasien, ein Ende. Ilse Wegel berichtet zum Teil aus eigenem Miterleben: Sie ist Schülerin, Lehrerin und zuletzt Leiterin des Fichte-Gymnasiums in Karlsruhe gewesen. Die Entwicklung des Mädchen­ bildungswesens bis 1933 - ein gesicherter Erfolg? Waren jene ersten Abiturientinnen, die kurz vor der Jahrhundertwende ihre Reifeprüfung bestanden hatten und sich dem Studium zuwenden wollten, eine rare Seltenheit, so wuchs die Zahl der Studentinnen an unseren Univer­ sitäten im Lauf der folgenden zwei Jahrzehnte immerhin auf 7 000, stieg bis 1927 auf fast 10 000, und schließ­ lich waren am Ende der Weimarer Republik 20 % aller Studierenden weiblichen Geschlechts. Überwun­ den schienen die Zeiten, in denen häufig vertretene Meinung war, 13 Jahre die Schule zu besuchen und dann das Abitur abzulegen, sei für ein Mädchen eigentlich unnötig, über­ flüssig, wenn nicht sogar abträglich. Durften die Freunde und Befürworter des Mädchen-Gymnasiums da nicht die berechtigte Hoffnung hegen, daß es akzeptiert, sein Wirken anerkannt und geachtet war? Weithin getilgt war auch das nicht nur von Männern gepflegte Vorurteil: Hüb­ sche Mädchen bleiben daheim, nur die häßlichen gehen an die Universität. Sie „studieren" aus Verlegenheit, weil sie sonst nichts mit sich anzufangen wis­ sen, oder in der Hoffnung, einen Mann zu angeln, ernsthaft allenfalls, wenn sie einem Beruf entgegenstreben müs­ sen, zum Beispiel dem der Lehrerin, in dem sie später freilich weniger als ihre männlichen Kollegen leisten und rasch altern. Abiturientinnen sahen sich auf dem Weg zur Universität und in ihrem Stu­ dium solch belastender negativer Vor­ eingenommenheit inzwischen kaum mehr ausgesetzt. Dennoch hat die Entwicklung in den 30er Jahren nicht dazu geführt, Stel­ lung und Ansehen der Mädchen- Gymnasien zu bewahren oder gar zu stärken, noch den Zugang ihrer Absol­ ventinnen zu den Hochschulen weiter zu steigern. Im Gegenteil: Nur wenige Jahre reichten uns, um zu beschnei­ den, teilweise sogar ganz zu tilgen, was langwierig und mühevoll im Mäd­ chenbildungswesen zuvor erreicht worden war, und auch das Frauenstu­ dium, zumindest zeitweise, bedrük- kend zu begrenzen. Angebahnt hatte sich dieser Umbruch schon vor 1933 als offenbar un­ vermeidliche Auswirkung der kata­ strophalen wirtschaftlichen Lage der späten Weimarer Republik, gewollt und zunächst nahezu kompromißlos durchgeführt wurde er im wesentli­ chen im ersten Jahrfünft nationalso­ zialistischer Herrschaft. Die NS-Ziele der Mädchenbildung: „Hüterin des Heims" und „Hüterin der Art" Wie lassen sich die Veränderungen zum Negativen erklären? Welche Ursa­ chen, welche Antriebe bewirkten es, daß zum Beispiel ab 1933 die Zahl der Lehrerinnen an Höheren Schulen gesenkt wurde, 1934 der Anteil der Mädchen 10 % aller Abiturienten und Abiturientinnen, denen die Hochschul­ reife zuerkannt wurde, nicht über­ schreiten durfte, ab 1935 der gymna­ siale Zweig am Karlsruher Mädchen- Gymnasium abgebaut wurde? Nach welchen Zielvorstellungen Kin­ der und Jugendliche erzogen werden sollen, welches Welt- und Menschen­ bild ihnen die Schule orientierend auf­ zeigt, wie sie die jungen Menschen darauf vorbereitet, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und auszufül­ len, ist geschichtlichem Wandel unter­ worfen. Da Schule kaum je nur in sich ruht, in einem von der Außenwelt völlig abge­ schirmten Raum, sondern in die kon­ krete gesellschaftliche Umwelt einge­ bunden ist, spiegelt sie auch deren Verfaßtheit und Entwicklung wider, wird berührt, unter Umständen sogar entscheidend bestimmt von jenen Kräften, die in Gesellschaft und Staat 25 Aufmarsch junger Mädchen während einer Festlichkeit im Kindergarten Meisenweg 7, Rheinstrandsiedlung besonderes Gewicht, die Ansehen und Einfluß besitzen oder gar beherr­ schend zu wirken vermögen. Mit Hitlers Machtergreifung drängten zunehmend Forderungen und Vor­ schriften, Sichtweisen und Wertun­ gen in die Institution Schule und das Erziehungswesen ein, die an den überkommenen Strukturen rüttelten und dem humanistischen Bildungs­ ideal kraß widersprachen. Gelten sollte fortan der Vorrang der Politik vor der Pädagogik, die national­ sozialistische Weltanschauung Funda­ ment des Unterrichts sein. Jungen Menschen die Normen und Maßstä­ be der offiziell verkündeten Ideologie einzupflanzen, sie für ihren künftigen Dienst in Staat und Partei, ihren Ein­ satz für Führer und Volk zu formen, war nun Aufgabe auch der Schule, die, ein Erziehungsfaktor unter ande­ ren, deutlich geringer gewertet wurde als die nationalsozialistischen Jugend­ organisationen HJ und BDM. Propagiertes Ziel war, „die Jugend zu bilden von der Nation als Ganzem aus". „Nicht Humanität, sondern voll­ endete Nationalität", so umriß der be­ kannte NS-ldeologe E. Anrieh das Grundgesetz aller Erziehung: statt Menschenbildung also die Erziehung zum deutschen Menschen. „Nicht auf das Einpumpen bloßen Wis­ sens", verlangte Hitler, müsse die in­ tensive Einwirkung auf Jungen und Mädchen ausgerichtet werden, son­ dern vorrangig „auf das Heranzüch­ ten kerngesunder Körper. Erst in zwei­ ter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters ... und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung."1 Besondere Bedeutung maß er der Rassenlehre bei: „Kein Knabe und kein Mädchen soll die Schule verlas­ sen, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein."2 Eine gemeinsame Erziehung von Bu­ ben und Mädchen wurde allerdings nicht intendiert, betonten doch Hitler und die führenden Vertreter der NS- Pädagogik übereinstimmend die na­ turgegebene Verschiedenheit der Ge­ schlechter, hoben die seelischen Kräfte der Frau hervor, ihre Dispositi­ on zum Bewahren und Schützen, zu Opfer und Dienst, zur Hingabe an die Familie, den Mann und die Kinder. Kein „Abklatsch der Erziehung der männlichen Jugend" sollte die Mäd­ chenbildung sein, sich vielmehr nach eigenen Gesetzen vollziehen. Ihr Ziel, bestimmte Hitler, hatte „unverrückbar die kommende Mutter zu sein", die „Hüterin des Heims" und vor allem die „Hüterin der Art". Umfang und Grenzen schulischer Gleichschaltung Gewiß haben die Schulen während des Dritten Reiches nicht uneinge­ schränkt diese Leitvorstellungen auf­ genommen und verwirklicht, aber im Prozeß der „Gleichschaltung", der dem Umsturz von 1933 in allen Berei­ chen folgte, wurde auch das Erzie­ hungswesen auf die Parteilinie, auf die NS-ldeologie hin ausgerichtet. Schon im Jahresbericht 1933/34 der Fichte-Schule war zu lesen: „Die Schularbeit des ganzen Jahres stand in allen Fächern und bei allen Lehrkräf­ ten unter dem Gesichtspunkt des Hin­ einführens der Mädchen in das biologi­ sche und kulturelle Gedankengut des Nationalsozialismus. Wenn auch die Jugend an sich aufgeschlossen ist für die großen Strömungen der Ge­ genwart, so ist es doch nötig, die psychologischen und historischen Grundlagen der nationalsozialisti­ schen Revolution in vertieftem Sinne durchzugehen und zum dauernden Besitz der Jugend zu machen." Zu die­ sem Zweck empfahl der Direktor die Reden des Reichsministers Dr. Goeb- 26 bels als „ganz hervorragendes Material für die Klassenlektüre der oberen Klas­ sen". Positiv beurteilte er das neue Ge­ setz „gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen", bewirke es doch die „gewünschte Leerung der oberen Klassen"; allerdings fügte er an, viele ältere Schülerinnen zeigten sich „seelisch etwas bedrückt" durch die „Aussichtslosigkeit der Verwirklichung ihrer inneren Berufswünsche".3 In ganz Baden wurden 1934 nämlich nur 574 Abiturienten und Abiturientin­ nen zum Studium zugelassen, der weibliche Anteil durfte 10% nicht übersteigen. Daher erhielten beispiels­ weise von den 35 Oberprimanerinnen der Lessing-Schule, obwohl sie alle das Abitur bestanden hatten, nur vier die Hochschulreife und damit das Recht zu studieren. Die Durchführung des Gesetzes zeitigte zwar den ange­ strebten Erfolg, führte aber zu solch offenkundigen Härten und Unzuträg­ lichkeiten, daß noch im Laufe der Jah­ re 1934/35 die Höchstzahlbegrenzung gemildert beziehungsweise aufgeho­ ben wurde. Bezeichnend allerdings die mannigfachen Einschränkungen, unter denen die Hochschulreife nach­ träglich erteilt werden konnte, so nur an politisch Zuverlässige, keinesfalls an „Nichtarier" und bloß auf Antrag hin, obwohl der entsprechende Erlaß „für den inneren Dienstgebrauch" be­ stimmt und ausdrücklich nicht zu veröffentlichen war. Immerhin hatten ein Jahr nach ihrem Abitur insgesamt 13 ehemalige Lessing-Schülerinnen das Hochschulreifezeugnis erworben, doch erst ab 1940 konnten die Abi­ turienten und Abiturientinnen des Jahrgangs 1934, „sofern sie die son­ stigen Zulassungsbedingungen" er­ füllten, auch ohne diesen speziellen Nachweis ein Studium aufnehmen.4 Inzwischen hatten sich im deutschen Bildungswesen erhebliche Umbrüche vollzogen. Ungleich gravierender als der Rückgang der Schülerzahlen (Lessing-Schule zum Beispiel 1933/ 34: 649 Schülerinnen; 1934/35: 5875; 1937/38: 511) waren tiefgreifen­ de strukturelle Veränderungen, die na­ hezu alle tradierte Vielfalt zugunsten reichseinheitlicher Nivellierung aus­ löschten: Oberschulen für Jungen und Oberschulen für Mädchen waren entstanden, und diese vor allem einem herben Niveau- und Anspruchsverlust ausgesetzt, als ob besonders für sie Hitlers Wort „Ich will keine intellektuel­ le Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend" gegolten hätte. Knapp und kommentarlos teilt bereits der Jahresbericht 1935/36 der Les­ sing-Schule mit: „Laut Erlaß... vom 18.4.1935 wurde der gymnasiale Zweig... abgebaut, beginnend an Ostern 1935, nur die begonnenen Gymnasialklassen werden zu Ende geführt."6 Der Jahresbericht 1937/38 informiert - und wiederum streift den Text nicht einmal der Anflug eines Bedauerns - über die an Ostern 1938 entlassenen letzten Gymnasialabiturientinnen und läßt seine Leser außerdem wissen: „Infolge der vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung seit Ostern 1937 begon­ nenen Vereinheitlichung des Höheren Schulwesens' ist auch unser Real­ gymnasium im Abbau begriffen .... Gleichzeitig vollzog sich seit Ostern 1937 die Umstellung unserer Schule auf die neue Form der Mädchenober­ schule.'" Die letzte Aussage traf ebenso für die bisherige Fichte-Oberrealschule zu. An beiden Karlsruher Höheren Lehr­ anstalten für Mädchen begann der Fremdsprachenunterricht nun mit Englisch, wurde Latein von seinem starken zweiten Platz (am Gymna­ sium und Realgymnasium) allenfalls auf die schwache Position freiwilliger Teilnahme verdrängt, das Griechische (Gymnasium) vollkommen ausge­ schlossen, während Französisch, bis­ her grundständig, erst in U III, genau­ er: in Klasse 4 einsetzen sollte. Einschneidender als die Umbenen- nung der Klassenbezeichnungen Sex­ ta bis Oberprima (VI - Ol) in Klasse 1-8 war die sie begründende Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr. Allein zugelassene Differenzierung an Das „Heranzüchten kerngesunder Körper ist vorrangig". Wehrkampftage 1942 im Karlsruher Hochschulstadion Mädchenoberschulen war künftig die Gabelung der Oberstufe in einen sprachlichen und einen hauswirt­ schaftlichen Zug, den neue, der Hö­ heren Schule bislang ganz fremde Fächer wie Kochen, Haus- und Gar­ tenarbeit, Gesundheitslehre und -pfle­ ge, Beschäftigungslehre und jeweils in vierwöchiger zusammenhängender Arbeit zu leistende Dienste in Säug­ lingsheim, Kindergarten und Familie charakterisierten, und in dem als ein­ zige Pflichtfremdsprache Englisch mit zwei Wochenstunden gelehrt wurde. Von direktorialer Seite gelobt, wurde der hauswirtschaftliche Zweig der „Fürsorge der vorgesetzten Behörde" empfohlen, verdiene er doch „als die der Frauenart natürliche und gemäße höhere Schule besondere Pflege"8. Wer die sprachliche Abteilung der Oberschule für Mädchen besuchen wollte, mußte sich ab 1939 einer ein­ tägigen „Aufnahmeprüfung für die wis­ senschaftliche Oberstufe" unterzie­ hen, in der es galt, hausfrauliche Arbeiten wie Kochen, Waschen und Putzen zu leisten - ein ziemlich harm­ loses „Examen", an dem vermutlich nie eine Kandidatin gescheitert ist. 27 Das Ziel der Mädchenbildung hatte „un­ verrückbar die kommende Mutter zu sein." Die Sexta der Fichte-Schule 1934. Dieselben Mädchen in der folgenden Bilderreihe... ... nunmehr zur Quinta aufgerückt. Beim Schulausflug 1935 Die Stundentafel dieser sprachlichen Form näher zu betrachten, ist recht aufschlußreich, schon die Rangord­ nung der Fächer ist bezeichnend: An erster Stelle stand die „Leibeser­ ziehung" (Unter- und Mittelstufe: fünf Wochenstunden, Oberstufe: vier), es folgte die „Deutschkunde", wozu Deutsch (in Klasse 5 und 6: fünf Wo­ chenstunden, sonst: vier), Geschichte (in Klasse 5 beginnend und ab Klasse 7 mit je drei Wochenstunden ausge­ stattet), Erdkunde, Kunsterziehung, Handarbeit und Musik zählten. Natur­ wissenschaften und Mathematik, auf die ab Klasse 6 nur je zwei Wochen­ stunden entfallen sollten (mitunter wurden allerdings mehr erteilt), nah­ men wie die Fremdsprachen eine ge­ ringere Bedeutungsposition ein, und ganz am Ende rangierte die Religions­ lehre, die in der Oberstufe später völlig gestrichen wurde. Weil sie ebenso wie ihre Lehrer und Lehrerinnen es als Härte empfanden, „wie sehr die Mädel gegenüber den Jungen in der fremdsprachlichen Aus­ bildung benachteiligt" wurden, wie sie „mit ihrer so stark zurückgeschraubten Bildung" gegenüber den männlichen Studierenden auf der Universität ins Hintertreffen geraten mußten, wand­ ten sich in getrennten, aber inhaltlich übereinstimmenden Schreiben be­ reits im Herbst 1938 die Direktoren von Fichte- und Lessing-Schule an ihre vorgesetzte Behörde mit der Bitte, „das badische Unterrichtsmini­ sterium möge beim Herrn Reichserzie­ hungsminister zu erreichen suchen, daß auch die Mädchenoberschule ab 3. Klasse eine zweite Fremdsprache als Pflichtfach - und zwar Latein wie die Knaben - erhalte".9 Tatsächlich bestand auch später ledig­ lich die Möglichkeit, von dieser Klasse an sich für Latein als Wahlfach zu ent­ scheiden. Lassen die Stundentafeln bereits be­ stimmte Intentionen der Bildungspla­ ner erkennen, mehr noch verraten die Lehrpläne, erhellt der Blick in die ein­ geführten Schulbücher. Selbst wo man es kaum erwartet hätte, aus dem Lehrplan für Latein und Grie­ chisch, der für das Mädchen-Gymna­ sium ja noch eine Reihe von Jahren verbindlich war, spricht unverhüllt der Wille zur Indoktrination. In den alten Sprachen sind „sämtliche Werke... im Blick auf die Ziele des Nationalso­ zialismus neu zu betrachten. Erfüllen kann diese Aufgabe nur der Lehrer, der nicht nur Kenner, sondern begei- 28 sterter Künder der Grundsätze des na­ tionalsozialistischen Staates und sei­ ner Weltanschauung ist und in des­ sen Bewußtsein die Lehre des neuen Staates von Blut und Boden stets wach ist".10 Verwandte Töne schlagen jeweils gleich eingangs die 1941 erschiene­ nen Oberstufenbände „Führer und Völker" an: „Der entscheidende Maß­ stab für die Bewertung der führenden deutschen Männer und der richtung­ gebenden Ideen ... des deutschen Geschichtsablaufes wird sich immer aus der Leistung für die Erhaltung von Blut und Boden, für die Siche­ rung der artgemäßen sittlichen Güter ergeben." Wer sich historischem Den­ ken verpflichtet fühlte, den mußten nicht nur einzelne fachliche Irrtümer dieser Bände ärgern, sondern eine zum Teil geradezu groteske Fehlak­ zentuierung irritieren (die Französi­ sche Revolution und „Jahn, der Volks­ mann" werden zum Beispiel auf je zwei Seiten behandelt!). Der Lehrplan für Deutsch schreibt vor: „Der Deutschunterricht aller Stufen dient der Erziehung zu deutscher Art und deutschem Wesen. Darin wird er in sämtlichen übrigen Fächern, auch in den Fremdsprachen, unterstützt." „Hirt's Deutsches Lesebuch"1' für Mädchen, offenbar reichsweit zwin­ gend eingeführt, wird zwar wegen sei­ ner zu „niederdeutsche(n) Färbung" - der Bezug zum süddeutschen Le­ bensraum und seinen Schriftstellern fehlt weithin - kritisiert, positiv indes wird vermerkt, daß es „sehr viel schö­ nen Stoff" biete.12 Um ein Bild von der NS-Einfärbung dieses Lesewerks zu erhalten, genügt beinahe, die Kapitelüberschriften ins Auge zu fassen, so aus Band 8 zum Beispiel „Von Volk und Führung", „Vom Suchen deutscher Seele", „Von Ehre, Freiheit, Selbstbehauptung", aus Band 7 etwa „Von Staat, Nation und Reich", „Männer - Kämpfer", „Frau­ en - Hüterinnen". Dieser letzte Ab­ schnitt erstickt fast an der ge­ schlechtsspezifisch ausgerichteten Bündelung seiner Texte, nicht anders das Kapitel über „Mann, Weib und Kind" in Band 8 - für die Abiturklas­ sen -, in dem sich Beiträge von zu­ meist recht zweit- oder drittrangigen Autoren über die Familie und vor al­ lem über die Bestimmung der Frau häufen („Meine Mutter", „An meine Mutter", „Der Mutter Antlitz", „Mutters Hände", „Weißköpfchen nimmt Ab­ schied"). ... und sie wuchsen heran zu jungen Da­ men. Untertertia 1938 ...in den Ernst des Lebens entlassen. Als Abiturientinnen in der Unterprima 1941 29 Günstige Möglichkeiten, die Schü­ lerinnen auf ihre künftige Aufgabe als deutsche Frauen, ihre völkische Ver­ antwortung vorzubereiten, gewährte selbstverständlich die Unterweisung in Biologie, aber offensichtlich auch der Chemieunterricht; das seit 1940 benutzte Chemiebuch13 widmete sich in seinem für die Mädchenoberklassen konzipierten zweiten Teil nachdrück­ lich diesem Anliegen (Kapitelüber­ schriften zum Beispiel: „Die Brennstof­ fe in ihrer Verwendung im Haushalt", „Einige für die Hauswirtschaft wichti­ ge organische Naturstoffe", „Die Che­ mie im Dienst der Volksgesundheit", „Gasschutz im Luftschutz und tägli­ chen Leben"). Der beklemmende Eindruck, daß nicht nur die „Gesinnungsfächer" den Inten­ tionen des NS-Erziehungssystems unterworfen wurden, sondern sämtli­ cher Lehrstoff auf seine ideologische und politische Verwendbarkeit hin überprüft und arrangiert wurde (Be­ dauern über den eng begrenzten Ein­ satz der Mathematik), festigt sich mit zunehmender Kenntnis von Lehrplä­ nen und -büchern, Vorschriften und Hinweisen. Lehrer = Nazi, eine unzutreffende Gleichung Wie tief die heranwachsende Jugend durch den Unterricht tatsächlich vom Geist des Nationalsozialismus beein­ flußt wurde, läßt sich wohl kaum ex­ akt ermessen, zumal keineswegs alle Lehrer und Lehrerinnen die NS—Bil­ dungskonzeptionen bejahten, über­ zeugte Nationalsozialisten oder auch nur Mitläufer waren. Es gab unter ih­ nen christlich geprägte, liberal den­ kende Menschen, die ihren Schülerin­ nen tradierte Werte vermittelten und die Einstellung in ihnen zu begründen suchten: Auch für Mädchen ist wich­ tig, Wissen und Einsichten zu gewin­ nen, sich zur Persönlichkeit zu bilden, einen qualifizierten Beruf zu erlernen. Schon bald nach der Machtergreifung wurden freilich sämtliche „politisch und rassisch nicht geeigneten" Päd- Professor Dr. Hermann Franz, Direktor der Lessing-Schule, 1934 amtsenthoben agogen und Pädagoginnen relegiert. Direktor Karl Broßmer von der Fichte- Schule, dessen Frau Jüdin war, wurde während der Osterferien 1934 mitge­ teilt: „Der Herr Reichsstatthalter hat unterm 23. März 1934... beschlos­ sen, Sie aufgrund des §55 des Geset­ zes zur Wiederherstellung des Berufs­ beamtentums vom 7. April 1933 mit Wirkung vom 16. April 1934 an als Professor an das Gymnasium Karlsru­ he zu versetzen. Hiervon werden Sie in Kenntnis gesetzt mit dem Anfügen, daß Sie den Dienst am 16.4.1934 an­ zutreten haben."14 Auch Dr. Hermann Franz, der Direktor der Lessing-Schule, der sich dem po­ litischen Katholizismus verpflichtet wußte, wurde mit Beginn des Schul­ jahres 1934/35 seines Amtes entho­ ben, blieb aber als Professor weiter­ hin an seiner alten Wirkungsstätte.15 Alle Lehrer und Lehrerinnen wurden 1934 auf Hitler vereidigt und vorab die jüngeren, zumindest bis Kriegsbeginn, häufig zur Teilnahme an politischen Schulungskursen beurlaubt und auf Reichschulungslager geschickt. Im Blick auf Versetzungen an die hie­ sigen Schulen geschah sogar, daß der Schulträger Erkundigungen über die politische Zuverlässigkeit des betref­ fenden Lehrers bei der zuständigen auswärtigen Kreisleitung der NSDAP einzog. Kam von dort eine Nachricht wie: „Gegen X bestehen in persönli­ cher sowie politischer Hinsicht keine Bedenken. X ist seit... Mitglied der NSDAP und trägt die Mitgliedsnum­ mer...", dann stand der geplanten Versetzung nichts mehr im Wege.16 Wer als Pädagoge dem Regime mit Vorbehalten oder gar ablehnend be­ gegnete, riskierte viel, sah sich bis zu einem gewissen Grad der Kontrolle auch der Jugendlichen und ihrer El­ tern ausgesetzt. Die meisten Be­ schwerden waren unmittelbar an das Badische Kultusministerium adres­ siert, selbst wenn es sich um recht unerhebliche Vorgänge handelte. So richtete zum Beispiel der Bund Deut­ scher Mädel, Gau Mittelbaden, seine Angriffe gegen zwei Professoren der Fichte-Schule, weil sie Schülerinnen, die zugleich BDM-Führerinnen wa­ ren, schlechte Noten gegeben hat­ ten. Beide Pädagogen mußten und konnten sich rechtfertigen, hinsicht­ lich der Notengebung unter anderem mit folgender Klarstellung: „Welche Note ich einer Schülerin gebe, habe ich erstens vor meinem Gewissen, zweitens vor meinem Direktor und schließlich vor meinem Ministerium, aber niemals vor einer BDM-Führerin zu vertreten."17 In einem anderen Beschwerdefall - es ging um eine Geringfügigkeit - drohte ein Vater der Direktion der Lessing- Schule: „Wir leben weder mehr unter Wilhelms Zeiten noch in der schwarz­ rot-goldenen Gummiknüppelperiode, sondern im Reiche eines Adolf Hitler. Und ich darf erwarten, daß diese Nachricht im Jahre 1941 endlich auch zu den Ohren des letzten Deut­ schen gedrungen ist... wäre ich ge­ zwungen, ohne vorherige Vorwar­ nung den Vorfall dem zuständigen Ministerium in Baden oder des Rei­ ches vorzutragen mit der Bitte um energische Gegenmaßnahmen. Heil 30 Hitler! Pg...". Erfreulicherweise ver­ mochte dieser Vater keinen Schaden zu stiften, antwortete ihm doch der Kultusminister: „Ihr Schreiben ... gibt mir Veranlassung, darauf hinzuwei­ sen, daß die mir unterstellten Schullei­ tungen und Lehrkräfte keiner Beleh­ rung darüber bedürfen, daß wir im 3. Reich leben. Insbesondere war für Sie keine Veranlassung zu einer Drohung gegeben."18 Beispiele für erfolgreich geführte Be­ schwerden finden sich in den Akten nicht. Jüdische Schülerinnen Wie sich der Einfluß der Lehrerpersön­ lichkeiten und ihres Unterrichts auf die Schülerinnen nicht genau fassen läßt, so bleibt letztlich auch nicht präzise zu bestimmen, welchen Beitrag zu ihrer Indoktrination die spezifische Ausprä­ gung des schulischen Lebens in der NS-Zeit geleistet hat: durch Zeichen und Symbole (Hitlergruß, Flaggenhis- sung), durch eine Überfülle von Veran­ staltungen und Aktionen („Werbung für Beteiligung an der Reichstagswahi durch Sprechchöre der Schülerinnen" 1933, „Beteiligung an der Spalierbil­ dung anläßlich der Feier der Regie­ rungsübernahme in Baden", „Nage- lung des Hitlerjugendschildes" und anderes mehr), von politischen Ge­ denktagen und Feiern (Schlageterfei- er, Hindenburgtag, Reichsgründungs­ feier, Gedenkfeier für den 30. Januar 1933 ...). Exakt, soweit sich die Vorgänge in Zahlen wiedergeben lassen - und nur unter diesem Betracht -, informieren dagegen die Statistiken und Jahres­ berichte über die zunehmende Zu­ rückdrängung und schließlich völlige Entfernung der jüdischen Schülerin­ nen. Ihr Anteil lag Anfang der 30er Jahre an den beiden Höheren Mäd­ chenschulen bei durchschnittlich etwa 5 %, war allerdings in den einzel­ nen Klassen recht unterschiedlich hoch. Bereits im Herbst 1933 wandte sich eine „deutsche Frau und Mutter" an das „hohe Ministerium", weil in der Klasse ihrer Tochter, einer Quarta der Fichte-Schule, „immer noch von 35 Schülerinnen 10 Jüdinnen" waren und bei einem Klassenausflug die „schönen nationalsozialistischen Lie­ der" in deren Beisein nicht gesungen werden sollten. Sie schlug vor, die zehn jüdischen Kinder „auf alle drei Quarten gleichmäßig zu verteilen", und bat bei einer eventuellen Untersu­ chung um Geheimhaltung ihres Na­ mens.19 - Die Reaktion auf dieses schlimme Ansinnen ist nicht mehr greifbar. Israelitischer Religionsunterricht wurde letztmals 1934/35 erteilt, als beispiels­ weise von 587 Lessing-Schülerinnen noch 28 jüdischen Glaubens waren;20 ihre Zahl sank auf zehn und damit auf etwas weniger als 2 % im Schuljahr 1937/38, in dem in der Statistik zum ersten Mal „Gottgläubige" (ein schil­ lernder Begriff: einerseits Desinter­ esse an der Religion bis hin zur völli­ gen Glaubenslosigkeit, andererseits Glaube an die „Vorsehung" im NS- Sinn, an den „völkischen Gott") auf­ tauchten. Nurdie Bemerkung: „Als Fol­ ge des feigen Mordanschlags auf Ge­ sandtschaftsrat vom Rath wurde die Säuberung der Anstalt von Juden durchgeführt."21 - kein weiteres Wort zu dem letzten leidvollen Schulkapitel junger jüdischer Menschen, Ausfluß der inhumanen und verbrecherischen NS-Rassenpolitik, enthält der Jahres­ bericht 1938/39. Schule im Zweiten Weltkrieg Die folgenden Jahresberichte beider Karlsruher Oberschulen für Mädchen sind inhaltlich recht dünn und bre­ chen 1940/41 (Fichte-Schule), 1941/ 42 (Lessing-Schule) ganz ab. In der Lessing-Schule setzen sie 1946 wie­ der ein, werden später zunehmend schmaler und gleichförmiger und ver­ siegen 1959/60 ganz. Die Fichte- Schule nimmt erst 1956 die Tradition der Jahresberichte wieder auf. In bei­ den Fällen ist die Lektüre dieser Schrif­ ten nicht allzu ergiebig. Unvermeidlich war, daß Gang und Er­ eignisse des Zweiten Weltkrieges auch das Schulleben erschwerten. Ei­ nige ausnahmsweise positive Verän­ derungen wie die ab 1941 ohne Zu­ satzprüfung gewährte Zulassung der Abiturientinnen des hauswirtschaftli­ chen Zweiges zum Studium und die verbesserten Berufschancen von Leh­ rerinnen sind nicht einer ideologischen Neuorientierung, sondern ausschließ­ lich kriegsbedingten Notwendigkeiten zu verdanken. In der Grenzstadt Karlsruhe begann das Herbsttertial 1939 nach überlan­ gen Ferien nicht vor Mitte Oktober; die ursprüngliche Klassenzahl war erst zwei Monate später wieder er­ reicht, nicht jedoch die Vorkriegsnor­ malität zurückerlangt. Denn inzwi­ schen war das Gebäude der Lessing-Schule zur Hälfte von ver­ schiedenen Organisationen belegt, ebenso mehrere Zimmer der Fichte- Schule; Luftschutzräume waren noch nicht in der erforderlichen Zahl einge­ richtet, Vor- und Nachmittagsunter­ richt, sogenannter Schichtunterricht, also unumgänglich. Im Januar/Febru­ ar 1940 wurden zudem vierwöchige „Kohleferien" angeordnet: Unterrichts­ ausfall war daher unvermeidbar und die Liste über den „nicht durchgenom­ menen Lehrstoff" lang. Ab April 1940 schien zwar das schuli­ sche Leben und Arbeiten sich Frie­ densverhältnissen wieder anzunä­ hern, doch dauerte die günstigere Situation nur kurz. Die folgenden Jah­ re führten zu wachsenden Belastun­ gen und Einschränkungen: Wieder­ holt mußten „Kohleferien" anberaumt werden, Lehrermangel zwang bald dazu, die Stundenzahl in mehreren Fä­ chern und in verschiedenen Klassen zu kürzen, und vor allem Fliegerangrif­ fe bei Nacht, später auch am Tage, blieben nicht ohne physische, unter Umständen auch psychische Auswir­ kungen, besonders auf die jüngeren Mädchen, und verschlechterten zu­ dem die Schulraumsituation gravie­ rend. Nachdem in einer Bomben­ nacht im September 1942 der vierte Stock der Lessing-Schule völlig aus- 31 Das Rückgebäude der Fichte-Schule nach dem 4. Dezember 1944 gebrannt war, mußte, da zwei weitere Etagen vom Sicherheitsdienst genutzt wurden, der Unterricht ganz in das Gebäude der Fichte-Schule verlegt werden, wo jeder der beiden Lehran­ stalten drei Vor- und drei Nachmittage zur Verfügung standen und durch­ schnittlich 20 bis 22 Wochenstunden pro Klasse erteilt werden konnten. (Zum Vergleich: laut Stundentafel von 1938: 32 bis 36 Wochenstunden). Solch verminderter Unterrichtsumfang bedeutete in der sich verschärfenden Not der Kriegszeit selbstverständlich nicht Zuwachs an Freizeit für die Schü­ lerinnen. Seit 1941 hatten die älteren unter ihnen beispielsweise jeweils über mehrere Wochen hin in der Land­ wirtschaft mitzuhelfen beziehungswei­ se Fabrikdienst zu leisten, die Mäd­ chen der Mittelstufe wurden ab 1942 an einzelnen Nachmittagen zur Arbeit vor allem in Gartenbaubetrieben her­ angezogen. Am härtesten freilich griff in das Leben der Oberstufenschülerin­ nen ein, daß sie, - nachdem im Sep­ tember 1944 jeglicher Unterricht in Karlsruhe aufgehört hatte und an ein Abitur 1945 ohnehin nicht mehr zu denken war - ihren spezifischen Bei­ trag zum „totalen Krieg" erbringen und ab Spätjahr 1944 in der Gegend von Mörsch Panzergräben ausheben mußten. Die unmittelbare Nachkriegszeit: Jugendlicher Wissens- und Bildungs­ hunger in materiell dürftiger Zeit Als die NS-Herrschaft ihr Ende gefun­ den, war Karlsruhe wie die meisten deutschen Städte von schweren Kriegszerstörungen gezeichnet, ein Großteil seiner Bauten vernichtet, zu­ mindest beschädigt, und die beiden Höheren Mädchenschulen bildeten hierin keine Ausnahme, war im De­ zember 1944 doch auch das Rückge­ bäude der Fichte-Schule noch ein Op­ fer der Flammen geworden. Kurz vor Weihnachten 1945 begann der Unterricht für die Oberprimanerin­ nen wieder, die übrigen Jahrgänge folgten nach und nach, die Sextane­ rinnen zuletzt, im Juni 1946. Wie aber stand es um diese Kinder und Jugendlichen, um ihre Lehrer und Lehrerinnen und um ihre Schu­ len, die 1946/47 von wesentlich mehr beziehungsweise fast genau so viel Mädchen besucht wurden wie 1939/ 40 (Fichte: 753, 1939/40: 525; Les­ sing: 538, 1939/40: 536)? Entsprechend der allgemeinen mate­ riellen Not in der Nachkriegszeit wa­ ren die äußeren Bedingungen schuli­ schen Arbeitens höchst unzulänglich und beengend. Sie belasteten es trotz allmählicher Besserung über lan­ ge Jahre hin, so daß sogar noch im kalten Februar 1956 überall in Karlsru­ he der Unterricht - die Stunden der Abiturklassen ausgenommen - we- 32 Wiederaufbau der Fichte-Schule. Das Hofgebäude 1950 gen Kohlemangels ausfallen mußte. Die Lessing-Schule, deren Gebäude ab April 1945 vom französischen Mili­ tär, dann von der chirurgischen Abtei­ lung des Städtischen Krankenhauses belegt war, mußte bis Ende Mai 1946 bei der Fichte-Schule zu Gast sein. Hier wie dort reichte auch lange nach diesem Zeitpunkt die Zahl der verfüg­ baren Klassenzimmer und Fachräume nicht aus - und in welch desolatem Zustand befanden sie sich zumeist!-, mangelte es an dringend notwendiger Einrichtung und Ausstattung, fehlten die erforderlichen Lehrbücher. Um die äußeren Voraussetzungen ei­ nes geordneten Unterrichts wieder zu schaffen, bedurfte es harter Arbeit, mitunter half aber auch die Kunst des Improvisierens etwas weiter. Beein­ druckend, wie alle am Schulleben Be­ teiligten sich einsetzten und was sie in gemeinsamer Anstrengung zu leisten vermochten. Als beispielsweise Ende 1951 das wieder errichtete Rückge- bäude der Fichte-Schule eingeweiht wurde, galt der ausdrückliche Dank der Direktorin nicht zuletzt den Eltern und ihrem tatkräftigen Engagement. daß sich ein Vater gedrängt [ge­ fühlt hatte], Bretter für Bücherschäfte zu stiften", war im Zeitungsbericht über diese Feier zu lesen.22 Entscheidend mitbestimmt waren die ersten Jahre nach Kriegsende durch eine unvergleichliche Offenheit und Bereitschaft von Lehrern und Schü­ lern zum Miteinander auch in der un­ terrichtlichen und pädagogischen Pra­ xis. Schlecht ernährt und dürftig gekleidet, aber hungernd nach geisti­ ger Orientierung, nach sinnhafter Zu­ kunft suchend, war diese Jugend wie kaum eine vor oder nach ihr aufgebro­ chen, arbeitswillig, geradezu lernbe­ gierig. Schul- und erziehungspolitische Ent­ scheidungen im restaurativen Sinn: „Bleibende Werte" Was konnten dieser Jugend die Hö­ heren Schulen bieten? Nach welchen Vorstellungen sollten sie umgebaut werden, in welchem Geist wollten die Verantwortlichen sie reformieren? An­ fangs von der Besatzungsmacht stark abhängig, war das Bildungswesen in der US-Zone zunächst amerikani­ scher Kontrolle und Beeinflussung ausgesetzt. So mußten in der ersten Zeit etwa Schulbücher und Lesestof­ fe von der Militärregierung genehmigt werden; bezüglich der Vorkriegsaus­ gabe des englischen Lehrbuches von Lincke hieß es 1946 unter anderem: 33 „Gedicht... darf nicht behandelt wer­ den ... Lektion... ganz wegzulas­ sen ... Lektion über Königin Viktoria vorsichtig zu behandeln, nicht direkt verboten",23 - zwei Vertreter der Mili­ tärregierung waren 1948 beim münd­ lichen Abitur der Fichte-Schule sogar zugegen. Besonderes Augenmerk der Amerika­ ner galt der Umerziehung der Deut­ schen zu Demokratiebewußtsein und Frieden, geeigneter Weg zu diesem Ziel schien ihnen kaum das tradierte dreigliedrige Schulsystem (Volks-, Mit­ tel- und Höhere Schule) zu sein, eher dachten sie in Richtung Gesamt- oder Einheitsschule. Dagegen allerdings er­ hob sich erbitterter Widerstand von deutscher Seite, die führenden Kräfte in Politik und Gesellschaft verteidigten erfolgreich ihre Konzeption: kein um­ wälzend Neues, sondern Rückzug auf die letzte gesicherte Position, das heißt Wiederherstellung der Zustände von vor 1933. Restaurativ also, nicht anders als Poli­ tik und Wirtschaft, war die Schule in den ersten beiden Nachkriegsjahr­ zehnten ausgerichtet, lief in den Glei­ sen wiederbelebter Tradition. Der Un­ terricht sollte in der Weise modifiziert werden, daß es möglich würde, „zu einer Synthese der durch Antike, Chri­ stentum und Naturwissenschaften ge­ gebenen Bildungswerte [zu] gelan­ gen".24 Der Rückgriff auf die Situation vor 1933 führte die neunjährige Höhere Schule (mit den alten Klassenbezeich­ nungen VI - Ol) wieder herauf und tilgte außer der nationalsozialistischen auch die geschlechtsspezifische Ein- färbung der gymnasialen Lehrinhalte und -bücher. 1946/47 nur mit den Kernfächern (in allen Klassen je vier Stunden Deutsch und Mathematik, dazu die Fremdspra­ chen Englisch, Latein und Französisch) einsetzend, konnte der Unterricht im folgenden Jahr erweitert werden, ohne jedoch den vorgeschriebenen Umfang schon zu erreichen. Die beiden Höheren Mädchenschulen in Karlsruhe waren nun Realgym­ nasien, und zwar führte die Lessing- Schule die Sprachenfolge Englisch, Latein, Französisch, einem Eltern­ wunsch entsprechend außerdem ab 1949/50 Englisch und Französisch. Im Herbst 1950 änderte sich das An­ gebot abermals, das fortan sich in den B-Zug mit Latein, Englisch, Franzö­ sisch, den C-Zug mit Englisch, La­ tein, Französisch und den D-Zug mit Englisch und Französisch aufspaltete, wobei B- und C-Zug sich in etwa an den Lehrzielen des früheren Realgym­ nasiums orientierten, während der D- Zug, der stärker mathematisch-natur­ wissenschaftlichen Charakter hatte, der alten Oberrealschule nahe kam.25 Als 1956 eine Straffung der Züge not­ wendig wurde, entschied sich das Lessing-Gymnasium - seit 1954 tru­ gen alle höheren Schulen des Landes die Bezeichnung „Gymnasium" -, den bisherigen D-Zug auslaufen zu lassen und sich auf die Züge B (N I) und C (N II) zu beschränken, um „der Tra­ dition der Schule entsprechend nur noch ein neusprachliches Gymna­ sium (zu) sein, in dem ... der Schwer­ punkt auf dem Erlernen der Fremd­ sprachen liegt."26 Der Tradition des ehemaligen humani­ stischen Mädchen-Gymnasiums wäre zweifellos die Einrichtung des A-Zu- ges (Latein, Englisch, Griechisch) ge­ mäßer gewesen, allein diese alt­ sprachliche Variante wurde ihm nicht zugebilligt. Auch das Fichte-Gymnasium hatte die drei Züge B, C und D eingeführt, verzichtete aber nach wenigen Jah­ ren wieder auf das C-Modell. Nach­ drückliches Anliegen war der Schule, die klassischen Sprachen, das grund­ ständige Latein und das fakultative Griechisch zu pflegen. Diese Arbeits­ gemeinschaft, seit 1949 eingerichtet, gern und verhältnismäßig zahlreich besucht, bot den Teilnehmerinnen die Chance, nach vierjähriger erfolgreicher Mitarbeit eine Abschlußprüfung, das Graecum, abzulegen. Vor allem je­ doch wollte der freiwillige Griechisch­ unterricht „in einer Zeit, die geneigt ist, auch die höhere Schule ... nach dem Maßstab der Nützlichkeit und un­ mittelbaren Anwendbarbeit des ver­ mittelten Wissensstoffes zu bewer­ ten", seinen „bescheidenen Teil dazu beitragen, etwas wachzuhalten und weiterzugeben von dem kostbaren Vermächtnis, das uns das Griechen­ tum hinterlassen hat. Und das ist... der geistig freie und zugleich sittlich gebundene Mensch."27 Über alle Fachgrenzen hinaus herrschte in jenen Jahren weithin Übereinstimmung der Pädagogen, was gymnasiale Bildung meine: nicht allein Erwerb von Wissen und Ach­ tung vor den überlieferten Kulturgü­ tern, auch Aneignung als gültig aner­ kannter Wertmaßstäbe, um sich mit der Tradition auseinanderzusetzen, - noch grundsätzlicher ausgedrückt: „Formung des Menschen ... zu dem, was er - nicht sein muß, ... sondern zu dem, was er sein soll, das heißt, was ihm als Freiheitsinhalt aufgege­ ben ist."(R. Guardini) Immer wieder findet sich auf entspre­ chende Zielvorstellungen verwiesen, wer etwa die Themen der Oberstufen­ aufsätze oder der Abiturientenreden befragt, beispielsweise 1957: „Blei­ bende Werte", 1960: „Mensch, wer­ de wesentlich", 1964: „Über die Tu­ genden". (Im Vergleich dazu Themen der Reifeprüfungsaufsätze der NS- Zeit, zum Beispiel 1939: „In welchem Sinn gehört die Frau zur Wehrgemein­ schaft des deutschen Volkes?", 1941: „Persönliche Freiheit muß zurücktre­ ten vor der Entfaltung des Volkes" und „Dein Leben gehört deinem gan­ zen Volk".) Schülerauslese und Sorge „für eine hohe Leistung der Lehrer" Die allermeisten Lehrer und Lehrerin­ nen hatten damals genügend Mut, so­ wohl Orientierungshilfen und Leitbilder ihren Schülern und Schülerinnen auf­ zuzeigen, als auch Leistungen von ih­ nen zu verlangen. Schon ein Blick zum Beispiel auf die Reifeprüfung im Som­ mer 1948 verrät, wie hoch die Be­ anspruchung der Abiturienten und 34 Professor Wilhelm Baumann, 1933 amts­ enthoben, 1945 bis 1949 Direktor des Fichte-Gymnasiums Abiturientinnen war, wurden sie doch an Realgymnasien alle in Deutsch, Englisch, Latein, Französisch, Ge­ schichte, Mathematik, Physik und Chemie geprüft, in Deutsch allerdings im allgemeinen nur schriftlich, in Ge­ schichte ausschließlich mündlich. Trotz geringfügiger Erleichterungen im Folgejahr blieben die Belastungen wei­ terhin so beachtlich, daß Karlsruher El­ tern bald nicht nur über die Anzahl der Fächer und den „vielen Stoff innerhalb der einzelnen Fächer", sondern auch darüber klagten, daß die Schüler und Schülerinnen „bei der Reifeprüfung und damit beim Übertritt in Beruf oder Studium abgearbeitet und nervös" sei­ en, eine Feststellung, deren Richtigkeit sich die Direktoren „nicht verschließen" konnten. Die Anforderungen wurden daraufhin nicht wesentlich gesenkt, da das Ni­ veau erhalten bleiben sollte und, an­ ders als später, der Elitegedanke noch nicht verpönt war. Aufschluß­ reich in diesem Zusammenhang ist die Entschließung der Kultusminister­ konferenz vom Oktober 1950: bei der Aufnahme in die höhere Schule und im Laufe der Schulzeit ist durch geeig­ nete Maßnahmen für eine Auslese der Schüler, insbesondere beim Übergang in die Oberstufe, und für eine hohe Lei­ stung der Lehrer zu sorgen." Nicht alle vor 1945 tätigen Pädagogen konnten nach der Wiedereröffnung der Schulen weiterhin aktiv sein, da im Zusammenhang der sogenannten Entnazifizierung manche von ihnen suspendiert, wenige ganz entlassen wurden; daher mußten nicht selten Hilfslehrer und Pensionäre den Unter­ richt übernehmen. Nach einigen Jah­ ren schien die Lehrersituation durch die allmähliche Rückkehr der vorüber­ gehend Ausgeschiedenen und die Einstellung junger Assessoren und Assessorinnen in etwa wieder norma­ lisiert und zugleich erfreulich gestaltet zu sein, übten doch die allermeisten Pädagogen und Pädagoginnen mit großer Hingabe ihren Beruf aus. „Damenkollegium" - Eine Frau als Schulleiterin? Wer sich in den 50er und 60er Jahren noch an die Lehrerkollegien der Fichte- bzw. Lessing-Schule der Vor­ kriegszeit erinnerte, begegnete nun zu seinem Erstaunen einer stark verän­ derten Situation. Fanden sich in den 30er Jahren an beiden höheren Mäd­ chenlehranstalten unter den Professo­ ren, den planmäßigen vollakademi­ schen Lehrkräften also, nur etwa 10% Frauen (die außerplanmäßigen Lehrkräfte waren freilich vorwiegend weiblich), so unterrichteten mit vollem Deputat beispielsweise 1955/56 am Fichte-Gymnasium 26 Lehrerinnen, aber nur sechs Lehrer, von denen die Jüngeren es nahezu als „Schock" empfunden hatten, an eine reine Mäd­ chenschule mit einem vorwiegenden Damenkollegium versetzt zu werden, und im Vorbereitungsdienst standen ausschließlich Studienreferendarin­ nen. (Im Lessing-Gymnasium lagen die Verhältnisse ganz ähnlich.) Johanna Schlechter, erste Studiendirekto­ rs in Baden, Leiterin des Fichte-Gymnasi­ ums von 1949 bis 1960 Seit den 60er Jahren wirkten und wir­ ken zunehmend auch verheiratete Frauen, selbst werdende Mütter im aktiven Schuldienst, - eine damals fast sensationelle Neuerung. Die Leitung eines öffentlichen Gymna­ siums gar einer Frau anzuvertrauen, in der NS-Zeit so gut wie ausgeschlos­ sen, konnte, als sie 1949 mit der Beru­ fung von Johanna Schlechter zur er­ sten Oberstudiendirektorin in Baden sich ereignete, zwar als deutlicher Schritt auf dem Wege wachsender weiblicher Gleichberechtigung und Chancenteilhabe verstanden werden, löste indes nicht bloß Zustimmung und Genugtuung aus, sondern rief be­ sonders bei einigen männlichen Kolle­ gen, gerade auch der betroffenen Schule, des Fichte-Gymnasiums, grundsätzliche Bedenken hervor, ob eine Frau überhaupt einer solchen Füh­ rungsaufgabe gewachsen sein könne. Weder emanzipiert, die Ansichten mo­ derner Feministinnen vorwegneh­ mend, noch auf ihr Durchsetzungs- 35 vermögen und ihre Willensenergie po­ chend, faßte diese von ihrer christli­ chen Grundhaltung geprägte Direkto­ rin ihren Erzieherberuf und ihre Leitungsfunktion letztlich in einem ho­ hen Sinne als „Dienst" auf. Die Zweifel an ihrer Führungsfähigkeit verstumm­ ten bald, und die nachfolgenden Direktorinnen des Fichte- wie auch des Lessing-Gymnasiums, wo mit Dr. Lina Kirchenbauer erstmals ab 1955 eine Frau die Schule leitete, sahen sich kaum mehr geschlechtsspezi­ fisch bedingten Widerständen ausge­ setzt. „Typische" Mädchen-Schullaufbahn Während sich also in den Lehrerkolle­ gien ziemlich viel bewegte, überlebten zur gleichen Zeit auf seiten der Schü­ lerinnen, ihrer Eltern und in weiten Teilen der Gesellschaft einige, freilich folgenschwere Einstellungen und Praktiken, galt etwa noch lange die Obersekundareife für Mädchen als anerkannter Schulabschluß, so daß recht viele - und keineswegs bloß schwach Begabte - nach der 10. Klasse, der Untersekunda, die Schule verließen. Wie oft suchten finanziell beengte Fa­ milien zum Beispiel zwar dem Sohn, den Söhnen einen neunjährigen Be­ such des Gymnasiums zu ermögli­ chen, waren es aber zufrieden oder werteten es unter Umständen sogar als Selbstverständlichkeit, wenn Töch­ ter, die vermutlich ohnehin später hei­ raten, der Familie sich widmen würden und also keine Reifeprüfung, kein Stu­ dium brauchten, die schulische Aus­ bildung vorzeitig beendeten. Die hohe Abbruchquote erhellt sich bei­ spielsweise aus folgendem Zahlenver­ gleich: Fichte-Schülerinnen 1955/56: 684, davon 85 Sextanerinnen - und neun Jahre später 24 Abiturientinnen (= 28 %). Trotz Riesenklassen - keine Proteste Noch in manch anderer Hinsicht, etwa im Blick auf heute schier unvorstellba- Oberstudiendirektorin Dr. Lina Kirchenbauer, Leiterin des Lessing-Gym­ nasiums von 1955 bis 1966 re Klassengrößen, erweist sich die Lektüre der Statistik als aufschluß­ reich. Betrugen die 1954 festgesetz­ ten offiziellen Richtwerte für die Klas­ senfrequenzen 45 (Unterstufe), 40 (Mittelstufe), 30 (Oberstufe) und muß­ ten zusätzlich „geringfügige Über­ schreitungen" hingenommen werden, so stiegen die tatsächlichen Zahlen jener Jahre bis auf 50 Kinder in einzel­ nen Unterklassen an - eine außeror­ dentliche Erschwerung des Unter­ richts für Lehrer und Lehrerinnen wie für Schülerinnen, wobei vor allem am Lessing-Gymnasium mit seinen nicht allzu großen Schulräumen, die zeitwei­ se bis zu 31 % überbelegt waren, die drangvolle Enge geradezu physisch beklemmend sich auswirkte. Sehr allmählich nur gingen die Klas­ senstärken zurück, schnellten dann aber in der zweiten Hälfte der 60er Jahre wieder alarmierend in die Höhe. Besonders hart betroffen war nun das Fichte-Gymnasium, dessen Schülerzahlen sprunghaft anwuchsen (1964/65: 638, 1966/67: 870, 1968/ 69: 1017), ohne daß das Lehrerkolle­ gium sich in entsprechendem Ausmaß vergrößert, die Raumverfügung sich genügend ausgeweitet hätte. Obwohl die Stadtverwaltung 1966 zwei Lehr­ säle in der Sophienstraße 39/41 an­ mietete und ab 1969 zusätzlich sechs Klassenzimmer in der benachbarten Gartenschule zur Verfügung stellte, behinderte Raumnot weiterhin den ge­ regelten Unterrichtsbetrieb und er­ reichten die Klassenfrequenzen der Oberstufe Werte bisher nicht gekann­ ten Umfangs (zum Beispiel 1966/67: 38 Obersekundanerinnen in einer Klasse). Es sollte noch Jahre dauern, bis die nachhaltigen Anstrengungen der Di­ rektionen, zusätzliche Lehrkräfte an ihre Schulen zu ziehen - in beiden Kol­ legien stellte sich annähernd ein zah­ lenmäßiges Gleichgewicht zwischen ihren männlichen und weiblichen Mit­ gliedern schließlich her -, aber auch die allmähliche Senkung der Richtwer­ te eine spürbare Entspannung bewirk­ ten. In der Rückschau verwundert fast, wie verständnisvoll die damaligen Gymna­ siastinnen auf die mannigfachen Un­ zuträglichkeiten und Belastungen rea­ gierten, wie sie nicht ungehalten oder rebellisch gar aufbegehrten, sondern hinnahmen, was kurzfristig keinesfalls zu ändern war. „Die vornehmste Auf­ gabe der Schülermitverwaltung ist... darin zu sehen, daß die Schülerinnen einander fördern und erziehen zum rechten Verhalten und zu freudiger Mitarbeit am Leben der Schule."28 In diesem Sinne, vom Wunsch nach Harmonie geleitet, übernahm die Schülermitverwaltung (SMV) kleinere Pflichten, betreute die Unterstufe, ja sie veranstaltete am Fichte-Gymna­ sium 1953/54 gar eine „Woche der Ordnung und Höflichkeit", dankte ih­ rer „verehrten Frau Direktorin für ihr Entgegenkommen, ihr Verständnis und die Geduld, mit welcher sie... die Bitten (der SMV) anhörte und so­ gar weitgehend erfüllte"29 und sprach der Schulleiterin „innigen Dank für alle ihre aufopfernde Arbeit" aus.30 36 ... und 1961. Ein sichtlicher Wechsel in Habitus und Altersdurchschnitt 37 Im Banne der 68er Bewegung: „Demokratisierung" und „Konflikt" So „brav" getönte Äußerungen der SMV waren ein Jahrzehnt später nicht mehr zu vernehmen, schienen einer überwundenen Zeit anzugehö­ ren, denn inzwischen waren im Gefol­ ge der 68er Bewegung Unruhe und Wille zum Widerstand und Umbruch bis in die Gymnasien vorgedrungen. „Mehr Demokratie" hieß nun die Ziel­ vorstellung auch auf Schülerseite, Zu­ wachs an Verantwortung, Einfluß und Mitspracherecht - konkret: die SMV erachtete es fortan nicht mehr als ihre Aufgabe, sich zum Beispiel um die Pausenaufsicht oder die Verwal­ tung der Fundsachen zu kümmern. Vielmehr sollten Vertreter und Vertre­ terinnen der Schülerschaft an Lehrer­ und Notenkonferenzen teilnehmen, die Auswahl des Lehrstoffes mitbe­ stimmen, die Jugendlichen bei Eltern­ abenden anwesend sein können und anderes mehr. Diese Wünsche, oder besser, Forderungen, wurden nicht immer sachgerecht begründet vorge­ tragen, sondern öfters auch in über­ bordendem Diskussionseifer, im Stile leidenschaftlicher, selbst zügelloser Angriffe auf die bisherigen Ordnun­ gen und Praktiken vorgebracht. Züge kritischer Auseinandersetzung und Abrechnung mit tradierten Orien­ tierungen schlugen sich, begrenzt zwar, dennoch faßbar, zum Beispiel in den 1969 und 1970 erschienenen Jahresberichten des Fichte-Gymnasi­ ums nieder, in denen thematisiert wur­ de: die Krise der Autorität, die Rebel­ lion der Frauen, die durch den Wandel der Gesellschaft erzwungene Verän­ derung der Schule, die Politisierung der SMV und der Schülerstreik. Wie hätte das Gymnasium unbeein­ flußt bleiben sollen von den Auswir­ kungen der antiautoritären Bewe­ gung und der Studentenrevolte, die unsere gesamtgesellschaftliche Reali­ tät so tief und nachhaltig veränder­ ten, wie Gemeinsamkeit und Ein­ klang aller am Schulleben Beteiligten weiterhin kultivieren, indes „Konflikt" zum Bestimmungswort jener Jahre wurde und alle überlieferten, „ver­ krusteten" Strukturen aufgebrochen werden sollten, und schließlich: wie hätte die Losung von der „Demokra­ tisierung", auf sämtliche Institutionen und Einrichtungen angewandt, ja, auf alle Lebensbereiche ausgedehnt, nicht von der Schule ergriffen wer­ den sollen? Schon 1970 wiesen die neue „Vorläu­ fige Konferenzordnung" sowie Bestim­ mungen über den „Gemeinsamen Ausschuß" und die „Schülermitver­ antwortung" in diese Richtung. Fort­ an waren Vertreter der Eltern und der Schüler berechtigt, an Gesamtlehrer-, nicht jedoch an Zeugnis- und Verset­ zungskonferenzen, teilzunehmen; sie gehörten ebenfalls dem Gemeinsa­ men Ausschuß an, der „Angelegen­ heiten, die für die Schule von beson­ derer Bedeutung sind", beraten und vor allem Meinungsverschiedenheiten beilegen sollte.31 Genau läßt sich nicht umreißen, in wel­ chem Maß Unmut über Bestehendes und Drang nach Neuem die Schülerin­ nen erfüllte, da zumeist nur wenige Einzelne oder kleine Gruppen sich ar­ tikulierten, Flugblätter und Handzettel verteilten, Plakate und Wandzeitungen klebten. Am Fichte-Gymnasium entwickelten sich anfangs der 70er Jahre bei­ spielsweise neben der offiziellen SMV, beziehungsweise gegen sie, eine „Schülerselbstorganisation", ein „Schulkollektiv", eine „Basisgruppe F i c h t e " d i e alle recht radikalen Zuschnitts waren. Sie engagierten sich nachdrücklich zum einen für die „Interessenvertretung der Schü­ ler durch Organisierung von direkt­ demokratischen Aktionen zur Durch­ setzung (ihrer) legitimen Rechte in­ nerhalb der Schule a) in Form von Unterschriftenaktionen b) in Form von Selbsthilfeaktionen" - und zum anderen für „politische Information" und „kämpften" für „freie politische Betätigung an der Schule für alle Schüler" mit dem „Ziel, politische Entmündigung durch Bewußtwer- dung zu ersetzen", den „bürgerlich­ demokratischen Staat" und sein Bil­ dungswesen an ihren Mängeln und Schwächen aufzuspießen.32 Abbau von Bildungsdefiziten: Die „vernachlässigten Mädchen" Dabei war die Bildungspolitik bereits seit Mitte der 60er Jahre in Fluß gera­ ten, hatte vor allem G. Pichts Warnruf „Die deutsche Bildungskatastrophe" (1964) nicht nur publizistische Wellen geschlagen, sondern tätigen Reform­ eifer ausgelöst. Eine deutliche Zu­ nahme von Abiturienten, Lehrern und von Übertritten in weiterführende Schulen, Ausgabensteigerungen für Schulen und Universitäten, Abbau von geschlechtsspezifischer, sozialer und regionaler Benachteiligung - ge­ meint waren damit insbesondere die „vernachlässigten Mädchen", das Bil- dungssdefizit der Katholiken, der Kin­ der aus Arbeiterfamilien und aus stadt­ fernen ländlichen Bereichen -, so lauteten die Forderungen, die mit dem Schlagwort von der „Chancen­ gleichheit" verschmolzen. Ob sich dieses vorrangige Ziel im Rah­ men des dreigliedrigen Schulsystems verwirklichen ließ oder ob es dazu der Absage an das Gymnasium und der Organisationsform der integrier­ ten Gesamtschule bedurfte, blieb eine kontrovers diskutierte, die inter­ essierte Öffentlichkeit beunruhigende Grundsatzfrage, die auch der „Bil­ dungsgesamtplan der Bund-Länder- Kommission (15.6.1973) nicht eindeu­ tig beantworten konnte, da fünf Län­ der, darunter Baden-Württemberg, im Widerspruch zu den übrigen daran festhielten, „daß in einem differenzier­ ten Schulwesen die Förderung unter­ schiedlicher Begabungen besser gesi­ chert werden" könne als in einer Gesamtschule. So blieb das Gymnasium hierzulande zwar erhalten, aber blieb es sich selber gleich? Während noch 1963 nur 16% aller Viertkläßler in die Höhere Schule über­ wechselten, waren es vor allem unter 38 Die 68er-Bewegung ist spürbar geworden: Eine neue Lässigkeit hat Einzug in die Klassenzimmer gefunden 39 dem Einfluß einer mitunter fast un­ überlegt praktizierten Bildungswer­ bung zehn Jahre später schon 25 %, wobei auch der Anteil der bisher Un­ terrepräsentierten gestiegen war, wuchsen die Schülerzahlen in einem früher nicht erlebten Ausmaß. Auf andere, keineswegs geringere Weise als die zunehmende Größe (zum Beispiel am Fichte-Gymnasium innerhalb von vier Jahren um rund 400 Schülerinnen) belastete die Gymnasien, und hier besonders den Veranwortungsentscheid des einzel­ nen Lehrers, daß ihnen zugemutet oder aufgenötigt wurde, sozusagen als „Verteilerstellen von Sozialchan­ cen" zu fungieren. Wissenschaftsorientierte Schule und „kritische Rationalität" Zur gleichen Zeit suchte die Höhere Schule sich wissenschaftsorientiert auszurichten, die relative Ausge­ wogenheit zwischen Erziehung und Unterricht war gefährdet, wenn sie nicht bisweilen sogar verloren ging. War es die weit verbreitete Neigung zur Überschätzung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, die eine Überakzentuierung der kognitiven Kräfte begünstigte, war es ein über­ steigertes Pluralismusverständnis, das zur Scheu vor eigenen Festlegun­ gen führte, um die Positionen anderer nicht zu verletzen - nicht selten ver­ kümmerte der Mut, den Schülern geistige Orientierungshilfen zu geben, ihnen Vorbilder und Leitfiguren aufzu­ zeigen. Mit der Tendenz, zugunsten intellek­ tueller Leistung auf Werterziehung zu verzichten, mußten die in der Folge der 68er Bewegung lautstark verkün­ deten Bildungsentwürfe, die in den 70er Jahren in die Gymnasien einzo­ gen, keineswegs im Widerstreit lie­ gen. Dieser emanzipatorischen Päd­ agogik ging es, wo sie radikal vertreten wurde, nicht um den zu Er­ ziehenden, den jungen Menschen um seiner selbst willen, vielmehr diente ihr Schule als Hebel, wurde eingespannt im Kampf für eine andere, vermeintlich bessere Gesellschaft. Die Jugendlichen sollte „kritische Ra­ tionalität" befähigen, der vorhandenen Gesellschaft abzusagen. Rücksichts­ los in Frage gestellt und herabsetzen­ der Kritik unterworfen wurden die vorgegebenen Ordnungen und Struk­ turen, das „Establishment", ganz ent­ schieden auch die überlieferten Tradi­ tionen, Verhaltensmuster und Werte. Wer die in jenen Jahren erschienenen Lehrbücher für den Deutsch-, selbst für den Religionsunterricht durch­ forscht, kann Spuren emanzipatori- scher Pädagogik und konfliktbezoge­ nen Denkens entdecken. Da heißt es zum Beispiel: „Die kritische Ver­ nunft, ... die sich dem Bestehenden widersetzt und dem Machtspruch nicht unterwirft, ... sie hat in diesem Lesebuch das Wort"33, oder es wer­ den, höchst absichtsvoll den Ver­ gleich herausfordernd, Auszüge aus der „Allgemeinen Schulordnung für Höhere Lehranstalten Badens 1904" und aus der „Erklärung der Ständigen Konferenz der Kultusminister... vom 25.5.1973" unmittelbar einander gegenübergestellt: dort die „Ge­ wöhnung der Schüler an Ordnung, Aufmerksamkeit, Fleiß, Gehorsam, Anstand und Sitte,... [die] Pflege des jugendlichen Gefühlslebens, des Sin­ nes für das Wahre, Schöne und Gute, der Liebe zu den Menschen, der Ehrfurcht vor Gott und dem Heili­ gen" als „höhere Aufgabe der Schul­ zucht", ferner unter anderem auch das Verbot der „Beteiligung von Schü­ lern an der Herstellung, Herausgabe und Verbreitung von Druckerzeugnis­ sen jeder Art ohne besondere Geneh­ migung des Unterrichtsministeriums" - hier dagegen zum Beispiel die Beto­ nung der freien Meinungsäußerung des Schülers, „auch dort wo sie unbegründet scheint".34 Unter dem Titel „Man muß sich nur wehren" kann man in einem Religions­ buch für Zehnjährige lesen: „Der Chef brüllt den Kruse an, der Kruse brüllt den Vati an, der Vati brüllt die Mutti an, die Mutti brüllt mit uns, denn wir hauen ab von Mutti, denn Mutti kuscht vor Vati. Wer sich duckt, der fühlt sich mies und ist dafür nachher zum Nächsten fies. Man muß sich nur wehren."35 Die Schule nicht kraß übersteigerten Forderungen und bedenklichen Ein­ wirkungen bedingungslos auszulie­ fern, erwies sich in jenen Jahren als nicht geringe Aufgabe, die aber am Lessing- wie am Fichte-Gymnasium letztlich doch bewältigt werden konnte. Überhaupt wurden, allgemein gese­ hen, die extremen Orientierungen überwunden, fand im pädagogischen Bereich eine Rückbesinnung auf über­ lieferte Erziehungsziele und -maßstä- be statt, und dennoch war die frühere Befindlichkeit nicht wiederhergestellt, sondern Leben und Sichtweise der einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen von nachhaltigen Verände­ rungen betroffen, in die allmählich im­ mer spürbareren Folgen eines tiefgreif­ enden Traditionsbruches gestürzt. Koedukation als Traditionsbruch? Das Ende des Mädchen-Gymnasiums 1973 Als „Traditionsbruch", freilich nicht in diesem schwerwiegenden Sinne und letztlich auch nicht zu Recht, begrif­ fen manche „Ehemalige", vor allem des Lessing-Gymnasiums, aber nicht nur sie, die Umwandlung der beiden Karlsruher Mädchen-Gymnasien in koedukativ geführte Schulen. „Die Einführung der Gemeinschaftser­ ziehung an den vier Karlsruher Gym­ nasien (durch den Stadtratsbeschluß vom 13.3.1973 und die anschließen­ de Zustimmung des Oberschulamtes Nordbaden wurden auch Goethe- und Helmholtz-Gymnasium, bisher 40 Die letzte Bastion ... reine Mädchen-Quarta des Lessing-Gymnasiums 1974. Danach gab es nur noch gemischte Klassen reine Jungenschulen, koedukativ)... ist schon lange überfällig. Diskussio­ nen und teilweise auch lebhafte Aus­ einandersetzungen über diese Frage laufen seit geraumer Zeit hinter den Kulissen ... Während Direktion, Leh­ rerkollegium und Elternvertreter von Fichte-, Goethe- und Helmholtz-Gym- nasium die Einführung der Gemein­ schaftserziehung in ihren Schulen ab dem Schuljahr 1973/74 ... beantragt haben, gab es im Lessing-Gymna- sium auch zuletzt noch Widerstän­ de... Direktion, Lehrerkollegium und eine Minderheit der Elternschaft des Lessing-Gymnasiums [haben sich] für eine Weiterführung dieser Schule als reines Mädchengymnasium ausge­ sprochen."36 Ob eine gemeinsame oder eine ge­ trennte Schulerziehung von Buben und Mädchen vorzuziehen sei, dar­ über waren in den 50er und 60er Jah­ ren umfangreiche empirische Untersu­ chungen vorgenommen worden, ohne allerdings eindeutige Resultate zu er­ zielen. Dennoch wurde die Einfüh­ rung der Koedukation in den frühen 70er Jahren fast allgemein als Fort­ schritt gewertet, wollte ihren Verfech­ tern nicht einleuchten, warum zum Beispiel Mädchen-Gymnasien erhal­ ten bleiben sollten, obwohl jegliches gymnasiale Bildungskonzept für die weibliche Jugend fehlte, warum die notwendige Verzahnung der einzel­ nen Schulabschnitte nicht endlich er­ folgen sollte, obgleich es beispielswei­ se an keiner der Karlsruher Grund- und Hauptschulen mehr gleichge­ schlechtlich zusammengesetzte Klas­ sen gab, so daß beim Übertritt in die höheren Lehranstalten alle Kinder in die Koedukation eingeübt und an sie 41 Gemeinsam gehen wir das Wagnis an ... Lehrerkollegium 1974, im Jahr der Einfüh­ rung der Koedukation am Lessing-Gym- nasium gewohnt waren. Außerdem legte die erwartete Oberstufenreform, die dann freilich erst ab 1978 verwirklicht wur­ de, den Gedanken einer Kooperation zweier benachbarter Gymnasien nahe (im Fall des Fichte-Gymnasiums die Zusammenarbeit mit dem Goethe- Gymnasium), wobei es in pädagogi­ scher Hinsicht als schwierig und unbe­ friedigend erschien, Schüler und Schülerinnen, die während der Dauer der gymnasialen Unter- und Mittelstu­ fe in scharfer Trennung voneinander unterrichtet worden waren, in der Se­ kundarstufe II plötzlich zu einem Mit­ einander führen zu wollen. Erwägungen dieser Art sowie einige Hinweise auf schulpraktische Notwen­ digkeiten, nicht aber grundsätzliche pädagogische Überlegungen über Be­ deutung und Vorzüge der Koedukati­ on, die als bekannt und überwiegend bejaht vorausgesetzt wurden, fanden sich in einer schriftlichen Ausarbei­ tung der Direktion des Fichte-Gymna­ siums und waren dem Karlsruher Ge­ meinderat und dem Schulbeirat zugeleitet worden. Jedes Mitglied die­ ser beiden Gremien im persönlichen Gespräch von der Notwendigkeit zu überzeugen, der Gemeinschaftser­ ziehung am Fichte-Gymnasium zu­ zustimmen, darum hatten sich eine stattliche Reihe von Kollegen und Kol­ leginnen und die Schulleiterin mit Er­ folg bemüht. Aus dem Jahresbericht 1973/74 spricht die Genugtuung, daß mit der Einführung der Koeduka­ tion am Fichte-Gymnasium „ein ein­ hellig geäußerter Wunsch des Kollegi­ ums" (und übrigens auch der Schülerinnen) sich erfüllt habe und daß „erfreulicherweise, als im Herbst 42 1973 erstmals Mädchen und Buben in die neuen Sexten einrückten, das zah­ lenmäßige Verhältnis zwischen den Geschlechtern gleich von Anfang an einigermaßen ausgeglichen" war.37 Während im Fichte-Gymnasium die Koedukation begrüßt wurde, mußten am Lessing-Gymnasium erst noch Be­ denken ausgeräumt werden, wozu der Modus der Einführung wesentlich bei­ trug: im ersten Jahr nur in der Sexta beginnend, in den folgenden Jahren sich jeweils um eine zusätzliche Klas­ senstufe erweiternd - eine Verfahrens­ weise, die sich als vernünftig und zu­ träglich erweisen sollte. Überhaupt fällt auf, wie gut es den Lehrern und Lehrerinnen der betroffe­ nen Schulen glückte, die veränderte Unterrichtssituation zu meistern, und wie bald schon es am Fichte- und Les­ sing-Gymnasium für alle ganz selbst­ verständlich war, daß nun auch Jun­ gen zur Schulgemeinschaft gehörten. Danach bleibt 1973 ein einschneiden­ des Datum: 80 Jahre nach seiner Gründung hat das Mädchen-Gymna­ sium - und diesmal wohl für immer - sein Ende gefunden. Von heute aus betrachtet mag viel­ leicht erstaunen, welche optimisti­ schen Erwartungen nicht wenige Menschen, und keineswegs nur Päd­ agogen, vor 20 Jahren an die Einfüh­ rung der Gemeinschaftserziehung ge­ knüpft haben. In der koedukativen Schule und durch sie, so glaubten viele, könne endgültig die Benachteili­ gung der Mädchen im Bildungswesen überwunden, ja, eine entscheidende Strecke auf dem Weg zur vollen, zur gelebten Gleichberechtigung und Chancengleichheit des weiblichen Ge­ schlechts zurückgelegt werden. Hoffnungen, die sich erfüllten? oder zutreffender: Hoffnungen, die getro­ gen haben? Anmerkungen: 1 Hitler, Mein Kampf (zit. bei Conradt- Heckmann-Janz du heiratest ja doch!", S.135) 2 a.a.O., S. 135 3 Jahresbericht der Fichte-Schule 1933/ 34, S.1ff. 4 Erlaß des Reichsministers des Innern vom 28. Dezember 1933; nähere Aus­ führungsbestimmungen durch Erlaß des Badischen Ministeriums des Kultus und Unterrichts vom 15. Februar 1934; nach­ trägliche Lockerungsbestimmungen durch Erlaß des Reichs- und Preußi­ schen Ministers für Wissenschaft, Erzie­ hung und Volksbildung vom 19. Februar 1935 5 Die in der 1986 erschienenen Festschrift „75 Jahre Lessing-Gymnasium Karlsru­ he" für 1936 auf S. 24 und S. 43 ge­ nannte Zahl 923 ist unzutreffend und be­ ruht auf einer fehlerhaften Berechnung 6 Jahresbericht der Lessing-Schule 1935/ 36, S. 1 ' Jahresbericht der Lessing-Schule 1937/ 38, S. 1 8 Jahresbericht der Fichte-Schule 1936/ 37, S. 1 f. 9 GLA 235.32262 (2) und GLA 235.32379 (2) 10 Anlage zu Nr. B 17168 vom 24. Mai 1935 11 „Hirt's Deutsches Lesebuch" Ausgabe B, Oberschule für Mädchen ,? Jahresbericht der Fichte-Schule 1939/ 40, o. Sz. 13 Scheid-Flörke, Lehrbuch der Chemie. Ausgabe B für Mädchen 14 St.A. H.Reg., Abt. A, Nr. 116 (1) 15 Jahresbericht der Lessing-Schule 1934/ 35, S. 1 '(i St.A. H.Reg., Abt. A, Nr. 116 (1) 17 GLA 235.32248 18 GLA 235.32369 19 GLA 235.32262 (1) 20 Vgl. Anmerkung 5. Auch hier beruht die in der Festschrift „75 Jahre Lessing- Gymnasium Karlsruhe „ auf S. 24 und S.43 genannte Zahl auf einem Berech­ nungsfehler 21 Jahresbericht der Fichte-Schule 1938 / 39, S. 4 22 Badische Allgemeine Zeitung vom 15. November 1951 23 GLA 467.3673 24 G. König, Der Wandel im deutschen Schulwesen, 1949, S. 13 25 Erste Fremdsprache ab Sexta (VI, heuti­ ge Klasse 5), zweite Fremdsprache ab Quarta (IV, heutige Klasse 7), dritte Fremdsprache zunächst ab Untersekun­ da (U II, heutige Klasse 10), später ab Obertertia (O III, heutige Klasse 9) 26 Jahresbericht des Lessing-Gymnasiums 1956/57, S. 4 27 Jahresbericht des Fichte-Gymnasiums 1955/56, S 19 f. 28 Jahresbericht des Lessing-Gymnasiums 1954/55, S. 13 29 Jahresbericht des Fichte-Gymnasiums 1958/59, S. 34 30 Jahresbericht des Fichte-Gymnasiums 1960/61, S. 35 31 „Vorläufige Konferenzordnung ... für die Schulen sämtlicher Schularten" vom 25. August 1970; „Vorläufige Schulordnung über den Gemeinsamen Ausschuß" vom 25.08.1970 32 Aus Flugblättern und Handzetteln 33 „Fragen. Kritische Texte für den Deutsch­ unterricht". Oberstufe, 1969 (Vorwort) 34 „schwarz auf weiß". Gymnasium. Texte 8, S. 30 ff. 36 „Kursbuch Religion" Bd. 1, S. 90 36 Badische Neueste Nachrichten vom 14. März 1973 37 Jahresbericht des Fichte-Gymnasiums 1973/74, S. 6 43 Aus der Gründungszeit Weimarer Republik: Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Oberprima des Lessing-Gymnasiums 1920. In der Mitte der ersten Reihe Direktor Baumann, links daneben Johanna Schlechter als junge Lehrerin. Sie sollte von 1949-55 als erste Frau das Fichte- Gymnasium leiten 44 45 Rede der Abiturientin Rahel Goitein Im Jahr 1899 legten die ersten Schülerinnen in Karlsruhe das Abitur ab. Es waren vier junge Frauen, darunter Rahel Goitein. Sie hielt die hier abgedruckte Abitur­ rede, der sie ein Zitat aus Lessings Stück „Nathan der Weise" unterlegte. So verband sie implizit die Emanzipation der Juden mit der der Frauen. Rahel Goitein kam 1880 in Karlsruhe als Tochter des Rabbiners der orthodoxen Austrittsge­ meinde zur Welt. Nach dem Abitur studierte sie in Heidelberg Medizin und eröffnete nach ihrer Heirat mit dem Anwalt Elis Straus, mit dem sie fünf Kinder hatte, in München eine Arztpraxis. 1933 flüchtete die überzeugte Zionistin nach dem Tod ihres Mannes mit ihren zwei jüngsten Kindern vor den Nationalsoziali­ sten nach Palästina. Hier rief sie, überzeugt von der friedensvermittelnden Aufgabe der Frauen, 1952 die „Woman International League for Peace and Freedom" ins Leben. Rahel Straus, geborene Goitein, starb im Mai 1963. Mir ist die Ehre zu Teil geworden, bevor wir auf immer aus diesen uns so lieb gewordenen Räumen scheiden, von hier aus einige Worte des Abschieds sprechen zu dürfen. Ein bedeutungs­ voller Moment ist dies; nicht nur für meine Colleginnen und für mich, die wir die Schule verlassen, nein, ich glaube, diesen Augenblick nicht zu überschätzen, wenn ich sage, er ist auch bedeutungsvoll für diese ganze Anstalt, für viel weitere Kreise noch, bedeutungsvoll für ganz Deutsch­ land. Ist es doch das erste Mal, daß Schülerinnen eines regelrechten Gym­ nasiums in unserem Vaterland das Ab- iturium machen durften, daß Abituri­ entinnen hinauszogen aus der Schule, um zu weiterem Studium auf die Hochschule zu gehen. Ja, etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes ist es. Und im Hinblick darauf habe ich auch diesen meinen Abschiedsworten ein Wort zu Grunde gelegt, das wohl auf den ersten Blick manchem son­ derbar erscheinen mag. Ich habe das Wort gewählt, das einst Lessing sei­ nem Nathan vorausgeschickt, als er ihn in die Öffentlichkeit sandte. Sei­ nen Nathan, in dem er einen neuen herrlichen Gedanken predigte, den Gedanken der Duldsamkeit, der allge­ meinen Menschenliebe. Ja, dieser Ge­ danke war neu, nur wenige edle Men­ schen hatten ihn in sich getragen, wenige Auserlesene hatten ihn ver­ standen, die große Mehrzahl aber hatte ihn noch nie begriffen. Und Les­ sing wußte, sie hat ihn nicht nur nicht begriffen, sie wird ihn auch nicht be­ greifen wollen. Sie werden, weil sie es nicht verstehen, Gefahr darin wit­ tern und diesen hohen Gedanken schmähen. Darum schrieb Lessing an die Spitze dieses Werkes: Introite nam et hic dii sunt - tretet ein, auch hier sind Götter. Wieder ist ein großer Gedanke im Wer­ den, ein neues Leben will aufblühen. Ja, einzelne haben es längst gefühlt. Bedeutende Menschen helfen mit Ein­ setzung ihrer ganzen Persönlichkeit daran zu arbeiten - die große Mehr­ zahl aber verlacht's und belächelt's höhnisch: Der Gedanke, daß Gymna­ sien, Universitäten auch den Frauen offenstehen sollen. Drum rufe ich Euch zu: folget mir, ich will Euch füh­ ren, tretet ein, und ich will Euch zeigen, auch hier sind Götter. Ich will hier nicht über Frauenbildung, Frauenstudium, über die Frauenfrage im allgemeinen sprechen, dazu fühle ich mich weder berufen noch befähigt, auch wäre dies wohl nicht der rechte Platz dafür. Nein, ein Bekenntnis will ich hier ablegen in meinem und meiner Freundinnen Na­ men, warum wir diesen Weg gehen, warum wir unsere Befriedigung auf diesem Wege zu finden hoffen. Etwa weil wir emanzipiert sein wollen? Et­ was anderes sein wollen als unsere Mitschwestern? Nein, wir wollen nicht emanzipiert sein im schlechten Sinn, häufig gebrauchten Sinn dieses Wortes. Wir wollen nicht - das Schreckbild der Emanzipation - unse­ re Haare kurz scheren und Zigarren rauchen, wollen nicht unsere weibli­ che Natur, unser Wesen aufgeben, um den Männern nachzuahmen, in der Meinung, daß wir dadurch etwas Besseres, Höheres werden. Nein, wir bleiben in unserem Wesen unverän­ dert, wir fühlen uns nach wie vor eins mit unseren Schwestern, denn wir wollen gar nichts anderes sein als sie 46 alle. - Warum habt ihr dann diese Laufbahn betreten? so höre ich fra­ gen. Ich habe ja gesagt, ich werde ein Bekenntnis ablegen. Und das will ich auch thun. Vor allem war es die Lust am Lernen, am Wissen, das uns diesen Weg gewiesen. Wir wollten nicht nur lernen, um von vielen Din­ gen eine Ahnung zu haben, um bei allem mitreden zu können, wir wollten lernen, wie man lernt, wie man durch das Wissen selbständig wird und in­ nerlich frei; damit wir uns eigene An­ sichten, eigene Gedanken bilden könnten; damit wir befähigt werden, von dieser Grundlage des Gelernten aus, uns selbst weiter vorwärts zu bringen. Wer kann heute noch glau­ ben, daß das Streben nach Wissen Sünde, daß Bildung Verderben ist, wenn wir glaubten, dies da finden zu können, wo auch die Knaben den Grund legen zu ihrem ferneren Stu­ dienstreben, in dem Gymnasium? Ja, ich weiß es, keine von uns, die wir jetzt das Gymnasium verlassen, hat es je bereut, den Weg des Wissens betre­ ten zu haben, und wenn es uns auch oft schwer fiel und wenn die Arbeit viel wurde, ja selbst wenn wir ein oder das andere Mal über allzuviel geseufzt, im­ mer sind wir doch mit innerer Freudig­ keit ans Werk gegangen, und diese Freudigkeit hat uns für alle Mühe be­ lohnt. Der zweite und stärkere Grund aber war der Gedanke: Wir wollen ei­ nen Beruf haben, wir wollen einen Platz im Leben ausfüllen. Nicht daß wir damit behaupten wollen, andere Frauen haben keinen Beruf, haben keine genügende Stelle auszufüllen. Nein, so töricht denken wir nicht! Aber können wir wissen, wohin das Schicksal uns führt? Kann nicht eine Zeit kommen, wo das Geschick uns auf uns selbst anweist und auf einen Posten stellt und uns zuruft: steht fest! Wie sollen wir dann stehen kön­ nen, wenn wir das Stehen nie gelernt? Wir mußten fallen, zu eigner und an­ drer Last leben. Das wollen wir nicht; dagegen wollen wir gewappnet sein. Ja, es giebt noch andere Wege, das zu erreichen; es ist wahr. Aber wer Rahel Goitein als Studentin nach bestandener Abiturprüfung. Das Thema ihres Deutschaufsatzes zum Abitur hatte gelautet: „Der Einfluß veredelnder Weib­ lichkeit auf ihre Umgebung, gezeigt an Goethes Iphigenie" kann es uns verargen, wenn wir denn stehen lernen müssen, daß wir da ste­ hen wollen, wo wir es am besten für uns halten; daß wir den Posten su­ chen, wo wir glauben, etwas leisten zu können. Darum haben wir diesen Weg gewählt, darum streben wir, auf diesem Wege mutig vorwärts zu schreiten. Auch noch ein dritter Ge­ danke hat uns diesen Weg vorge­ zeichnet, wenigstens denen unter uns, die sich, wie heute die meisten studierenden Frauen, dem medizini­ schen Studium zuwenden wollen. Der Gedanke, den Armen und Kran­ ken, den Leidenden und Schmerzbe- ladenen zu helfen, ihre Schmerzen zu lindern, ihre Leiden zu beheben! Und das ist doch ein Wunsch, den jede Frau nachfühlen und verstehen muß. - Vielleicht höre ich hierauf die Erwiderung: Ja, das ist alles schön und gut, besser und schöner, als wir gedacht, aber was sollen wir einem Gedanken nähertreten, der unaus­ führbar, der unmöglich ist! Doch die­ ser Gedanke ist keine Utopie, ist kein leerer Traum nur, längst haben ihn be­ deutende Frauen schon zur herrlichen Wirklichkeit gemacht. Ich will hier nicht viele Namen nennen, die als bloße Namensaufzeichnung doch wertlos wäre. Nein, einen Na­ men will ich nennen, der allgemein be­ kannt ist, den ich allen meinen Gefähr­ ten [unleserlich], ich meine Sonja KowalewskaQa), die erste Frau, die in unserem Jahrhundert einen Lehrstuhl an einer Universität inne hatte. Sie war nämlich Professor der Mathematik zu Stockholm. Sie stammte aus einer alt­ russischen Adelsfamilie und wurde noch in jenen alten Vorurteilen erzo­ gen, daß für ein Mädchen zu viel Ge­ lehrsamkeit Gefahr bringe. Sie war auch immer ein stilles eigentümliches Kind, so daß wohl weder ihre Eltern noch sie selbst es ahnte, was aus ihr werden sollte. Da kam für Rußland jene Zeit, in der ein neuer Geist die Jugend, männliche und weibliche, er­ füllte, als Bildung das Losungswort wurde. Und auch Sonja wurde von dieser Strömung ergriffen, es war ihr plötzlich klar geworden, wohin ihr We­ sen neigte, was ihr bis jetzt gefehlt, sie so still und verschlossen gemacht hatte. Sonja Kowalewska(ja) wollte studieren [unleserlich] wie so viele ihrer jungen Gefährten und Gefährtinnen. Doch nie hätten ihre Eltern, die schroff und fremd diesen Bewegungen gegen­ überstanden, es zugelassen, daß ihr junges Töchterchen hinauszöge auf eine Hochschule. Da griff Sonja zu ei­ nem Mittel, das damals viele jungen Russen und Russinnen, voll von den neuen Idealen, ergriffen, um den Mäd­ chen die Gelegenheit zu geben, hin­ auszukommen nach Deutschland, um ihren Studien zu leben. Sie ging eine Scheinehe ein; nun konnten die Eltern nichts mehr dagegen haben, zog sie doch an der Seite ihres Man­ nes zu einem neuen Leben hinaus nach Heidelberg. Die größten Schwie­ rigkeiten waren so überwunden; doch 47 noch immer war der Weg, den sie be­ treten, dornig genug. Denn nicht leicht wurden ihr die Universitäten geöffnet, ließen die Professoren sie zu ihren Vor­ lesungen. Nur ihrer ganz außerordent­ lichen Energie gelang es, vorwärts zu dringen, und vor allem ihre großen gei­ stigen Fähigkeiten waren es, die ihr den Eingang bei den bedeutendsten Professoren verschafften, sodaß be­ sonders Weierstraß in Berlin sich für sie interessierte, daß sie bei ihm arbei­ ten durfte, bei ihm sich zum Doktor Examen vorbereitete, das sie in Göt­ tingen ablegte. Durch die Examensar­ beit und durch weitere Schriften hatte Sonja Kowalewska(ja) sich einen be­ deutenden Namen verschafft, sodaß es Stockholm wohl wagen konnte, diesen neuen Schritt zu unterneh­ men, Sonja Kowalewska(ja) als Pro­ fessor nach Stockholm zu berufen, wo sie in ihrem Amte bis zu ihrem Tode im Jahre 1891 wirkte. Nur in ganz kurzen Umrissen habe ich das Leben dieser bedeutenden Frau zeichnen können; denn auf ihr Privat­ leben, auf ihr Gefühlsleben einzuge­ hen, wie lohnend dies auch wäre, dazu reicht hier die Zeit nicht. Ich wollte hier auch in erster Linie zeigen, daß das Studium für eine Frau keine Unmöglichkeit ist, sondern daß sie auf diesem Gebiete auch Großes zu erreichen vermag. Natürlich wissen wir alle, daß keine von uns eine zweite Sonja Kowalewska(ja) wird. Aber ein bedeutendes Vorbild kann sie uns werden zum mutigen Vor­ wärtsstreben, eine Stütze wird uns der Gedanke an sie, die vor keiner Schwie­ rigkeit zurückgeschreckt, und wenn immer Stunden der Entmutigung über uns kommen, dann können wir auf sie schauen, die es so viel schwerer ge­ habt, die doch das goldne Ziel er­ reichte, und neuer Mut wird in uns ein­ ziehen, auf unserem Weg, der schon um so vieles leichter ist, weiter zu drin­ gen. Ja, viel leichter ist unser Weg; hilf­ reich hat man uns schon die Bahnen zu ebnen gesucht, man hat uns Mittel und Wege in die Hand gegeben, auf weniger steilen Pfaden emporzuklim­ men. Tief empfinden wir dies, und ge­ rade heute fühlen wir's mit doppelter Gewalt, heute wo wir von hier schei­ den, wie viel an uns gethan worden, wie ewig dankbar wir allen denen sein müssen, die mitgeholfen durch Wort und That; ihnen allen, (auch) den Gründerinnnen dieses Gymnasi­ ums, allen im Namen aller innigsten Dank. Und ganz besonders will ich noch Ihnen, meinen verehrten Leh­ rern, unseren Dank aussprechen. Sie haben uns zu diesem Ziele geführt, Ihnen haben wir es in erster Linie zu danken, daß wir heute als Abiturien­ tinnen die Schule verlassen können. Ja, wir wissen wohl, Ihr Amt war schwierig. Während all dieser Jahre hindurch, als so oft die Schule zusam­ menzustürzen drohte, Sie sind nicht gewichen. Vielleicht ist es Ihnen doch eine kleine Belohnung für Ihre Mühe, wenn ich Ihnen versichere, daß wir alle voll und ganz empfinden, was Sie für uns gethan, und daß unsere Dank­ barkeit für Sie, auch für die Professo­ ren, die leider im letzten Jahr nicht mehr bei uns wirkten, nie schwinden wird. Und nun noch ein kurzes Wort zu Euch, meine lieben Mitschülerinnen! Ich meine nicht nur meine direkten Klassengenossinnen, nein, ich meine Euch alle, die Ihr nach dem gleichen Ziele strebt, die Ihr das Gymnasium besucht. Denn ich weiß, auch für Euch ist dies ein Abschied, ein schmerzlicher Abschied sicherlich, nach dem schönen kollegialischen Verhältnis, das bis jetzt und hoffent­ lich auch späterhin in diesen Hallen herrscht. Nehmt es freundlich auf, wenn Eure abgehende Mitschülerin noch außer einem herzlichen Lebe­ wohl Euch zuruft: Strebt mutig vor­ wärts! Denkt daran, an welch großem Werke Ihr arbeitet, daß viele Tausende auf Euch schauen, von Euch die Ant­ wort auf eine schwere Frage erwarten. Ob Ihr alle das Ziel, das Ihr euch setzt [unleserlich], erreicht, ob das Schick­ sal Euch an (einen) anderen Platz im Leben stellt, darin wollen wir alle gleich sein; wir wollen uns an jeder Stelle bestreben, ein ganzer Mensch zu sein, sodaß jeder, der auf uns sieht, sagen soll: Ja, wahrlich, etwas Schlechtes kann es nicht sein, laßt auch uns dem neuen Gedanken nä­ her treten, denn siehe, auch hier sind Götter. Transkription: Rita Dahm Fundsteile: Stadtarchiv Karlsruhe 8 - STS 13-344 48 Das erste deutsche Mädchen-Gymnasium Stimmen aus der Gründungszeit Die Gründung des ersten Mädchen-Gymnasiums in Deutschland fand große Aufmerksamkeit in der Presse auch außerhalb des Großherzogtums Baden. Die von vielen als skandalös empfundenen Forderungen, die Hedwig Dohm seit 1874 erhoben hatte und die Hedwig Kettler schon seit Jahren vertrat, wurden nun erfüllt. Hier sind einige der - befürwortenden oder gegnerischen - Stimmen aus der Gründungszeit des Gymnasiums von Erhard Hottenroth zusammengestellt worden. Er ist Leiter des Lessing-Gymnasiums. Der Deutsche Frauenverein Reform, gegründet am 30. März 1888 in Wei­ mar, benannte sich im Oktober 1891 um in Verein Frauenbildungs-Reform. Das Ziel dieses Vereins war aus­ schließlich darauf ausgerichtet, „für die Erschließung der auf wissenschaft­ lichen Studien beruhenden Berufe für das weibliche Geschlecht zu wirken; und zwar vertritt der Verein die An­ sicht, daß die Frau gleich dem Manne zum Studium aller Wissenschaften Zu­ tritt haben soll". Aus diesem Grunde forderte der Verein die „Errichtung von Mädchengymnasien mit dem glei­ chen Lehrplan, wie ihn die auf die Uni­ versität vorbereitenden Knabenschu­ len haben", sowie die „Zulassung des weiblichen Geschlechts zum Studium auf Universitäten und anderen wissen­ schaftlichen Hochschulen". Durch eine gezielte Informationspolitik nahm der Verein Einfluß auf die öffentliche Meinung. Gleichzeitig wurde durch ständige Petitionen an die Parla­ mente der deutschen Staaten und durch Eingaben an die Kultusbehör­ den der Versuch unternommen, die Errichtung von Mädchenlyceen voran­ zutreiben. Die Vorsitzende des Vereins Frauenbil­ dungs-Reform, Hedwig Kettler, vertrat in Zeitschriften und Reden mit Vehe­ menz und großer Ausdauer den Ge­ danken der höheren Bildung für Mäd­ chen. „Die Frauen (haben) die Pflicht, für sich zu reden, da niemand zu ihren Gunsten die Stimme erhebt... Sie ver­ teidigen ihr erstes und wichtigstes Recht, das Recht auf die eigene Exi­ stenz."1 In einem Vortrag im Jahre 1891 bezog sie deutlich Stellung: „Diese Gleichheit in der Erziehung der beiden Ge­ schlechter ist es, die wir erstreben, zum Wohle der Frau und damit zum Wohle des Mannes."2 Zur bestehenden gesellschaftlichen Lage der Frau sagte sie: „Für die Ur­ sache dieses Zustandes erklärt man die angeborene geistige Inferiorität der Frau. Diese hält man für erwie­ sen. Die Resultate einer der Frau ge­ währten schlechteren Schulbildung vergleicht man mit den Resultaten ei­ ner dem Manne gewährten besseren Schulbildung... Da die Leistungen der schlecht unterrichteten Frauen im Vergleich zu denen der gut unterrich­ teten Männer im allgemeinen inferior sind - so folgert man daraus die ange­ borene geistige Inferiorität der Frau ... Zwei Pflanzen, von denen man die eine in die Sonne und die andere in den Schatten gestellt hat, die kann man nicht miteinander vergleichen. Denn wenn eine Pflanze, die man in die Sonne stellte, eine schönere Blüte treibt als eine andere, die im Schatten stand, hat sie dann bewiesen, daß sie eine bessere, eine kräftigere Pflanze ist als diese?"3 Die Forderung nach Gleichberechti­ gung in der Bildung als eine Forde­ rung der Gerechtigkeit vertrat als eine der ersten im Deutschen Kaiserreich die Ehrenpräsidentin des Vereins, Hedwig Dohm. Sie schrieb schon 1874 in einer Streitschrift über die „wissenschaftliche Emancipation"4 der Frau: „Untersagt man der Frau das Studium auf Grund ihrer ungenügenden Gei­ steskräfte, so müßte man auch allen mittelmäßig begabten und unbedeu­ tenden Männern ... die Universitäts­ pforten vor der Nase zuschlagen ... Was der dümmste Jüngling in seinen Schädel hineinzwängen kann (unter den gelehrten Herren finden sich be­ kanntlich auffallend häufig Exemplare ausbündiger Unwissenheit und Be­ schränktheit), davon wird auch ein weiblicher Schädel nicht bersten."5 „Die Frau soll studiren. 1, Sie soll studiren, weil jeglicher Mensch Anspruch hat auf die individu­ elle Freiheit, ein seiner Neigung ent­ sprechendes Geschäft zu treiben [...] Freiheit in der Berufswahl ist die uner­ läßliche Bedingung für individuelles Glück. 2. Sie soll studiren, weil sie, aller Wahr­ scheinlichkeit nach, eine vom Manne 49 Hedwig Kettler (1851-193 7) Durch das Wirken Hedwig Kettlers, Vorsitzende des Vereins „Frauenbildungs- Reform", wurde das erste Mädchen- Gymnasium Deutschlands 1893 in Karlsruhe gegründet verschiedene geistige Organisation besitzt, (verschieden, aber nicht von geringerer Qualität) [...] 3. Medicin aber soll die Frau studiren, einmal im Interesse der Moral, und zweitens, um dem weiblichen Ge­ schlecht die verlorene Gesundheit wiederzugewinnen. Die Frau kennt das physische Wirken ihres eigenen Diese Anzeige erschien am Samstag, dem 12. August 1893, im „Karlsruher Tagbtatf Dr. Edmund von Sallwürk (1874-1942) 1903 zum Professor der Höheren Mäd­ chenschule berufen und 1911 Direktor des Lehrerinnen-Seminars „Prinzessin-Wil- helm-Stift" Körpers besser als der Mann [...] 4. Die Frau soll studiren, um ihrer Sub- sistenz willen. Niemand hat das Recht, eine Menschenklasse in ihren Subsi- stenzmitteln zu beschränken."6 Ihr Ziel ist: „Völlige Gleichberechtigung der Geschlechter auf dem Gebiete der Wissenschaft, in Bezug auf Bildungs­ mittel und Verwertung der erworbenen Kenntnisse."7 Daß diese Forderungen im Großher­ zogtum Baden nicht völlig abgelehnt wurden und daher in Karlsruhe das erste Mädchen-Gymnasium Deutsch­ lands eröffnet wurde, ist schon an an­ derer Stelle beschrieben worden. Hier seien einige zeitgenössische Reaktio­ nen auf dieses Ereignis zitiert. In der Karlsruher Zeitung erschien am 12. August 1893 ein ausführlicher Ar­ tikel des großherzoglichen Oberschul­ rates Dr. E. von Sallwürk über das demnächst zu errichtende erste Mäd­ chen-Gymnasium in der badischen Residenz: „In den Mädchenschulen, wie sie bisher bestanden haben, hat man ja über den Fleiß und die pünkt­ liche Arbeit der Zöglinge stets weniger zu klagen gehabt, als in den höheren Knabenschulen. [...] Wir scheuen uns jetzt nicht mehr, un­ sere Mädchen tüchtig rechnen und zeichnen zu lassen; wir sprechen ger­ ne mit ihnen von den nächsten Natur­ dingen, die sie umgeben ... Und was ist das Ergebnis? Unsere Mädchen rechnen so gut wie die Knaben; unse­ re Lehrerinnen... zeigen gerade im Unterrichte für diese Fächer ein be­ sonderes Geschick. Wir haben also gewiß weiblichen Geist und weibli­ chen Verstand falsch beurteilt, irrege­ führt durch eine Mode, der jetzt jede Berechtigung fehlt. [...] Die Gründung des Mädchengymnasi­ ums [...] stellt zugleich den entschie­ densten Bruch dar mit jeder undeut­ schen und lügenhaften Erziehung, welche unsere Mädchen zu einem Lu­ xusgegenstand machte, ihnen Duft und Flitter anhängte, Herz und Geist ihnen aber leer ließ." Am gleichen Tag erschien eine Anzei­ ge des Vereins im Karlsruher Tagblatt. Am 19. August 1893 berichtete die Straßburger Post über die Eröffnung des ersten deutschen Mädchen-Gym­ nasiums. Vermischte Nachrichten Karlsruhe, 14. Für das erste deutsche Mädchengymnasium, das bekanntlich am 11. September hier eröffnet wird, sind der „Bad. Landesztg." zufolge, nach­ stehende Lehrkräfte gewonnen worden: Stadtpfarrer Längin für den Religions- BIS Erstes deutsches Märicliciigymiiasiiiiii wivb in «aitcniljc am 11. Srpl. b. 0- eröffnet; £d)ulQelb '200 2)?. \&l)xiid). Mumelbunflen ju virfjlen an bcii öerciu „Brauen« bilburiftl'Meforin" In Jjjamioüev, Don bem aurf) bev l'ebrplan, foiuif fltiMunft über jBrmjonatf erhallen, mt&MS 50 Unterricht, Dr. Eigenbrodt für Deutsch und Geschichte, Professor Dr. Müller für Lateinisch, Fräulein Bourdillon für Französisch, Professor Dr. Bauer für Ma­ thematik, Reallehrer Müller für Natur­ beschreibung. Als Schullocal dienen von der städtischen Behörde hierzu überlas- sene Räumlichkeiten in dem städtischen Schulgebäude an der Lammstraße. Zum Besuch der Anstalt werden außer den eigentlichen Schülerinnen auch Hospi­ tantinnen zugelassen, die nur am lateini­ schen oder mathematischen Unterricht teilnehmen wollen; dieselben zahlen für das Halbjahr 40 M für jedes der genann­ ten beiden Fächer und müssen bezüglich ihrer Arbeiten sich vollständig den für die übrigen Schülerinnen geltenden An­ ordnungen fügen. Anmeldungen von Hospitantinnen wie von Schülerinnen nimmt der Vorstand des Vereins „Frau- enbildungs-Reform", in Hannover ent­ gegen. Als Lehrbücher werden die am großherzoglichen Gymnasium in Karls­ ruhe gebräuchlichen auch am Mädchen­ gymnasium eingeführt, mit alleiniger Ausnahme des lateinischen Unterrichts, für den in der Uebergangsclasse des Mäd­ chengymnasiums das Lehrbuch des Pro­ fessors Dr. Haag von der Universität Bern zur Anwendung gelangt. In ihrer Eröffnungsrede am 16. Septem­ ber 1893 sagte die Vorsitzende des Ver­ eins Frauenbildungs-Reform, Hedwig Kettler: „Zwar klein ist noch die Zahl derer, die sich der neuen Schule anver­ trauen wollen, vorsichtiges Abwarten halten einstweilen noch viele fern, deren froher Zustimmung wir gewiß sind. Doch das kann nicht anders sein. Zu neu ist heute noch bei uns in Deutsch­ land, was kommende Jahrzehnte für das einzig Natürliche halten werden: die Einsicht, daß es Pflicht ist, strebenden Geisteskräften volle Entwicklung zu ge­ statten, mögen diese im Manne oder im Weibe wohnen. Allgemein wird heute noch die Behauptung aufgestellt, daß die Frau nicht im Stande sei, dieselbe Ausbildung geistiger Fähigkeiten zu er­ reichen wie der Mann." Den versammelten Gästen rief sie zu: „Sorgt für Eure Töchter so treu, so ge­ wissenhaft wie für Eure Söhne, überlaßt ihr Schicksal nicht dem blinden Zufall. Sorgt, daß sie nicht körperlich und gei­ stig Hunger leiden. Habt soviel Gerech­ tigkeit für Eure Töchter, daß Ihr den intelligentesten unter ihnen nicht ver­ wehrt, was Ihr den unintelligentesten Eurer Söhne mit offenen Händen bietet: Bildungsfreiheit!" Den Schülerinnen machte Frau Kettler eindringlich klar, welche Intentionen mit der Gründung des ersten deutschen Mädchen-Gymnasiums verfolgt wurden: „Sie meine jungen Damen, unsere Schü­ lerinnen, Sie begrüße ich im Namen un­ seres Vereins herzlichst als die ersten deutschen Gymnastinnen! Vergessen Sie nicht, daß viele Augen auf Sie gerich­ tet sind, hoffnungsfreudige, liebevolle, aber auch neidische, feindliche. Unsere Gegner hoffen und prophezeien, daß Sie bald am Wege liegen bleiben, daß Sie als junge Mädchen nicht den Ernst und den Fleiß haben werden, das Ihnen so neue Wissen aufzunehmen. Wir hoffen, Sie werden diese Hoffnung unserer Geg­ ner bald recht gründlich zu Schanden machen, Sie werden denen Recht geben, die da glauben, daß intelligente Töchter lernen können, was intelligente Söhne lernen, vorausgesetzt, daß man es Ihnen zu lernen erlaubt [...] Liebe Schülerin­ nen! treten Sie mit Eifer und Freude an Ihre Aufgabe heran. Halten Sie sich stets vor Augen, daß es nicht einzig und allein Ihre Privatangelegenheit ist, [...] sondern [...] daß Sie mit jedem gut bestandenen Examen mithelfen, den Beweis zu erbrin­ gen von der natürlichen Ebenbürtigkeit des Frauengeistes, von seiner Entwick­ lungsfähigkeit weit über die ihm heute gesteckten Grenzen hinaus, und daß Sie auf diese Weise mit teilnehmen an dem großen Kampfe, den Tausende Ihres Ge­ schlechts heute kämpfen für Frauenbil­ dung und Frauenrecht!" Die Badische Landeszeitung widmete dem Festabend in der Höheren Mädchenschule einen ausführlichen Artikel: Eröffnung des 1. deutschen Mädchen­ gymnasiums in Karlsruhe Karlsruhe, 18. September 1893 Die Feier der Eröffnung des hiesigen Mädchengymnasiunis fand heute Abend 6 Uhr in der Aula der höheren Mädchen­ schule statt und hatte sich hiezu ein zahl­ reiches Publikum der besseren Stände eingefunden. Außer den Vertretern staatlicher und städtischer Behörden und der Geistlichkeit hatte besonders der Lehrerstand beinahe aller hiesigen Anstalten und Schulen seine Vertreter geschickt und die Damenwelt bildete das stärkste Kontingent der Versamm­ lung. Ein Viertel nach 6 Uhr bestieg die Vorsitzende des Vereins Frauenbildungs­ reform, Frau J. Kettler8 aus Hannover, die Rednertribüne, begrüßte im Namen desselben die Erschienenen und heißt sie willkommen [...] Hierauf betritt Oberschulrath Dr. v. Sallwürk das Podium, spricht die Hoff­ nung aus, daß das Unternehmen in Stadt und Land Anklang fände und Ge­ deihen. Er wünscht, daß das neue Unter­ nehmen Bahn brechen und Lehrende wie Lernende den Segen der Arbeit voll an sich erfahren möchten. Hierauf ergreift der Leiter des Mädchen­ gymnasiums, Professor Dr. Haag aus Bern, das Wort. Er werde für einige Mo­ nate die Leitung übernehmen, das päd­ agogische Programm werde ein gutes sein, es solle Liebe und gegenseitige Ach­ tung walten, er bringe den Töchtern sein ganzes Herz entgegen [...] Nicht das viele, sondern das tüchtige Wissen gäbe die Reife. Vom zwangvollen Lernen wolle man so viel als thunlich fern bleiben, zu Hause sollen sich die Schülerinnen frei und fröhlich ergehen. Man werde aber Alles fern halten, was mit den modernen Sittlichkeitsbegriffen im Widerspruch stehe. Alles solle rein und edel sein, sie wollten sich in's Seelen­ leben der Töchter vertiefen, um ihre Ka- raktere kennen zu lernen, Herz und Ge­ fühl sollen bewegt werden. Die Schlußansprache hielt das Vereins­ vorstandsmitglied Fräulein Augspurg aus München. Das erste deutsche Gym­ nasium sei eröffnet worden, wie es sich gestalte, werden die Folgen zeigen, ob sie zurückblieben oder überflügelt wür­ den. Eines stehe fest, eine gute Saat sei gelegt worden. Die Gegenwart sei eine bewegte im sozialen Leben, das Streben, zu helfen und zu verbessern, habe alle Nationen und Stände ergriffen, die Nothwendigkeit und die Noth habe die 51 Frauen zur Selbsthilfe gezwungen, doch breche sich die Gerechtigkeit gegen ihr Geschlecht nur langsam Bahn [...] Die deutsche Frau brauche jetzt nicht mehr im Auslande die Bildung zu su­ chen, die ihr das Vaterland versagt. Mit dem heutigen Tage sei eine neue Aera eingebrochen, sie hätte jetzt in unserem Vaterlande sich erst ihre Heimathsrecht erworben. Die heutige Gründung sei eigentlich das Werk der unermüdlichen Frau Kettler und 800 Mitglieder des Vereines blickten heute mit Stolz auf ihr Werk in Karlsru­ he. Nachdem die Rednerin noch aufge­ fordert, das Errungene hoch zu halten, dankt Frau Kettler nochmals für die zahlreiche Theilnahme des Publikums und erklärt sodann die Feier für been­ det." Die Eröffnung des ersten Mädchen- Gymnasiums in Karlsruhe fand nicht überall allgemeine Zustimmung. Kriti­ sche wie humorvolle Anmerkungen gab es zu diesem Ereignis, das über die Grenzen Karlsruhes und Badens hinaus große Aufmerksamkeit er­ regte. In typisch „Karlsruher" Mundart wurde die Errichtung des ersten Mäd­ chen-Gymnasiums am 29. September 1893 in den Karlsruher Nachrichten kommentiert: Karlsruhe, im September 1893 Also jetz isch das Mädchengymenasium wirklich hier errichtet worre; wo hätt- mer frieher an so was denkt! Sie werre sich vielleicht noch erinnere, daß ich mich seiner Zeit auch quasi dergege ausg'schproche hab; weil die Sach awer jetz von d'r Schtadt aus so unterschtitzt worren isch, so will ich nix weiters g'gsaagt hawe in dere Beziehung; auch soll sich d'Regierung sehr wohlwollend daderzu verhalte, was iwrichens mit keine weitere Unkoschte verbunden isch, indem deß ja ein Privatenschtitut sein soll. G'wundert hat mich's awer doch e Bißle, daß mer hier un in Berlin die Errichtung durchg'setzt hat, wo sich erseht kürzlich der preußisch Kultusminister - sein Name fallt mer jetz net grad ein, weil so oft en Wechsel isch an dere Schtell - ganz entschiede geger diese Art von Anschtal- te ausg'schproche hat; doch, ich sag's ja immer, wann die Frauenzimmer sich emal was in Kopf g'setzt hawe, so dricke se's ah durich, da kann kein Ehmann un kein Kultusminischter was dergege ma­ che. Un dann hawe ja, wie mer g'lese hat, auch die Schtudente b'schlosse, alle Uneversidäte in Verruf z'erkläre, wo junge Dame zum Schtudium zug'lasse werre; doch deß sinn halt so Schtudente- bosse, wo mer net so ernscht nemme derf, denn die Herre glauwe wahrscheinlich, daß Eins nicht zum Uneversidätsschtu- dium befähicht wäre, wann sich's net auf's Kneipen un Pauke verschteht. Au­ ßerdem sollen awer auch viele beriehmte G'heimeräth un sonschtiche Professore ganz prenzipiell dergege sein, destzweg werd's noch was absetze, glauw-ich als, bis die junge Dame, wann se ihr Gyme- nasium absolvirt henn, irgendwo in Deutschland in e Hochschul neing'lasse werre. Ich nemm's ja denne Herre auch gar net in Iwel, denn ich war ja früher ah ganz entschiede dergege; ich hab mich awer belehre lasse, daß so en Anschtalt z. B. jetz grad hier for d' G'schäftsleut un for die Familie, wo Zimmer vermie- the odder so junge Dame in Pension nemme, ein großer Vordail isch. Un dann scheint mir deß neu Gymenasium iwerhaupt gar nicht so iwel z'sein, denn mein Enkel z. B. (meinere ältschte Doch- der, wo hier verheirath isch, ihr Grösch- ter nämlich), der hat ganz ernschthaft g'saagt, er gingt jetz viel liewer in deß „Mädlesgymenasium" denn da hätte se als Morjens g'wehnlich nor drei Schtund Schul, sie dähte fascht gar nix aufkriege un briechte ah net so viel un- needichs Zeigs auswendich z'lerne; un dann sollt ja, wie selwicher Tirekter g'saagt hätt, d'r ganz Unterricht in aller Freundlichkeit un Gemiethlichkeit g'halte werre; so was däht denne Buwe nadierlich besser g'falle, als wie wann's so schtreng un präzis hergeht. Wer weiß, vielleicht isch deß am End d'r Gaischt von ere neue Zeit, wo jetz in dem Mädchengymenasium zum Dorch- bruch kommt, denn ich saag's ja immer, die Frauenzimmer sinn oft viel prakti­ scher un vernünfticher in so Sache, als wie mir Mannsleit, wo sich oft nor mit iwerflissiche Formalidäde 's Lewe sauer mache. Un dann, mag die Sach jetz na- durgemäß sein odder nicht, so muußt mer doch als Reschpekt hawwe vor so junge Dame, wo auch an ihr Zukunft denke un d'r Kopf anschtrenge, un net nor Vergniege un Unterhaltung hawe wolle. Denn so Ladeinisch un Grie­ chisch z'lerne, deß isch meinerser kein Kleinichkeit, un bei wöchentlich vier bis sechs Schtund Mathemadik, da kammer's Lache halte, glauw-ich als. Destzweg isch ah net z'befürchte, daß in dere Anschtalt gleich so en Iwerfüllung eintrette duht, wie z. B. bei de Lehrerinne un Klavier­ lehrerinne odder bei dene Malerinne un sonschtiche kunschtgewerbliche Dame, wo so oft klagt werd, daß die Aussichte auf eine lohnende Exischtenz sehr g'ring wäre. S'isch ewen als ah mehr Modesach, als wie ein Bedürfniß, wann Alles auf so Berufsarte sich hindrängt; nor's Heira- the, wo eigentlich die bassendschte Ver­ sorgung wär, kommt bei unsere junge Herre immer mehr aus d'r Mode. Sie glauwen nicht, wie froh daß mir de­ stzweg sinn, daß unser Elsa wenigsch- tens so e gute Bardie g'macht hat, ob­ wohl auch Manches anderscht un nicht so itheal ausg'fallen isch, wie sich's als träumt hat. Sie sieht's jetz auch ein, d'Elsa, daß ich als Recht g'habt hab, wann ich ere so oft von Einfachheit un Schparsamkeit predicht hab, denn, e Fa­ milie mit eme Kind un mehrere Dienschtbotte, deß isch en Aufgab heut- zudag for so e junge Frau. Ergewenscht C. Biermaier, Part., Rent. u. Privat. In der Diskussion um die Gründung eines Mädchen-Gymnasiums wurde von den Gegnern die Frage nach der Belastbarkeit der Mädchen gestellt, nach ihrer Fähigkeit, sich mit den Lern­ inhalten auseinanderzusetzen und sich mit für Mädchen damals atypi­ schen Fächern zu beschäftigen. Dies ist der Hintergrund für den Artikel, der im Karlsruher Tagblatt am 5. Novem­ ber 1893 in den Mitteilungen über das Mädchen-Gymnasium erschien: „Der Vorsitzende teilt mit, daß er mit dem Herrn Bürgermeister Siegrist, Stadtrat Leichtlin und Stadtschulrat Specht dem von Professor Haag aus 52 Hit ble 4<gtfpait<nt RimpartUIt>8etli annoncen*®n>fbinon iur (ämmtlicöe Sritimflcii ober brren Raum teutfcMonbft u. b. SlueiaiibeÄ. ^ I L „«• = ii/4 gft. III HerMnSW., Breslau, Chemnitz.Cöln a. Rh.,Dresden,Frankfurt a. M.,Hamburg, Leipzig,London,Magdeburg,Mannheim,München,Nürnberg,Paris,Prag,Strassburgt. E.,Stuttgart,Wien,Zürich. •Kr. 5. terfteS SBciblott. U3 er litt, bett .5. 5-ebntar 1895. XLVIII. Oafjrgang. J*us bem ̂ läbdjengpittitaftinn in ârferuße. 1^2o •—:;:-«-:!:--«« Beßrer. SWeine Samen, Sie »erben mir ba8 Ĵeuflnift ausfallen, bafj icfi Sie nicht mit bem Sluämenbiglcrnen Bon Sftegcin ber iateinifeben ©rammatif geplagt habe (Srauo!) Sic ßrlernung btefer Sprache, bie fidj eng an ba« 3fmen befanntê ranpi'iicbe anicbliefjt, berfê t ©ie nach fünfwöchigem Unterricht bereits in bie ßage, ©orajijcfje Oben ju lejen. (ciuftimmimg.) Beginnen mir alfo mit ber Dbe, an ärifiin« Su8cu8. Sitte, Iefen ©ie! Sau ra. Integer vitae scelerisque puius non eget Mauris jaculis neqae arcu nec venenatis gravida sagittis, Fusoe pharetra. ßehrer. Schön! Jnteger, an welches franüöfifdje SBort »erben fa erinnert? ßaura. Jntegre, redjtfdjaffen. Beßrer. SRidjtig; unb vitae? ßaura. Vite, fdjnell. 2>er redjtfdjaffen Schnette. ßetirer. §alt! ©ie 3let»nlicrjfeit jttifdjen vitae unb vite ift j»ar unleugbar, aber ttaB ift fchneU, »aS »ergebt fctjnell? SKieje. S>a8 ßeben! ßeljrer. Sichtig! SBeiter! Scelerisque, »aS Reifet baS? 3cfj beinerfe, e8 befteljt auS jtoei Sßörtern. SUieje. Scelle, Siegel unb risque, ©efahr. ßeljrer. SdjSn. 2>a8 ift ganj richtig, aber £>oraj bat au baS gebadjt, »aS auch einem feften Siegel ©efatjr bringt, an ba8 SSerbr . . . . SDiieje- Verbrechen I ßeijrer. SÜfo nun purus. änna Parus befaht au8 ben 3»ei2Börteru, pur, rein unb üB, (gebrauch, ßehrer. Süchtig, §ora j meinte: rein. 9!un fommt non? »He. Stein, nicht! ßehrer. Sehr gut! Non eget, er bebau nicht Mauris? Sophie. Maurice; SUtorig! ßehrer. SRidjtig, e8 Reifet aber auef) äHauri|dj. .laculis, welche« Stammwort liegt ihm ju fflrunbe? Sünna, i Cal? ßaura. > Jacqaes? SKieje. > Ulüfe? ßeljrer. JHcht Jacques, fonbern jeter; jaculum, ber Sßfcil. anieje. 3ette? ßeljrer. Süchtig! Nequo? Klara 9(ur. ßeljrer. ©ut, Ijier Reifet eB aber tteber — nodj in SBerbinbimg mit nec. 2Ba8 Reifet arcu. Sflara. Arcou, bie Srrägc. ßeljrer. Süchtig, Sie leiten e8 aber nodj beffer bon bem 3()nen näher Iiegenben arc de triomphe ab. ällfo arcus, ber Sogen; venenatis? (ßfjor: veneoeuxl) gravida? iKijor: gravite!) sagittis? (©bor: sagette!) Fusce pharetra? (ßbor: Fusce pharetra!) äluSgejetchnet. 3dj fdjliefee bie Stunbe. SSJorgen fahren ttir fort. Sic »areu heute bridant präparirt. 3cf) banfe 3fmen, meine ®amen. Abgedruckt ist hier ein Auszug aus einer Lateinstunde - wie aus dem Leben ge­ griffen Bern erteilten Lateinunterricht im Mäd­ chengymnasium angewohnt habe. Der Unterricht habe einen vorzüglichen Ein­ druck gemacht, die Leistungen der Schü­ lerinnen seien geradezu staunenswert gewesen. Von Uberanstrengung der sel­ ben habe man nichts merken können; sie seien vielmehr dem Unterricht sichtlich mit größter Aufmerksamkeit und dabei noch in heiterer Frische gefolgt." Der Lateinunterricht an einem Mäd­ chen-Gymnasium war auch an ande­ rer Stelle eine Betrachtung wert. Und noch im Jahr 1893 stand ein kur­ zer Bericht in der Zeitschrift „Die Gar­ tenlaube" über das Mädchen-Gymna­ sium in Karlsruhe. Mit dieser recht kleinen Auswahl an Quellen wurde gezeigt, wie um die Idee geworben werden mußte, wel­ che Publizität diese Gründung in Karlsruhe, in Baden und darüber hin­ aus zu Recht bekommen hat und wie kritisch diese neue Schule beäugt wurde. Doch der gute Ruf des Gym­ nasiums muß sich trotz anfänglicher Schwierigkeiten bald verbreitet haben. Anmerkungen: 1 Johanna Kettler, Die Konkurrenz der Frau, 1890 in: Hannelore Schröder, Hrsg., Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation, Bd. II: 1870- 1918, München 1981, S. 212 2 Johanna Kettler, Gleiche Bildung für Mann und Frau, 1891, in: a.a.O., S. 233 3 a.a.O., S. 237 4 Hedwig Dohm, Die wissenschaftliche Emancipation der Frau, Berlin 1874 5 a.a.O., S. 93 6 a.a.O., S. 179f. ' a.a.O., S. 186 8 „J" steht für den Vornamen ihres Mannes Julius Kettler 53 Abiturientinnen erzählen Das Dritte Reich: Zukunftsperspektive als Hüterin des Heims und Mutter im Dienste des Volkes am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Obertertia des Fichte-Gymnasiums 1938 54 55 Gedanken zum humanistischen Frauen-Abitur vor 70 Jahren Abitur 1923 - die älteste der Zeitzeuginnen dieser Festschrift ergreift das Wort, um ihren Alltag als Lessing-Schülerin der ersten Stunde zu schildern. Studienbeginn, Abbruch, Heirat, Kriegswirren und zu erbringende Opfer sind des weiteren Gegenstand der Erzählung von Hildegard Steppuhn-Glütsch. Frei bekennt sie sich zu der Tatsache, daß sie nie einen Beruf ausgeübt und Verzicht einen guten Teil ihres Lebens bestimmt hatte. Doch als vergebens sieht sie ihre Gymnasialausbildung zu keiner Zeit, ist sie doch überzeugt, „nicht für die Schule, sondern für das Leben" gelernt zu haben. Abitur 1923 - das war im ersten deut­ schen humanistischen Mädchen- Gymnasium in Karlsruhe vor siebzig Jahren! Kaum zu fassen! Latein und Griechisch für Mädchen - und davon zehn Wochenstunden - eine furchtba­ re Vorstellung! Doch wir haben es ge­ schafft und überstanden - mit viel Ar­ beit und Mühe und mit Erfolg! Heute sind mir und meinen drei noch lebenden Con-Abiturientinnen - alle um die 90 Jahre alt und geistig rege - diese Schuljahre noch in guter Erin­ nerung. Es war eine wunderbare Schulzeit, voll neuer Erkenntnisse, in­ teressanter Wissensvermittlung, unge­ trübter Harmonie und gemeinsamer Freuden und Leiden. 39 Schülerinnen begannen in der Ulli („Untertertia") die Gymnasialjahre, nur 18 erreichten schließlich die Ol („Oberprima"). Was aber wichtig war: Sie alle bestanden die Abiturprüfung und erwarben damit das Recht auf ein Universitätsstudium. Dank sei hier gesagt allen unseren Lehrern, die es mit viel Geduld und Engagement verstanden, in uns Be­ geisterung für die Schönheiten der An­ tike als Wiege unserer europäischen Kultur zu wecken. Wir waren also „Blaustrümpfe" (woher kommt eigentlich diese Bezeich­ nung?), oder sprach man damals schon von „Emanzipation"? Unsere eifrigen Vorkämpferinnen und Gründe­ rinnen unseres ersten Mädchen-Gym­ nasiums in Deutschland dachten wohl schon so in ihrem Bestreben nach ei­ ner anspruchsvolleren Schulbildung für uns Mädchen. Bis dahin war sie ja nur dem männlichen Geschlecht vor­ behalten - genau wie der Besuch der Universitäten. Den Begriff „Selbstver­ wirklichung" kannten wir nicht. Wohl aber erstrebten wir eine Selbstverant­ wortung zur Gestaltung unseres eige­ nen Lebens. So fing es damals an: Im Jahre 1910- weil noch nicht ganz sechs Jahre alt - zur Probe in der „Höheren Mädchen­ schule" (das war die spätere Fichte- Schule in der Sophienstraße 14) auf­ genommen, siedelte ich 1911 als Weststadtkind in die neuerbaute Hö­ here Mädchenschule um, auch in der Sophienstraße, aber Nr. 147. Mein täglicher Schulweg führte mich da­ nach zwölf Jahre lang in dieses Schul­ haus. Der 1893 integrierte Gymnasial­ zweig für Mädchen wurde in dieser nach Lessing benannten neuen Schu­ le weitergeführt, wobei die ersten sie­ ben Schulklassen (X bis IV - wir zähl­ ten rückwärts) mit bereits vier Jahren Französisch als Vorstufe für den sich anschließenden gymnasialen Zweig galten. Mit vielen Mitschülerinnen entschloß auch ich mich - es war 1917 mitten im ersten Weltkrieg - für diesen gym­ nasialen Schulzweig, der uns schließ­ lich 1923 das ersehnte Ziel bescherte: die Hochschulreife. Warum nun entschied ich mich für die­ sen gymnasialen Weg zum Abitur? Es waren mehrere Gründe: Sicher gehör­ ten dazu Erfahrungen des damaligen Krieges, die meine Eltern wohl daran denken ließen, mir eine möglichst fun­ dierte Schulbildung und damit bessere Berufschancen - vielleicht sogar durch ein späteres Studium - zu ermögli­ chen. Mich reizten aber auch die neuen Fächer, die uns vor allem Kenntnisse vermitteln sollten von der Antike, ihrer Geschichte und ihrer Be­ deutung für das ganze Abendland; all das wurde den männlichen Schülern schon immer selbstverständlich ange­ boten. Und siehe da: Plötzlich sahen wir uns ganz ohne unser Wollen auf den Barrikaden zusammen mit den Gründerinnen unserer Schule im Streit für unsere Rechte. Daß diese anspruchsvollen Lehrin­ halte dem weiblichen Wesen abträg­ lich sein sollten, kam uns jedoch nie in den Sinn. Ich muß schmunzeln, wenn ich heute lese, daß der bekann­ te Geheimrat Gustav Wendt, lange Jahre auch Leiter des Karlsruher Bis­ marck-Gymnasiums, der bei uns 56 Die Sophienstraße um die Jahrhundert­ wende Abiturprüfungen abnahm, sich 1899 in einer schriftlichen Stellungnahme ve­ hement gegen eine solche Einstel­ lung wehrte und niederschrieb, daß keine der ihm bekannt gewordenen Abiturientinnen „auch nur im minde­ sten Einbuße an echter Weiblichkeit erlitten habe", daß vielmehr nach dem Urteil aller Lehrer „die gesamte Haltung der Schülerinnen eine durch­ aus musterhafte ist und daß weibliche Anmut und Bescheidenheit bei keiner gelitten hat". Mit dem erkämpften Abitur in der Ta­ sche begann dann etwa die Hälfte meiner Klasse ein Studium und er­ reichte einen akademischen Ab­ schluß. Auch meine Pläne gingen in diese Richtung. Doch nach einigen Semestern Volkswirtschaft zog ich eine baldige Heirat weiteren geistigen und wissenschaftlichen Anstrengun­ gen vor. Ich hatte das Glück, den für mich idealen Mann gefunden zu ha­ ben: ebenfalls humanistisch erzogen, mit großer Allgemeinbildung, gleicher Lebensauffassung und vielen überein­ stimmenden Interessen. Ich erinnere mich an gemeinsame Lesungen der Schriften Piatons auf griechisch und vieler lateinischer Texte in unseren er­ sten gemeinsamen Jahren. Wir be­ suchten wissenschaftliche Vorträge über viele Themen aus der Erlebnis­ welt der Antike, ihrer Philosophie, ih­ rer Weltsicht, ihrer Bezüge zum huma­ nistischen Bildungsideal und ihrer geschichtlichen Auswirkungen. Wir in­ teressierten uns eben beide bis zum Tode meines Mannes für viele Dinge außerhalb des Alltäglichen und fan­ den uns immer wieder auf dem Bo­ den gemeinsamer Überzeugungen und Meinungen. Als es möglich wur­ de zu verreisen, wurden Besuche an klassischen Stätten der Antike in Grie­ chenland, Italien, Spanien und der Mit­ telmeerküste für uns zu oft aufregen­ den Erlebnissen und brachten Erfüllung mancher Schulträume. 61 glückliche Ehejahre waren uns be­ schieden, mit vier Kindern, mit Enkeln und Urenkeln. Mit mir drückten dann bereits drei Generationen bis zum Ab­ itur dieselben Bänke der jetzt Lessing- Gymnasium genannten Schule: drei Töchter und zwei Enkelinnen - auch sie fingen gleich mit Latein an. Unser Sohn besuchte das humanistische Bismarck-Gymnasium. Beglückend war es, alle Sorgen und Nöte der Schulzeit meiner Kinder nachempfinden zu können, auch ihre Freuden und Erfolge, hatte ich doch alles selbst erlebt! Es fiel mir immer leicht, bei Hausaufgaben (gerade für Griechisch und Latein) behilflich zu sein. Bis zum Abitur konnte ich so an ihrem Schulgeschehen stets lebendig, 57 Schultheater 1920: „Der Fremdling" aktiv und interessiert teilnehmen, lan­ ge Zeit auch als Elternvertreterin. Ih­ nen Liebe zu den Menschen zu vermit­ teln und Ehrfurcht vor anderen Überzeugungen war mein Bestreben. Meine Kinder meinen noch heute, daß ich sie damals mit meinen historischen Erläuterungen - Geschichte war eines meiner Lieblingsfächer - bei größeren Ausflügen von Karlsruhe etwa nach Straßburg, Speyer, Worms oder Aa­ chen oft stark „genervt" hätte. Mir wa­ ren - und sind auch heute noch - zu meiner Freude die historischen und kunstgeschichtlichen Zusammenhän­ ge immer gegenwärtig. Die Jahre entschwanden rasch und schenkten nicht nur unbeschwerte Zeiten. Auch manches Bedrückende mußte durchgestanden werden: das uns bedrohende „Dritte Reich", der oft kaum ertragbare Zweite Weltkrieg, mein Mann an der Front, ich jung und allein verantwortlich für zehn - auch alte - Menschen in meinem Haushalt, vier Fliegeropfer im engsten Familien­ kreis und noch vieles mehr, später Krankheit und Tod und schließlich Al­ leinsein - wie bei vielen anderen auch. Heute bin ich überzeugt, daß mein stets waches Interesse an allem, was um mich herum geschieht - im Kleinen wie im Großen - mir viel innere Kraft und Zuversicht gab und noch gibt, um mit Widrigkeiten fertig zu werden. Und ebenso sicher bin ich mir, daß die in meiner Schulzeit gewonnenen Er­ kenntnisse und Bewußtseinsinhalte des humanistischen Bildungsideals zusammen mit meiner christlichen Grundhaltung eine eigene Quelle sind, aus der ich auch heute noch Kraft zum selbständigen Handeln schöpfe. Ich habe nie einen „Beruf" ausgeübt, schon gar nicht einen akademischen, für den ich ja vorbereitet war. Ich war immer nur Hausfrau und Mutter. Und doch fühlte ich mich stets getragen von einer Idee und einer Lebenshal­ tung, wie sie mir in meiner damaligen gymnasialen Schulausbildung vermit­ telt worden war. Ich kann nur hoffen und wünschen, 58 daß von diesem Geist, in dem wir da­ mals erzogen wurden, in meiner alten Schule noch viel erhalten bleibt. Wir haben dort damals - wie es Frau Oberstudiendirektorin Dr. Lina Kir­ chenbauer in der Festschrift zum 75jährigen Jubiläum 1986 so treffend beschreibt - eine freiheitlich liberale Gesinnung erlebt, die Verantwortung, Menschlichkeit und Toleranz als we­ sentliche Tugenden begriff. Wir kann­ ten keine rassischen oder konfessio­ nellen Gegensätze - auch unsere jüdischen Mitschülerinnen gehörten ganz selbstverständlich zu uns. Wir lebten einen Klassenverbund, in dem eine die andere bis zum Abitur mittrug. Immer noch unfaßbar und erschüt­ ternd ist der Gedanke daran, daß eine meiner jüdischen Mitschülerin­ nen später ein KZ-Opfer der Nazis wurde. Viel könnte auch erzählt werden von großen und kleinen und von uns al­ len stark miterlebten Begebenheiten, von Aufführungen - wie die von mei­ ner Klasse damals dargestellten „Frösche" von Aristophanes -, von musikalischen Darbietungen, von un­ serem gemeinsamen Singen auf Ausflügen, von Feiern mit unseren Lehrern, von Diskussionen und von vielen amüsanten Ereignissen des täglichen Schullebens. Überlassen wir sie den Erinnerungen. Ich emp­ finde das alles aber als wesentli­ ches Element, das meine damaligen Lebensjahre prägte. Vielleicht haben sich die Zeiten und ihre Anforderungen an Bildung, Aus­ bildung und berufliche Qualifizierung bis heute wirklich so umwälzend geändert, wie man das immer wieder liest und hört. Und vielleicht gelten heute tatsächlich andere Maßstäbe für die Schul- und Berufsplanung. Ich bin aber sicher, daß Persönlichkeiten - Frauen wie Männer - immer nottun, die nach den alten und nach meiner Überzeugung unverändert gültigen humanistischen Werten ausgebildet sind, sie in ihr Denken aufnehmen und an die Jüngeren weitergeben. Sehnsucht nach Arkadien ... Reminiszenz an das humanistische Bildungsideal (Wandkeramik im Lessing-Gymnasium) 59 Zur Jubiläumsfeier Gertrud Ullmer, geborene Schweinfurth, besuchte das Fichte-Gymnasium von 1920 bis 1930 und gehörte somit zum zweiten Jahrgang, der dort das Abitur ablegen konnte. Ihr Rückblick ist umfassend und von erstaunlicher Detailkennt­ nis: Vom Erlernen des Hofknickses, von der Kleidung der Schulmädchen bis hin zu Einzelheiten des Stundenplans reichen ihre Erinnerungen, die sie im folgenden erzählt. Eine kurze tabellarische Übersicht über die Laufbahn einiger ihrer Mitschülerinnen rundet diesen Beitrag ab. Lehrer 1920: Respektheischende Persönlichkeiten Geflochtene Zöpfe und Matrosenkleider prägten das Aussehen der Schülerinnen in den zwanziger Jahren. Eine Tertia der Fichte-Schule 1925 demonstriert dem Fotografen innige Verbundenheit - die jedoch strikt beim Lehrer endet Eine Sexta des Fichte-Gymnasiums 1930. Im Hintergrund des Klassenzimmers der gußeiserne Ofen, der regelmäßig mit Koks beheizt wurde Ich beginne mit der Revolution von 1918. Sie hatte zwar gründlich aufge­ räumt mit alten Sitten und Gebräuchen, aber so manches „Höfische" war den­ noch geblieben: Rein äußerlich hob sich ein Schulleiter von seinen Kolle­ gen durch das Tragen von Cut und stei­ fem Hut ab, der Pfarrer der Stadtkirche trug auch an Werktagen Gehrock mit Zylinder. Schülerinnen grüßten auf der Straße einen Erwachsenen mit einem Knicks, das Erlernen des Hofknickses war in der Tanzstunde noch im Jahre 1926 Pflicht; und daß in einer Mäd­ chenschule hauptsächlich weibliche, unverheiratete Lehrkräfte unterrichte­ ten, steht wohl außer Zweifel. Weil ich von 1920 bis 1930 selbst eine Fichte-Schülerin war und zum zweiten Abitur-Jahrgang gehöre, seien mir ei­ nige Rückblicke gestattet. Meine Eltern wünschten für mich das Erlernen der französischen und eng­ lischen Fremdsprache und meldeten mich nach dreieinhalbjähriger Grund­ schulzeit im Sommer 1920 auf der Direktion unserer Schule an. Der Schulbesuch war gebührenpflichtig, sämtliche Lernmittel, also Bücher und Schreibhefte, gingen zu Lasten der Eltern, deren Geldbeutel nach dem durchgestandenen Ersten Welt­ krieg, nach der Revolution und bei der sich bereits damals schon anbah­ nenden Geldentwertung nicht allzu­ sehr gefüllt war. Wie auch heute noch üblich, mußte man sich einer Aufnahmeprüfung unterziehen. Trotz­ dem gab es vier Anfängerklassen mit zum Teil mehr als 40 Schülerinnen! Ich wurde der Klasse 7c zugeteilt. Der Schulweg war auch in damaliger Zeit nicht ungefährlich: Als Vorstädte­ rin aus Rüppurr benutzte ich die Albtalbahn, betrieben von einer meist unzuverlässigen Dampflok, und wech­ selte dann in die städtische Stra­ ßenbahn über. Der gesamte Schüler­ verkehr wurde dann von Pferde­ fuhrwerken übernommen, hinzu ka­ men die Dienstkutschen - also die heutigen Taxis -, die gelben Pferdekut­ schen der Post mit den Paket­ zustellungen und die „roten Radler", die eilige Botschaften oder Dienstlei­ stungen überbrachten. Der heute übli­ che Transport mittels Auto, auch priva­ te Telefonanschlüsse, waren noch nicht bekannt. Zu „Stoßzeiten" wurde an wichtigen Straßenkreuzungen der Verkehr durch einen weißbemantelten Polizisten mit Trillerpfeife geregelt. Grö­ ßere Entfernungen zwischen Straßen­ bahnhaltestellen und dem jeweiligem Zielort wurden zu Fuß zurückgelegt. War zum Beispiel nach einer Theater­ vorstellung kein Anschluß der Ab­ talbahn mehr zu erreichen, so legte man selbstverständlich den Heimweg nach Rüppurr zu Fuß zurück. 60 61 Wie war man als Mädchen von damals gekleidet? Die gängigen Textilfasern waren Nessel, Baumwolle und Wolle. Völlig unbekannt waren pflegeleichte Unterwäsche und entsprechende Oberbekleidung, desgleichen die Waschmaschine und das elektrische Bügeleisen, auch nicht die schmalen Gummizüge bei den Dessous. Die Un­ terwäsche war aus mehr oder weniger dünnem Battist gefertigt und mit Strei­ fen besetzt. Bänder, Knöpfe und Knopflöcher sorgten für den nötigen Halt und das Wohlbefinden. Obgleich die Kleiderordnung streng unterschied zwischen Werktags- und Sonntags­ kleidung und den entsprechenden Kopfbedeckungen, waren die Kom­ moden und Schränke nicht sehr üp­ pig bestückt; die Kleidungsstücke wurden peinlichst gepflegt und länger getragen als heute. Beliebt waren die Matrosenkleider mit Faltenrock und eine Bluse mit großem Kragen, je nach Jahreszeit aus Baumwolle oder Wolle. Mädchen unter 13 Jahren tru­ gen ihre Zopffrisuren geschmückt mit bunten Seidenschleifen; Teenager tru­ gen ihre Zöpfe aufgesteckt. Bubiköpfe kamen erst in den 30er Jahren „en mode". Neidvoll blickte man auf die Kameradinnen des Gymnasiums oder der Oberrealschule, die je nach Klassenstufe bunte Mützen trugen: die Unterstufe rot, die Mittelstufe grün, die Oberstufe weiß. Diese Rege­ lung galt für das ganze Land Baden. Die Klassenräume waren in den zwan­ ziger Jahren, wie auch heute noch, zu beiden Seiten des großen Schulhofs angeordnet. Zu Schuljahresbeginn waren die Böden aus Tannenholz frisch geölt, die Bänke standen genau ausgerichtet hintereinander, die Tin­ tenfässer waren randvoll aufgefüllt (sie waren dann eine Gefahrenquelle für die Bezopften, auch für die eige­ nen Finger, wenn der Halter mit der Stahlfeder zu tief eingetaucht wurde oder gar einen Klecks auf die Heftsei­ te machte). In der hinteren Wandecke stand ein Riesenofen aus Gußeisen, der im Winter vom Schuldiener be­ heizt, je nach Witterung sogar mehr­ mals mit Koks aufgefüllt werden mußte. Umständehalber gab es des­ halb in einem Raum drei Temperatur­ zonen: eine sehr warme im hinteren Viertel, eine gemäßigte in der Mitte und eine kühle im vorderen Bereich. Die Zehnuhrpause verbrachte man im Schulhof, aber im geordneten Rund­ gang um den Aufsichtslehrer. Das run­ de Zifferblatt der Uhr über der Turnhal­ le kündigte auch damals schon das Pausenende an. Nur Oberklässler konnten sich vor diesen Muß-Pausen drücken. Erwähnenswert ist noch die Tatsache, daß es die Möglichkeit gab, die Quäkerspeisung in der Turnhalle zu nehmen; diese amerikanische Spende wurde aber nach 1921 eingestellt. Das Lernen in der Unterstufe war sehr mühsam: Die Schülerzahl mußte redu­ ziert werden, die Lehrer mußten ihr Stoffpensum bei entsprechend stren­ ger Benotung durchziehen. Sicher machte auch ihnen das Unterrichten keinen Spaß: Sie mußten jedem ein­ zelnen die ungewohnten französi­ schen Nasallaute beibringen, sie muß­ ten den Wortschatz mehren, und sie mußten die Heftführung überwachen. Die deutsche Sprache mußte mit deutschen Schriftzeichen (Sütterlin) geschrieben werden. Das kleine Wör­ terheft in Französisch war deshalb auf der linken Seite mit dem französischen Vokabular in lateinischer, rechts aber in deutscher Schrift zu schreiben! Die einzige Turnstunde des Wochen­ planes war immer sehr erholsam: Zu ganz normaler Kleidung trugen wir Turnschuhe, machten Gehübungen nach dem Takt eines Tambourins oder Ballspiele. Eine Lieblingsstunde war auch die des Handarbeitens, man lernte stricken, häkeln und stik- ken. Der Religionsunterricht für Protestan­ tinnen oder Katholikinnen unterstand den jeweils zuständigen Pfarrämtern. Die Israelitinnen waren samstags vom Schreiben befreit (deshalb wurden samstags nie Klassenarbeiten ge­ schrieben). Die drei Jahre der Unterstufe waren sehr freudlos und anstrengend, mit ei­ nem Übermaß an Hausaufgaben und angefüllt mit dem Üben für die Klavier­ stunde im privaten Konservatorium. Bei jeder Klassenarbeit gab es viel Herzklopfen, und alles wäre ohne Klassenfreundinnen nicht durchzuste­ hen gewesen. In der Mittelstufe machte das Lernen mehr Spaß: Schon nach drei Jahren Unterstufe war die Klassenstärke nur noch bei etwa 30 Schülerinnen, ein Klassenjahrgang war sogar völlig ver­ schwunden! Wir genossen das Recht, die Schulbibliothek zu benutzen, wir lernten Englisch mit der mühsamen Aussprache des „th" und der„r's"; es gab einen gezielten Turnunterricht, so­ gar im Städtischen Hallenbad Schwimmunterricht im Klassenver­ band. Im Fach Handarbeiten wurde ein Achselschlußhemd genäht aus Shirtingstoff, verschönert durch eine Häkelspitze und mit eingesticktem Monogramm - aber wehe, wenn der Fingerhut nicht mit im Einsatz war. Im Konzerthaussaal fand die erste Stummfilmvorführung statt mit einge­ blendetem Text. Man besuchte sie im geschlossenen Klassenverband zu­ sammen mit dem Klassenlehrer, und man schämte sich beim Tod des blon­ den Siegfried nicht seiner Tränen. An besonders grimmig kalten Winterta­ gen gab es sogar hausaufgabenfrei zum Schlittschuhlaufen auf dem zuge­ frorenen Stadtgartensee. Derlei Erlebnisse stärkten den Klas­ sengeist und sorgten für Freundschaf­ ten. Aber es gab nie ein menschliches Näherkommen zur Klassenlehrerin; auch beim Klassenausflug wurden persönliche Gespräche vermieden. Es gab auch keine gemeinsamen Got­ tesdienste, weder zu Beginn noch am Ende eines Schuljahres; es gab auch keine Sportfeste, wohl aber eine Fest­ stunde zum Schuljahresabschluß im kleinen Konzerthaussaal. 1926 kam dann die atemberaubende Mitteilung, daß die Fichte-Schule, die Höhere Mädchenschule, zur Oberreal­ schule ausgebaut werde, mit einer Reifeprüfung als Zugang zum Univer­ sitätsstudium. Nun taten sich für eine 62 Turnen als Kunstform - Schülerinnen in der Badischen Landesturnanstalt 1928 HÖHERE KNABENSCHULEN KARLSRUHE. SCHWIMMZEUGNIS G e r t r u d Fi nie Schülern der Fichteschule hat heute die Sdiiuimmprobe mit Erfolg sehr gutem abgelegt. Karlsruhe, den 22,. j u i i 1<B2 Die Direktion der städtischen Badeanstalten. Pnedrtch Knodel. KaMsnjha Selbst in den zwanziger Jahren gab es noch keine Schwimmzeugnisse speziell für Mädchen. Vordrucke hierzu mußten jeweils abgeändert werden. Frau neue Berufsaussichten auf, und für das Schulsystem gab es eine Neu­ ordnung: Die Schuljahre waren von nun an an Ostern zu Ende; die neuen Klasseneinteilungen liefen von der Sexta bis zur Oberprima, die neu ein­ gestellten Lehrkräfte waren vornehm­ lich männlich und nannten sich „Pro­ fessor". Die vertrauten Anreden der Schülerinnen kehrten sich von „Du" zu „Sie", aber nun nur noch bei Nen­ nung des Nachnamens. Anstelle von Musik- und Zeichenunter­ richt waren am Nachmittag Latein­ stunden angesetzt. Nach erfolgrei­ cher schriftlicher Prüfung im Abitur konnte das „Kleine Latinum" beschei­ nigt werden. Das grammatikalische Korsett war in diesem Fach nicht sehr eng, aber dank der unsichtbaren Hilfe eines Elternteiles oder eines son­ stigen Familienmitglieds waren die vorgeschriebenen Lektüren von Cae­ sar, Livius und Ovid dennoch „gemei­ stert" worden. Im Deutschunterricht der Oberstufe wurden Gedichte, Abhandlungen und Dramen der Klassiker behandelt und in vielen Hausaufsätzen die entspre­ chenden Charaktere beschrieben. Wir bemühten uns um die Ideen der Freiheitsdichter, doch wurde ein zeit­ kritisches Denken nie angeregt. Man erlernte die gesamte Literaturge­ schichte bis zur Neuzeit, erfuhr aber nichts über Bert Brecht. Im Fach Geschichte wurde vornehm­ lich die des Deutschen Reiches bis zur demokratischen Verfassung behan­ delt, die Abfolgen der Kolonialkriege waren stundenfüllend. Mathematik und Physik vermittelten mittels Logarithmen und Integralrech­ nungen Lösungen für so manche in­ teressante Aufgabe eines Ingenieurs. Chemische Versuche im entspre­ chend hergerichteten Saal waren in jeder Hinsicht oft atemberaubend. In den Fremdsprachen wurde eine ein­ wandfreie Wiedergabe der Lektüren gefordert. Diesbezügliche Übungen begannen mit Dickens „Christmas Ca- rol", fanden ihre Fortsetzung in „Silas Marner" und vervollkommneten sich in Galsworthy's „Forsytes Saga". Dank des sich über die Jahre ange­ sammelten Vokabular-Schatzes konn­ te man dann auch bei der Abitur-Arbeit den Leitartikel der Tagesausgabe in der „Badischen Presse" in eine Fremd­ sprache übersetzen. 64 Eine Oberprima beim Klassenausflug 1921. Im Zentrum Professor Baumann, damaliger Direktor der Lessing-Schule Leider kann ich mich an Einzelheiten unseres Oberstufen-Lehrstoffes nicht mehr erinnern, auch entschwanden die Texte der Abitur-Aufsätze. Aber daß auch diese unter Chiffre in deut­ scher Schrift mit feinen Auf- und dik- keren Abstrichen abgegeben werden mußten, weiß ich noch. Da ein „Abwählen" einzelner Fächer im Oberstufenbereich nicht üblich war, war der Aufgabenbereich zuhause sehr zeitaufwendig. Nachhilfestunden durch eine Fachkraft waren unüblich. „Schwachstellen" eines Schulfaches mußte man im Eigenverfahren aus­ merzen oder sich von einer Kamera­ din helfen lassen. Dadurch wurde das Gefühl des Zusammengehörens und des gegenseitigen Vertrauens sehr gefestigt. Unbekannt war ein Strebertum einzelner. Unser Klassen­ geist war - leider - so stark geprägt, daß wir die Kameradinnen der Parallel­ klasse nicht beachteten, obgleich wir gemeinsamen Religions- und Latein­ unterricht hatten. So blieb uns deren Lebensweg verborgen. Das Verhältnis zu unseren Lehrern blieb immer unpersönlich. Selbst beim zweitägigen Oberprima-Ausflug zum Feldberg kamen sich Lehrer und Schülerinnen nicht näher: Die O Ib nächtigte in der Jugendherberge, die beiden Lehrer im Hotel. Nach dem Empfang des Reifezeugnisses beim feierlichen Schlußakt im Kleinen Kon­ zerthaussaal posierten wir, die ehema­ lige O Ib, zwar Arm in Arm mit dem Klassenlehrer Professor Michenfelder für den Fotografen, aber es war ein einmaliges Zufallsbild. Im Jahre 1930 gab es von der Seite der Schulleitung noch keine Berufsbe­ ratung. Man verließ sich auf die Rat­ schläge der eigenen Familie und steckte sich sein Berufsziel selbst ab. Zu zäher Ausdauer erzogen, wollte man sein Bestes tun, erfolgreich zu sein. Die Berufsauffächerung war aber für eine Frau nicht sehr mannig­ faltig. Zu spät wurde uns die Tatsache bewußt, daß Vater Staat zu knapp bei Kasse war, die künftigen Anwärterin- nen für den Schuldienst besolden zu können: Der Numerus Clausus wurde eingeführt, die Lehrerbildungsanstalt auf zehn Jahre geschlossen, Beam­ ten wurde untersagt, mit einer berufs­ tätigen Frau verheiratet zu sein. Man hatte zwar die Hochschulreife be­ scheinigt bekommen, aber die Nut­ zungschancen waren gering. Wer dennoch für Fächer im Höheren Lehr­ amt studierte, tat es auf eigenes Risi­ ko. Die Universität verlangte eine allge­ meine Studiengebühr, die einzelnen Vorlesungen waren honorargebun­ den. Fast jede Klassenkameradin hat ein Studium ihrer Wahl begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Bis 1945 wur­ den nach und nach sämtliche Privat­ schulen aufgehoben, eine Abwande­ rung ins Ausland wurde unmöglich, weil dafür benötigte Devisen verwei­ gert wurden. Einer beruflichen Selbst­ verwirklichung waren enge Bandagen angelegt: Man suchte sie im Näch­ sten, fand sie und heiratete! 65 Der Abiturjahrgang 1930 des Fichte-Gymnasiums Bullinger Josephine David Käte "1910 Beamtin mittlere ledig Beamtenlaufbahn *1910 stud.med. Karlsruhe verh. Levertow El-Haifa Füller Edeltrud *1910 stud.phil. verh. Engel Karlsruhe Hamburger Geburtsdatum und Lebensweg unbekannt Suse Heinze *1910 Hauswirtschafts- verh. Seiler Liselotte seminarlehrerin Karlsruhe Junghans *1910 stud.pharm. Friedel verh. Störzinger München Rupp *1912 Höhere Charlotte Handelsschule verh. Delventhal Karlsruhe Schweinfurth *1910 stud.rer.nat verh. Ullmer Neckar- Gertrud Lehramtsreferendarin gemünd Wander Rosa *1911 stud.phil. verh. Horlbeck Grünsfeld Weber Margarete Weber Johanna *1911 stud.med. Ärztin *1911 stud.ing. Architektin verh. ? verh. Meffert Walldürn Wuppert *1910 stud.paed. Ilse Zemke Erika Sonderschullehrerin M910 Dr. rer.nat. stud.rer.nat. verh. Padel verh. Schroeder Eisenhütten­ stadt/Fürsten­ berg,Oder Kronshagen/ Kiel 20 Jahre nach dem Abitur (von 1930) haben wir uns aus der ehemaligen O Ib zum ersten Mal zu einem Treffen verabredet, und auf der anschließen­ den Tabelle stehen auch die Einzel­ schicksale - nur zwei haben den PKW-Führerschein besessen! Was aus den Kameradinnen der Par­ allelklasse geworden ist, konnte nie in Erfahrung gebracht werden, auch nichts über die des ersten Abiturjahr­ ganges. Auch sie werden allen Durch­ setzungswillen gebraucht haben, die Kriegsfolgen zu überstehen. Unsere ehemalige Klasse hat sich wie eine Festung gehalten: Wir haben uns regelmäßig im Abstand von fünf, dann von drei, schließlich von einem Jahr getroffen, immer so, daß nach Mög­ lichkeit jede Kameradin anwesend war, selbst die aus der ehemaligen DDR und die aus Israel. Unser letztes Treffen war 60 Jahre nach dem Abitur. Seitdem haben gesundheitliche Schä­ den die Oberhand, doch die Kontakte bestehen weiter über Briefe oder fern­ mündliche Gespräche. Wer aus dem Dezennium 1920-30 zurückblickt, sollte es mit einem Dank an die nunmehr alle verstorbe­ nen Lehrer tun. Sie haben versucht, ihr bestes Wissen an uns weiterzuge­ ben. Sie waren, wie unsere Eltern auch, autoritär erzogen worden und sind auf diesem vorgegebenen Gleis geblieben. Sie haben auf uns einen starken Leistungsdruck ausgeübt und konnten deshalb keine Lei­ stungsfreude unsererseits erwarten. Aber ich bin überzeugt, daß wir un­ ser Leben nach all den Kriegswirren hätten nicht gestalten können ohne die anerzogene Zuverlässigkeit, Diszi­ plin und Pünktlichkeit. Man hat uns befähigt, englische und französische Aufsätze zu lesen und zu verstehen, wir wurden aufgeschlossen für Kunst und Literatur jenseits unserer Staats­ grenzen, auf Reisen ins Ausland be­ kamen wir Interesse für fremdes Kul­ turgut. Wer die Möglichkeit hatte, in den letz­ ten Jahren einmal seine alte Schule im Vorbeigehen zu besuchen, konnte na­ türlich im Blick auf die eigene Vergan­ genheit nur neidvoll auf die aufge­ weckten und fröhlichen Schüler und Schülerinnen blicken, die sich, leger gekleidet, so zwanglos mit ihren Leh­ rern durch die Gänge und auf den Treppen des Hauses bewegten. Aber auch ihnen läutet die anvertraute Stun­ denuhr über dem Eingang zur Turnhal­ le, auch sie sind einer Schulregel un­ terstellt, auch sie sollen täglich ihr Bestes leisten. Daß sie ihre Aufgabe immer mit selbstbewußter Freude tun, das ist der Wunsch von uns ehe­ maligen Alten! 66 Erinnerungen an meine Schulzeit Cordula Knoblochs Erinnerungen an die Schulzeit sind eng mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden, lag sie doch größtenteils in diesem zeitlichen Rahmen. So spannt sich in ihrer Erzählung ein Bogen von den ersten - noch friedlichen - Schuljahren am Lessing-Gymnasium über improvisierten Unterricht nach Bom­ benangriffen und Kriegsdienstverpflichtung der Schülerinnen bis hin zum Abitur 1948 unter den erschwerten Bedingungen der Nachkriegszeit. Schulerinnen und Schüler im Dritten Reich: Treffen der Hitler-Jugend im Mai 1933 in Karlsruhe In den denkwürdigen Jahren 1939 bis 1948 besuchte ich die Lessing-Schu- le, die vom Ende der 30er Jahre an bis Kriegsende „Höhere Mädchenschule" war. Im April 1939 begannen etwa 90 Schülerinnen in den Klassen 1a und 1b das erste Schuljahr. Meinen fünf Kilometer langen Schulweg legte ich mit dem Fahrrad zurück, in den Win­ termonaten mit Bus oder Bahn, was aber damals sehr umständlich und zeitraubend war. Ein paar Monate später brach der Krieg aus. In der Schule haben wir zu­ nächst nicht viel davon gemerkt, ei­ gentlich nur beim Frühstücksangebot in der großen Pause. Dreimal jährlich gab es Zeugnisse - vor den Sommer- 67 Arabeske auf dem Feldberg. Wintersport 1933 ferien im Juli, zu Weihnachten und am Ende des Schuljahres. Im Jahre 1941 wurde der Schuljahresbeginn von April auf die Zeit nach den Sommerferien verlegt, so daß das Schuljahr 1940/ 41 ein Vierteljahr länger gedauert hat. Unsere erste Fremdsprache war Eng­ lisch, und zu Beginn der dritten Klasse erhielten wir wahlfrei Latein. Ab Schuljahr 1942/43 kam Physik dazu, und die Note für Religion durfte nicht mehr auf dem üblichen Zeugnis­ formular erscheinen; wir erhielten da­ fürein Extrablatt. Eine Zeitlang mußten wir, um ein neues Heft kaufen zu kön­ nen, das vollgeschriebene zuerst auf dem Sekretariat abstempeln lassen. Diese Maßnahme hat sich nicht be­ währt, sie wurde wieder eingestellt. Jeweils in den Weihnachtsferien lag reichlich Schnee, und die Seen waren zugefroren, so daß alle Möglichkeiten des Wintersports quasi vor der Haus­ tür lagen und wir dabei eine Menge Spaß haben konnten. Für die Zeit der Sommerferien beka­ men wir von der Schulleitung den Auf­ trag zum Sammeln von Heilkräutern. Da ich außerhalb des Stadtgebietes wohnte, konnte ich recht viel ernten: Kamillenblüten, Himbeer-, Brombeer- und Spitzwegerichblätter sowie eine kleine Menge Ackerschachtelhalm. Die Kräuter wurden dann am Ende der Ferien in getrocknetem Zustand abgeliefert. Am 21. Mai 1943 haben sogar vier Klassen einen Nachmit­ tagsausflug ins Hügelland bei Grötzin­ gen unternommen, bei dem große Mengen Maiblumenblätter gesammelt werden konnten. In jener Zeit gab es schon erhebliche Lücken im Unterricht. Wenn in der Nacht Fliegeralarm gewesen war, fie­ len die ersten beiden Stunden aus. Wenn vormittags Alarm gegeben wur­ de, stürmten wir in den Luftschutzkel­ ler des Schulhauses, wo manches Mal der Kellerraum zum Klassenzimmer wurde. In der Nacht zum 3. Septem­ ber 1942 wurden Dachgeschoß und oberstes Stockwerk der Lessing- Schule durch Brandbomben zerstört; von da an waren wir Gäste in der Fichte-Schule. Nun war Schichtunter­ richt angesagt: Eine Woche lang durf­ ten die Fichte-Schülerinnen am Vor­ mittag kommen und die Lessing- Schülerinnen nachmittags; dann wur­ de abgewechselt. Außerhalb der regu­ lären Ferien gab es während der strengsten Frosttage im Januar und Februar noch Kohleferien. Alle diese Erschwernisse verhinderten einen ge­ regelten Stundenplan. In den Sommerferien wurden die über 14jährigen Schülerinnen zu einem klei­ nen Kriegsdienst verpflichtet. Dieser Arbeitseinsatz dauerte jeweils zwei Wochen und konnte entweder in ei­ ner Fabrik, bei der Seidenraupen­ zucht (Fallschirmseide) oder in einem Jugendlager mit Küchenarbeit abge­ leistet werden. Zu Beginn des Schuljahres 1943/44 wurden die beiden Parallelklassen a und b neu aufgeteilt. Es entstand eine sprachliche und eine hauswirt­ schaftliche Abteilung. Von da an hat­ ten wir auch Chemieunterricht und konnten wahlfrei Kurzschrift lernen. Dieser Bildungsweg dauerte für uns nur ein Jahr; denn nach den Sommer­ ferien 1944 fand jeglicher Schulunter­ richt in Karlsruhe ein plötzliches Ende. Von Juli bis Dezember richteten schwere Luftangriffe mit Brand- und Sprengbomben unendlich viel Zerstö­ rung an. Ich erinnere mich daran, in den ersten Tagen nach einem sol­ chen Angriff zu einem Hilfsdienst in einer Großküche eingeteilt gewesen zu sein, die Fliegergeschädigte ver- 68 pflegte. Ansonsten waren auf unbe­ stimmte Zeit Ferien. Im Januar 1945, teilweise auch früher, mußten Schüler und Schülerinnen, die noch zu Hause waren, einer Wehr­ machtseinheit beim Ausheben von Schützengräben außerhalb der Stadt helfen. Das Thermometer zeigte täg­ lich 18-20° unter Null; zur Vesper­ pause wurde eine Feuerstelle errich­ tet, wo dann jeder Teilnehmer sein hart gefrorenes Stücklein Brot und vielleicht sonst etwas Eß- oder Trink­ bares auftauen konnte. Wer dann im Laufe des Jahres 1945 die Möglichkeit hatte, privat etwas zu lernen, war gut dran, denn der Schul­ unterricht konnte für uns erst wieder im März 1946 beginnen, nach mehr als eineinhalb Jahren Pause. Unsere liebe Lessing-Schule nannte sich jetzt wieder Mädchen-Realgym­ nasium; niemand wurde mehr zur per­ fekten Hausfrau ausgebildet. Das Schulhaus war zwar nur noch drei Stockwerke hoch, aber sonst wieder in recht gutem Zustand. Nachdem unser Jahrgang im Sommer 1944 die damalige Klasse 5 - heute Klasse 9 entsprechend - gerade been­ det hatte, als der totale Krieg über uns hereinbrach, sind wir bei unserem Neu­ beginn aufgerückt in die Obersekunda, welche heute der Klasse 11 entspricht. Dieses Schuljahr dauerte für uns knap­ pe fünf Monate, und schon wurden wir versetzt nach Unterprima. Aus 15jährigen Kindern waren in der Zwi­ schenzeit 17 Jahre junge Erwachsene geworden, die von den Lehrern plötz­ lich mit „Sie" angeredet wurden. Wieviel Wissensstoff uns doch da­ mals fehlte! So viel Vergessenes mußte aufgefrischt, Versäumtes nachgeholt und Lehrplanmäßiges neu durchgenommen werden. Unse­ re Lehrer gaben sich gewiß die größ­ te Mühe mit uns heilgebliebenen, zu­ rückgekehrten Schülerinnen, und wir haben eifrig gebüffelt. Zu unserer Stärkung gab es lange Zeit jeden Tag in der großen Pause eine Schul­ speisung. In ein mitgebrachtes Ge­ schirr wanderte entweder eine große Kelle leckere Nudeln mit Rosinen oder eine Portion wohlschmecken­ der Haferbrei, damit wir wieder zu Kräften kämen. In unserer Sechs-Tage-Woche hatten wir einen sehr konzentrierten Stun­ denplan; er bestand praktisch nur aus Hauptfächern: Deutsch, Ge­ schichte, Mathematik, drei Fremd­ sprachen und drei naturwissen­ schaftliche Fächer. Diese wurden nur von je zwei Stunden Turnen und Religion unterbrochen. Schulbücher gab es noch nicht. Was uns von un­ seren Lehrkräften vermittelt wurde, mußte alles mitgeschrieben und zu Hause dann „ins reine" übertragen werden. Gewiß ist durch das zwei­ malige Schreiben des wesentlichen Lehrstoffs mehr in unserem Gedächt­ nis hängen geblieben als beim Ler­ nen aus weitschweifigen Schulbü­ chern. Leider gab es zu jener Zeit auch noch keine DIN-A4-Hefte, so daß wir sehr sorgfältig arbeiten muß­ ten, um alles überschaubar in den kleinen Heften unterzubringen. Die letzte Wegstrecke meiner Schul­ zeit legte ich in der friedlichen Zwöl­ fergemeinschaft der Oberprima A zurück. Die Hälfte von uns Mitschüle­ rinnen war persönlich hart von den Einwirkungen des Krieges und der Nachkriegszeit betroffen. Umso mehr gaben wir uns wohl Mühe, die von uns angestrebte Reifeprüfung gut zu bestehen. Eine interessante Bereicherung unseres Deutschunter­ richts war eine Reihe von Leseaben­ den in der Wohnung unserer Lehre­ rin. Am Ende des letzten Schuljahres, es war am 6. Juni 1948, wurden wir wäh­ rend der zweiten Schulstunde ganz schön aufgeschreckt durch ein kur­ zes, heftiges Erdbeben. Vor dem Fen­ ster unseres Klassenzimmers flogen mit großem Getöse Steine auf die Erde, aber der Schaden am Schulge­ bäude hielt sich in Grenzen. Die schriftlichen Arbeiten für das Abitur begannen am Montag, dem 14. Juni, und dauerten fünf Tage. Am 19. Juni war die Proklamation der „Währungs­ reform", die auch unsere weitere Fort­ bildung mitbestimmen sollte. Zwi­ schen der schriftlichen und mündli­ chen Prüfung lagen drei Wochen intensiven Unterrichts, war es doch die letzte Möglichkeit, noch etwas da- zuzulernen. Von einem Prüfungskom­ missar und dem Lehrer des jeweiligen Fachs wurde jede Schülerin in allen Fächern geprüft, und alle haben es geschafft. Doch was konnten wir jungen Men­ schen damals mit unserem Reifezeug­ nis anfangen? An den Universitäten und anderen Ausbildungsstätten war es besonders für Mädchen schwer an­ zukommen, auch nicht mit guten Zen­ suren. Heimgekehrte Soldaten mußten gerechterweise bevorzugt werden, und außerdem fehlte es in manchen Familien wirklich am Geld für ein Stu­ dium. So war oft eine längere Warte­ zeit angesagt, oder es wurde eine Be­ rufsausbildung „der Not gehorchend, nicht dem eig'nen Triebe" begonnen. Aber auch daraus ist manch segens­ reicher Lebensinhalt erwachsen; denn nicht immer entsprechen unsere eige­ nen Wünsche dem besseren Weg. Diese unsere Kriegs- und Nach­ kriegsgeneration konnte nicht so viel Schulwissen erlangen, sie hatte aber anderen gegenüber einiges an Lebenserfahrung voraus. Mit Hinder­ nissen rechnen, mit Beschränkungen auskommen, mit Begrenzungen le­ ben und gegen Widerstände den Kampf aufnehmen, das haben wir gelernt. Selbstverwirklichung blieb meistens eine Utopie. Das Materielle trat in den Hintergrund, und das Wesentliche, was das Leben sinn­ voll und das Zusammenleben der Menschen erträglich und fruchtbar macht, hatte mehr Gewicht. 69 Gedanken und Erinnerungen an meine Zeit in der Lessing-Schule 1952 bis 1959 Katarina Zacharias nennt ihren Beitrag einen „offenen Brief". Doch was scheinbar an ihre Patentochter gerichtet ist, läßt auch an eine private Eintragung in die Seite eines Tagebuchs denken. Ausgelöst durch das Zusammentreffen mit einer Lehrerin lebt die Schulzeit wieder auf: Gedankenbruchstücke, eine lose Folge von wohlbekannten Gefühlen, die zugleich mit der Erinnerung an Einzelheiten auf­ blitzen. Bloße Stichworte verdichten sich zu Situationsbildern, im gleichen Maß, wie die Schulzeit immer deutlicher auflebt, sie geraten in Fluß, wenn Katarina Zacharias zu erzählen beginnt. In diesem fiktiven Brief überläßt sie sich dem Strom ihrer Gedanken über die Schulzeit am Lessing-Gymnasium, und der Leser mag ihm folgen. Liebe Annette, „meine Schule", an der ich Abitur ge­ macht habe nach acht Jahren Schul­ bankdrücken, feiert ihren hundertsten Geburtstag. Diese Schule, das Les­ sing-Gymnasium Karlsruhe, war übri­ gens das erste deutsche Mädchen - Gymnasium. Soweit, so gut. Ich habe vor wenigen Monaten einen achtzigsten und einen neunzigsten Geburtstag gefeiert. Sol­ len doch diesmal andere zu Wort kom­ men, Reden halten, Erinnerungslük- ken schließen, vergrabenen Gefühlen auf die Spur kommen, Namen wieder nennen und Beziehungen herstellen zu einer mehr oder weniger verlore­ nen Zeit. Ohne mich. Hätte ich nicht zufällig eine sehr ver­ ehrte ehemalige Lehrerin zum ersten Mal seit der Schulzeit aufgesucht. Zu­ fällig? Echte Zufälle gibt es kaum, eher die Synchronizität von Ereignissen, die irgendwie zusammengehören ... Wir hatten damals während meiner Schul­ zeit französisches Theater gespielt, sie als die treibende Kraft, und ich in der Gruppe enthusiastischer Schülerin­ nen. Die intensive Arbeit und der anschließende Lohn durch eine begei­ sterte Aufnahme bleiben mir unver­ gessen - ein rundes Erlebnis: harte Arbeit, frohe Feste ... Im Gespräch beim Tee begann dann doch das Nachdenken über meine Zeit am Lessing-Gymnasium. Sie meinte, ob ich nicht etwas schreiben könnte für die Festschrift. Ich krame in alten Fächern nach greif­ baren Erinnerungen. Die Ausbeute ist zunächst mager: Das Abitur-Foto, das Zeugnisheft, Fotos von Klassenfahrten und Theateraufführungen. Lehrer fallen mir ein, Gesichter, Ämter, Auswendig­ gelerntes, alles ziemlich ungeordnet. „A, ab, e, ex und de, cum und sine, pro und prae" stehen mit Ablativ. Nanu - das ist geblieben? Non scholae, sed vitae discimus? „Hier im Dunkeln, wenn mattes Mond­ licht aus den Zweigen fällt, des Tages Hitze wich, aus feuchtem Gras mir Kühlung zuweht, bin ich wohlgebor­ gen..." Eigenartig, daß ich diesen Text memoriere. Ich habe ihn gar nicht selbst gesprochen. Er stammt aus „Des Königs Schatten" (B. v. Hei­ seler), ich spielte den König, der sich verblendet in die Sprecherin dieser Worte verliebt und dabei fast an der wahren Liebe vorübergeht. Andere Bruchstücke, darunter Rilkes „Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß ..." Dieses für den Deutsch­ unterricht gelernte und nie vergessene Gedicht hat mich kürzlich tröstlich durch eine Lebenskrise begleitet. Nun machen sich auch Gefühle be­ merkbar. Ein eigenartiges Gemisch, das Erstaunliche daran, daß sie so stark sind! Mulmige Anst vor einer Lateinarbeit... selbstsicherer Stolz beim Aufsagen des gut gelernten Gedichts ... die Be­ schämung, etwas, was der anderen leicht fällt, nicht zu können ... die star­ ke Verbundenheit in einer Klassenver­ schwörung ... die Enttäuschung (auch heute noch, nach 30 Jahren!), daß großer Einsatz und enorme Anstren­ gung und ach, so viel Hoffnung sich nicht in meiner Zeugnisnote wider­ spiegelten ... auch Neid auf Glückli­ chere und wilder Ärger über die Unge­ rechtigkeit ... Heute weiß ich, daß das äußere System einer Schule, sozusagen das Korsett, bestehend aus allem Forma­ len, Programmierbaren (Lehrplan, Schulordnung, Benotung, der Unter­ richt und so weiter), nur Teil des gan­ zes Komplexes Schule ist. Das ande­ re, innere Leben, die Atmosphäre, das Informelle, ist die Gegen-, oft auch die Kehrseite, bei der sich sogar Lehrer- 70 jTuljer raar man aua> schon böse, 3mmer qinqs xiuc ta4 Cfcföse ? und Schülerrollen vermischen. Ich meine alle die tausendundeins Er­ scheinungsformen des „Klassengei­ stes", Spickzettel, Lehrerkarikaturen, Abschreibenlassen, die Freundschaf­ ten und Geheimnisse. Das spielt sich alles im Rahmen von Beziehungen und Gefühlen ab, oft im Gegensatz zum Curriculum. In unserer Klassen­ gemeinschaft bestand über viele Jah­ re eine Subkultur, der gar nicht alle Mädchen angehörten, die kreiste um zwei vornehme Familien: die Knell von Krähenhorsts, die sich durch Ehe­ schließung mit den Blau von Blumen­ kohls verbunden hatten. Wir sprachen uns nur noch mit den angenommenen Namen an (Hugo, Kuno, Bruno, Idah, Iwan), und ich höre heute noch auf „Hugo"! In den fünfziger Jahren hatten die Fun­ ken der studentischen und Schüler­ revolte noch nicht in unseren Klassen­ zimmern gezündet. Echten Wider­ stand oder wirkliche Sabotage haben wir nicht fertiggebracht, obwohl man­ che Lehrer dazu herausforderten. Aber eine Quinta, die ich als Oberpri­ manerin betreute, hatte schon diese Wende zum Ungehorsam geprobt: Eine bedauernswerte Lehrkraft wurde von ihnen mit absurdem Theater ge­ peinigt, die ganze Klasse hatte sich mit dem Rücken zur Lehrerin gesetzt, die weiter zu unterrichten versuchte, während ab und zu eine Schülerin rief: „Wo sind Sie denn, wo sind Sie denn, Fräulein X, wir hören Sie, aber wir sehen Sie nicht! Zeigen Sie sich doch!" Mich hat das damals sehr erschreckt, und ich konnte die Schadenfreude der Jüngeren nicht teilen. Mein Amt als Schulsprecherin habe ich auch nur im Rahmen der äußeren Repräsentanz von Ordnung und Sta­ tus quo verstanden und ausgeführt. Daß wir Schülerinnen eine Macht sind oder haben, war mir damals un­ klar. Wir waren noch sehr brave, ange­ paßte Mädchen, und wenn nicht, „Tafelmalerei" im Geiste Wilhelm Büschs dann ging man eben von der Schule ab. Die Welt des heilen Mädchen- Gymnasiums war noch in Ordnung. Jungen begegneten wir nur außerhalb der Mauern, in der Tanzstunde oder auf anderen Umwegen. Hätte man uns nach Koedukation gefragt, hät­ ten wir ungläubig gelacht oder sogar überzeugt abgelehnt. Liebe Annette, wieso schreibe ich das alles an Dich? Ich bin mir sehr bewußt - sicher durch meine langen Auslandsaufenthalte noch verstärkt - , daß ich eine deut­ sche Schule besucht habe. So un­ kommentiert kann ich diese einfache Tatsache möglicherweise heute, im Jahr 1993, wieder stehenlassen. Aber zu meiner Schulzeit in den fünf­ ziger Jahren und dann mehr und mehr in den Jahren bis zur„deutschen Wen­ de" wurde behauptet, daß die Schul­ bildung in Westdeutschland eine ganz andere, freiere, schlicht bessere sei als Deine nach kommunistischem Muster am Theodor-Neubauer-Gymnasium, Rudolstadt, in der DDR. Heute bis Du angehende Tierärztin und ich praktizierende Psychologin. Und obwohl wir durch verschiedene Schulsysteme gegangen sind und verschiedenen Generationen angehö­ ren, verwirklichen wir doch beide die Hoffnung der Gründerinnen dieses ersten deutschen Mädchen-Gymna­ siums auf Chancengleichheit für Mädchen, „einen selbsterwählten, nicht aufgezwungenen Beruf zu erler­ nen". Ich denke darüber nach und wundere mich: Wo bleibt dann noch ein Unter­ schied? Was kann Schule überhaupt, und was kann sie nicht bewirken? Lessing, dessen Name mit meiner Schule verbunden wurde, sagt in der „Erziehung zum Menschenge­ schlecht": „Erziehung gibt dem Men­ schen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte... nur ge­ schwinder und leichter." Was ich gelernt habe und heute noch gebrauchen kann: Ich habe Lernen ge­ lernt, und daß sich Lernen lohnt und nie endet; Enttäuschung zu ertragen und wieder von vorn anzufangen, wenn es schief ging; den Wert von Kamerad­ schaft und einer die Generationen übergreifenden fruchtbaren Bezie­ hung zu Lehrern; daß jeder neue Tag zu genießen und zu nutzen ist, das war vielleicht die eindringlichste Lehre von allen, in einer Latein-Sternstunde fürs Leben und den Beruf „kapiert": „Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi finem di dederint, Leu- conoe ... carpe diem quam minimum credula postero." „Du frage nicht - zu wissen wäre Fre­ vel -, was mir, was dir als Ziel die Göt­ ter gesetzt, Leukonoe ... Greif diesen Tag, nimmer traue dem nächsten!" (Übersetzung von Bernhard Krytzler). Kennst Du diese Horaz-Ode, und sagt sie Dir auch etwas? In Liebe, Deine Kat 71 Schule heute Probleme - Konzepte - Meinungen Die Kinder des Wirtschaftswunders: Abiturientinnen 1961 im Hof des Lessing- Gymnasiums 72 73 „Namentliches" Über die Umbenennung des Fichte-Gymnasiums in Hedwig-Kettler-Gymnasium Festhalten an Vertrautem oder Aufbruch zu neuen Ufern? Johann Gottlieb Fichte - Hedwig Johanna Kettler In den ersten drei Monaten des Jubiläumsjahrs wurde am Fichte-Gymnasium und weit darüber hinaus in der mit der Schule verbundenen Öffentlichkeit der Vorschlag diskutiert, die Schule in Hedwig-Kettler-Gymnasium umzubenennen. Damit hätten die Verdienste der Gründerin und Vorsitzenden des Vereins Frau­ enbildungsreform gewürdigt werden können, der im Jahre 1893 das erste deutsche Mädchen-Gymnasium in Karlsruhe eröffnete. Hedwig Kettler ist die herausragende der „tapferen Frauen, die mit bewundernswerter Hingabe, Tat­ kraft, Zähigkeit sich für die Sache einsetzten, gegen eine Welt von Gleichgültig­ keit, Vorurtheilen und anderen Widerständen". (S. Reichenberger, Das Karlsruher Mädchengymnasium, 1918, S. 7). Hedwig (Johanna) Kettler lebte von 1851-1937. Dreißig Jahre stritt sie für die Zulassung von Frauen an die Universitäten - was die Einrichtung von Vollgym­ nasien für Mädchen voraussetzte. In Artikeln, Vorträgen und mit Petitionen an die Unterrichtsministerien und Landtage forderte sie die gleiche Schulbildung für die Töchter, die auch den Söhnen gewährt wurde. Ihre Forderungen wurden als radikal und utopisch abgetan und erbittert bekämpft. Der Vorschlag von 1933, eine der beiden Schulen nach ihr zu benennen, die ihre Existenz der schließlich erfolgreichen Überzeugungsarbeit Hedwig Kettlers ver­ danken, da sie aus dem 1893 gegründeten Mädchen-Gymnasium hervorgingen, wurde ähnlich erbittert abgelehnt. Im Lehrerkollegium, in der Schülerschaft und bei den ehemaligen Schülerinnen, Lehrern und Lehrerinnen des „Fichte" fanden sich zwar durchaus viele Fürsprecher und Fürsprecherinnen für eine Würdigung Hedwig Kettlers und eine kritische Auseinandersetzung mit dem bisherigen Na­ menspatron Johann Gottlieb Fichte, aber in der Mehrzahl überwogen das Ein­ treten für die Tradition und das Bedürfnis, am Vertrauten festzuhalten. Paradoxerweise war das meistgehörte Argument gegen die Umbenennung, daß man von „dieser Dame" ja noch nie gehört habe. Daß gerade darin ein Versäumnis der von dem Einsatz Hedwig Kettlers Profitie­ renden sichtbar wird, wurde nicht erkannt. Nach vielen Diskussionen in allen Schulgremien wurde der Antrag auf Umbe­ nennung mit knappster Mehrheit vom Lehrerkollegium abgelehnt und danach fallengelassen. Die folgenden Beiträge zeigen, welch starken Widerhall der Antrag auf Umbe­ nennung in der Schule hatte: Das Gedicht von Margarete Kraft ist als Stoßseufzer der den Antrag stellenden Schulleiterin zu lesen. Die beiden Texte von Sarah Bonzanin und Jasmin Hellmann sind frei gewählte Argumentationsübungen als Einübung in den sogenannten Erörterungsaufsatz einer 9. Klasse. Mario Hoff schrieb seinen Text spontan vor der Diskussion in der Schulkonferenz, dessen Mitglied er ist. Bei einer Performance zur Schulgeschichte wurde der Text sze­ nisch aufgeführt (neben anderen Szenen zum Thema Fichte oder Kettler). 74 Pro Contra Viele werden sich fragen, warum man unsere Schule nicht gleich nach ihrer Begründerin genannt hatte. Hedwig Kettler hätte eine solche Ehrung unbe­ streitbar verdient, und zwar noch zu Lebzeiten! Doch gewählt wurde der Name Fichtes, denn Fichte war ein großer Philosoph und ziemlich be­ kannt. Die Benennung des Gymnasi­ ums nach Fichte war wohl in erster Linie Folge der damaligen Zeitströ­ mung, Gymnasien nach „geistigen Größen" zu taufen. Aber sind wir doch ehrlich, wer von uns kennt denn heute noch Fichte? - die allerwenigsten. Und was er gesagt hat, weiß so gut wie niemand und in­ teressiert auch keinen. Wer weiß im übrigen auch, daß Fichtes Thesen so ganz und gar nicht „frauenbildungs- freundlich" waren? Wollte man gar die Schule schon in ihren Anfängen sabotieren, als man sie nach ihm benannte? Es scheint so überhaupt nicht zusammengehen zu wollen, ein Mädchen-Gymnasium nach einem „Frauenfeind" zu benen­ nen. Ebenso käme man schließlich heute auch kaum auf die Idee, eine Jungenschule (sofern es noch eine solche gäbe) nach einer Voll-Emanze zu benennen - oder kennt jemand ein Jungen-Gymnasium, benannt nach Alice Schwarzer? Der Name Hedwig Kettlers ist heute noch viel zu unbeachtet, und ihr Ver­ dienst um das erste Mädchen-Gym­ nasium fast vergessen. Anläßlich des Jubiläums wäre nun der Zeitpunkt ge­ kommen, sie ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit zu rücken. So wäre eine Umbenennung im Sinne ei­ nes Gedenkens an diese Frau mehr als nur angebracht; es bedeutete eine Würdigung ihrer Leistung. Ganz richtig: Namen sind sehr wichtig. Sie zeichnen aus, heben hervor, verleihen allem offensichtlich Bedeutung, Rang - auch Schmuck und Flor. Der Höh'ren Mädchenschule fehlte ein Name 1911; und, männlich ernst, der Stadtrat wählte Persönlichkeit - kein Notbehelf. Gewählt ward Johann Gottlieb Fichte: Mann, Philosoph, deutschnational, ein unbestreitbar Geistgewichte. Bezug zur Schule? Nicht der Fall. Nicht Fichte, Hedwig Kettler schaffte, Gymnasien Mädchen aufzutun! (Hieß es doch noch, die Frau verkrafte, Gelehrtheit nicht. Als dummes Huhn?) Mit Scharfsinn, Witz und Macht der Rede, begeisternd, rastlos - ja, auch stur, erstritt sie, trotzend jeder Fehde, für Mädchen auch das Abitur. Hedwig Kettler hat damals eine reine Mädchenschule gegründet. Nur Mäd­ chen - einsam und verlassen! Heute haben wir dagegen eine ganz andere Situation: Mädchen leben und lernen mit Jungen zusammen, und das sehr gerne. Daran hatte zu Hedwig Kettlers Zeiten noch niemand gedacht, und auch sonst hat sich bis heute einiges im Gymnasium geändert; alles ohne Hedwig Kettler, dafür unter dem Na­ men „Fichte". Will man sich heute für die Emanzipa­ tion einsetzen, ist es doch nicht wich­ tig, welcher Name dafür stehen soll! Andere Kriterien sollten eine viel grö­ ßere Rolle spielen. Selbst der Name „Fichte-Gymnasium" läßt nicht zwin­ gend an Fichtes Position Frauen ge­ genüber denken. Aber - wie vertraut klingt er in den Ohren eines Fichte- Schülers! Wie viele Jahre würde es dagegen dauern, bis der Name Hed­ wig-Kettler-Gymnasium für uns die gleiche Vertrautheit besäße? Tausende von Schülern hat das „Fichte" schon aufgenommen und wieder in die Freiheit entlassen, mit der Erinnnerung, neun Jahre lang (manchmal auch etwas länger) im „Fichte" gelebt zu haben. Die Schüler und Schülerinnen haben sich mit „ihrer" Schule und ihrem Namen iden­ tifiziert. Wie viele Gefühle stecken hin­ ter dem Kürzel „Fichte"! Unwissenheit wird einem entgegen­ schlagen, wenn man sagen muß: „Ich bin auf dem HKG". Bleiben wir doch lieber bei „Fichte". Das ist jetzt 100 Jahre her. Die Schule stolz nach IHR zu nennen, Respekt und Dankbarkeit zu kennen? War' dies wirklich so verquer? 75 Ein Kneipengespräch Erste Szene Verrauchte Kneipe zu später Stunde. Die meisten Tische sind leer. Eine Be­ dienung geht zwischen den Tischen herum, wischt ab und trägt Gläser hin und her. Man hört Gemurmel, ab und zu Geschirrklappern. An einem Tisch im Vordergrund sitzen das Alp­ träumende Ich und seine beiden neuen Freunde. Neuer Freund: Sag mal, was machst du denn so, wenn du nicht in Kneipen rumsitzt? Alpträumendes Ich: Ich geh' noch auf die Schule, aber nur noch zwei Jahre - hoffe ich zumindest! Neuer Freund (desinteressiert): So, auf welche denn? Alpträumendes Ich: Auf's Kettler-Gym­ nasium. Neue Freundin: Auf's waaas?? Alpträumendes Ich: Auf's HKG; Kett­ ler-Gymnasium eben. Neue Freundin: Wo ist denn das? Hier in Karlsruhe doch nicht, oder? Neuer Freund: Das ist bestimmt so eine exotische Berufsausbildungsförderungs- pflegeallgemeinfachhochschule! Alpträumendes Ich: Nein, das ist ein ganz gewöhnliches neusprachlich-na­ turwissenschaftliches Gymnasium. Neue Freundin: Ja, wo ist denn das nun? Ist das neu, ich kenn' das noch gar nicht? Alpträumendes Ich: Nein, das ist schon ziemlich alt, wir hatten erst hundertjähriges Jubiläum. Das ist in der Sophienstraße, fast Ecke Karl­ straße. Neue Freundin: Da beim Fichte oder wo? Alpträumendes Ich: Nein, das ist doch das Fichte, ich meine, das ehemalige Fichte. Das hab ... Neue Freundin (unterbricht sie): Na, sag's doch gleich! Das Fichte kennt man doch. Ach, apropos kennen: Kennst du den ... Alpträumendes Ich (unterbricht sie ebenso): Das ist es doch eben: Das Kettler ist das ehemalige, also das, was früher einmal das Fichte war. Wir haben es umbenannt, wei... Neuer Freund: Das Sponsoring macht neuerdings vor gar nichts mehr halt. Was habt ihr denn von dem Fahrrad- Fritzen dafür bekommen, oder kriegt ihr gar regelmäßig was, sag? Alpträumendes Ich: Das hat doch gar nichts mit dem Kettler zu tun. Neuer Freund: Das sagen sie alle! Alpträumendes Ich: Nein, wirklich, wir kriegen nichts! Wir haben es umbe­ nannt, weil der Fichte, der Johann Gottlieb, dieser... dieser Aufklärungs­ onkel eben so merkwürdige Ansichten über Frauen und deren Erziehung hatte. Und schließlich war das Fich ... äh, das frühere Fichte, also das heutige Kettler, einmal eine Mädchenschule. Neue Freundin: Und dieser Kettler, hat der darüber weniger Merkwürdiges gedacht, oder wie? Und wer war der denn überhaupt, den kennt ja kein Mensch. Neuer Freund: Natürlich kennt man den, hättest halt in Physik besser auf­ passen müssen! Das ist doch der mit dem Kettlerschen Lehrsatz, das mit den Planetenbewegungen. Alpträumendes Ich: Neiiiinü! Das ist der Keplersche Lehrsatz! Der hat mit unserer Kettler, - mit Doppel-t! - rein gar nichts zu tun. Und außer­ dem ist die kein der, sondern eine die, eine Hedwig. Merkt ihr endlich was? Mädchen- Gymnasium! Das erste in ganz Deutschland - nur so nebenbei - sollte halt einen Frauennamen krie­ gen. Neuer Freund: Und warum habt ihr eure Schule dann nicht Liesl-Wurzel- bürste-Gymnasium genannt? Neue Freundin: Ja eben, wer war denn diese Kettler? Alpträumendes Ich: Das war eine Frauenrechtlerin im neunzeh ... Neuer Freund (unterbrechend): Oder Alice-Schwarzer-Gymnasium? Alpträumendes Ich: Aaaaaargh! (springt auf, stampft, gebärdet sich wie toll und stürzt aus dem Raum.) Bedienung (schreit mit erhobener Faust hinterher): Heee! Sie haben gar nicht bezahlt, Sie Saukerl, Sie patriar­ chalisches Schwein, Sie ... (wird leiser. Licht aus.) Zweite Szene Das Alpträumende Ich baumelt er­ hängt an der Decke. Literaturkritiker: Und der Abschlußmo­ nolog? Wo bleibt der Abschlußmono­ log? Die Leiche dreht sich langsam: Sie hat ein Pappschild umhängen, worauf steht: „Schüler des Hedwig-Kettler-Gymna­ siums". 76 Ein Diskussionsbeitrag zur Koedukation „Die Zukunft ist weiblich, oder es gibt sie nicht" (Margarete Mitscherlich)1 In den letzten Jahren geriet die Koedukation wieder in die öffentliche Diskussion. Welche Möglichkeiten bietet sie für die Chancengleichheit der Geschlechter, welche Begrenztheiten gehen mit ihr einher? Auf diese Fragen und die, welchen Beitrag die Koedukation für die Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme bietet, gibt Ingrid Rumpf, Lehrerin für das Fach Ethik am Fichte-Gymnasium, eine mögliche Antwort. In den 70er Jahren wurden fast überall in der Bundesrepublik die letzten nicht-koedukativen Gymnasien für das jeweils andere Geschlecht ge­ öffnet. Die Schnelligkeit, mit der da­ mals gehandelt wurde, sowie das fast völlige Ausbleiben einer Diskus­ sion zeigten, daß die Koedukation dem gesellschaftlichen Konsens ent­ sprach. In der schulpolitischen Praxis spielten zwar auch Gesichtspunkte der interschulischen Konkurrenz und des Modernitätsimages eine Rolle, sie ließen sich jedoch nahtlos mit dem Gleichberechtigungsgedanken verbinden. Auch in Karlsruhe wurden alle öffentlichen Gymnasien koeduka- tiv, so das Lessing- und das Fichte- Gymnasium. 20 Jahre Koedukation an zwei ehemaligen Mädchen-Gym­ nasien, die mit dieser Festschrift eine 100 Jahre alte Tradition feiern, laden ein zu der Frage, ob wir denn nun „gut gefahren" sind mit der gemeinsa­ men Unterrichtung und Erziehung von Jungen und Mädchen und vor allem, ob dem Ziel der Ermöglichung gleicher Berufs- und Entfaltungschancen so am besten gedient war. Mit dieser Frage schalten wir uns ein in die seit einigen Jahren neu entflammte Diskussion über die Grenzen der Ko­ edukation zur Erreichung der Chan­ cengleichheit. Stellvertretend für die vielen Bücher zu diesem Thema und die Aufsätze in Fachzeitschriften und großen überregionalen Zeitungen sei hier nur das Buch von Franziska Stal- mann genannt: „Die Schule macht die Mädchen dumm"2, gemeint ist natür­ lich die koedukative Schule. Das Buch ist nicht unumstritten; die Neue Zür­ cher Zeitung meint in ihrer Ausgabe vom 17. März 1992 gar, es sei eine wenig kritische Zusammenschau von Forschungsergebnissen und Mei­ nungen". Es ist jedoch engagiert ge­ schrieben und gibt einen guten Über­ blick über die Argumente gegen die Koedukation. Vielleicht ist es gerade wegen einer gewissen Angreifbarkeit in den Belegen und wegen der häufig überspitzten Aussagen eine ganz an­ regende Diskussionsgrundlage. Franziska Stalmann behauptet, daß die Mädchen in der koedukativen Schule nicht die gleichen Entfaltungs­ möglichkeiten hätten und nicht in glei­ cher Weise gefördert werden könnten wie die Jungen, ja daß sogar ihr Selbstbewußtsein - und damit die späteren Chancen, sich im Karriere- Wettkampf durchzusetzen - durch die gemeinsame Unterrichtung mit den Jungen geschwächt würde. Als Gründe dafür nennt sie im wesentli­ chen folgende: Besonders in den Naturwissenschaf­ ten und der Mathematik leisten die Mädchen weniger und können sich mit ihren eventuell anderen Fragestel- 55 In Erdkunde werden die Jungs bevor­ zugt, und kein Mädchen traut sich, sich mehr zu melden, weil die Jungs, falls man etwas Falsches sagt, lachen. Oder wenn wir Mathe haben und an die Tafel müssen und etwas falsch ma­ chen, machen die Jungs immer „ööööhhhh". Im Gegenteil also, wenn die Jungs etwas falsch machen, la­ chen wir meistens nicht. CC lungen nicht behaupten, weil die Rol­ lenerwartungen der Gesellschaft hier eine Minderbegabung unterstellen. Die Mädchen passen sich - um bei Lehrern und bei den Jungen nicht un­ angenehm aufzufallen - diesem Er­ wartungsdruck an und nehmen sich selbst zurück. Auch außerhalb des naturwissen­ schaftlich-mathematischen Bereiches haben sie weniger Chancen. Lehrerin­ nen und Lehrer schenken den Jungen erheblich mehr Aufmerksamkeit und Einzelzuwendung, meist unbewußt, aber auch bewußt aus Gründen der Aufrechterhaltung der Ruhe und Diszi­ plin im Unterricht. Die Mädchen wer­ den oft geradezu als Disziplinierungs- mittel gegen die Jungen ausgespielt. 77 Der Sexismus der Jungen und ihre Aggressivität schüchtern die Mäd­ chen ein und hindern sie, ihre Lei­ stungsfähigkeit voll zu entfalten. Unsere koedukativen Schulen sind Jungenschulen, ausgerichtet auf die Erfordernisse der männlich dominier­ ten Wirtschaftswelt, in denen nun auch Mädchen sitzen dürfen und Er­ folg haben können, wenn sie sich an­ passen; ihre Erfolgsaussichten sind je­ doch wesentlich geringer. Franziska Stalmann ist nun keinesfalls der Ansicht, daß auf die Koedukation für alle Zeiten verzichtet werden sollte. Unsere Gesellschaft sei noch nicht reif für die Koedukation, denn diese sei die Krönung des Weges zur Gleichbe­ rechtigung, nicht aber das Mittel, sie zu erreichen. Soweit die Stimme einer engagierten Feministin. Im Zusammenhang dieses Aufsatzes möchte ich die Frage nach dem Ziel stellen, das uns gesamtgesellschaft­ lich vorschwebt, wenn wir die etwas überstrapazierten und unscharfen Be­ griffe Gleichberechtigung und Emanzi­ pation verwenden. Ich bin der Meinung, daß Emanzipati­ on und Gleichberechtigung kein Selbstzweck sein dürfen. Was haben wir Frauen denn erreicht, wenn wir endlich überall da in gleicher Anzahl stehen, wo heute die Männer immer noch fast allein die Bühne beherr­ schen, und wenn sie statt unser in nennenswerter Zahl auch mal das Baby wickeln, den Staubsauger unter Betten und Schränke gleiten lassen und die pflegebedürftige Großmutter zum Nachtstuhl führen? Das Ziel der Bemühungen um den gleichberech­ tigten Zugang zu (fast) allen Berufen und zu öffentlichem Einfluß sollte eine Humanisierung der Gesellschaft und eine Ermöglichung von Zukunft sein. Ich denke dabei daran, daß Frauen mit zunehmendem Eindringen in die bekannten männlich dominierten Be­ reiche eine Ethik der Verantwortung und des Wissens um die Verletzlich­ keit des Lebens und der Würde des Menschen einfordern könnten. Nachdem der Sozialismus als kritische Alternative ausgefallen ist, brauchen wir neue, ideologisch nicht fixierte Räume gesellschaftlichen Bewußt­ seins, von denen aus unüberhörbare Fragen an rein zweckrationales und menschenverachtendes oder Lebens­ räume zerstörendes Denken und Han­ deln gerichtet werden. Die hier so allgemein formulierten Ziele „Humanisierung der Gesellschaft" und „Ermöglichung von Zukunft" werden keinen Widerspruch finden. Was das jedoch in der Praxis bedeutet, muß von Fall zu Fall durchbuchstabiert wer­ den, um die verborgene - und kon­ krete Veränderungen herausfordern­ de - Problematik zu offenbaren. Das Gemeinte sei im folgenden kurz an einem Beispiel aus dem Schulbe­ reich verdeutlicht: Was wird in der Verkehrserziehung der Schulen und in den öffentlich konzes­ sionierten Fahrschulen gelehrt? Ver­ kehrsgerechtes Verhalten, Beherr­ schung von Spontaneität zugunsten des reibungslosen Verkehrsablaufs, Regeln und noch einmal Regeln, Feh­ lerausschaltung, Beherrschung des Apparates, optimale Nutzung der Ma­ schine. Der Mensch hat sich dem Auto anzupassen, denn schließlich ist seine Herstellung ein tragender Faktor unse­ res Wirtschaftslebens. Eine humane Orientierung dieses Lebensbereiches und eine Ermöglichung von Zukunft würden zusätzlich ganz andere Lern­ prozesse erfordern: Aktivierung von Phantasie für die Befindlichkeit ande­ rer, Sensibilisierung für kleinste Reak­ tionen, Ergründung und Beherr­ schung des eigenen triebhaften Dranges zum Rasen und Überholen, Einüben von Unrechtsbewußtsein nicht nur im Pflicht- und Regelverlet­ zungsbereich, sondern im Bereich menschlicher und ökologischer Ver­ letzlichkeit, Mitleidensfähigkeit mit potentiellen Opfern: Querschnitts­ gelähmten, Angehörigen von Ver­ unglückten, neurodermitiskranken Kindern. Einiges geschieht schon, an­ geregt vor allem durch Gruppen, in denen Frauen überrepräsentiert sind. Wann dringt dieses Denken endlich in die Schulen und Fahrschulen ein? Wenn also darum gestritten wird, ob die Koedukation sinnvoll ist oder nicht, sollten gesamtgesellschaftliche Anliegen im Vordergrund stehen. Nicht den „Einstieg" der Frauen in die „Männerwelt" zu optimieren, sollte das Ziel sein, sondern die Eroberung männlich dominierter Bereiche für eine andere Ethik. Es könnte sein, daß diese neue Ethik - aus welchen Gründen auch immer - dieser Frage wenden wir uns im folgenden Absatz zu - den Frauen gemäßer ist als den Männern. Dabei soll es nicht bleiben. Eine Trennung in verschiedene Denk­ weisen, die sich gegenseitig süffisant abqualifizieren und in der Praxis aus­ tricksen, darf es nicht geben. Nicht nur Mädchen, die es dabei eventuell leich­ ter haben, müssen diese neue Sensi­ bilität zum Beispiel im Verkehrsverhal­ ten entwickeln, auch und gerade die Jungen sollen das einüben; nicht nur die Jungen, denen das eventuell leich­ ter fällt, sollen ihre guten Anliegen zweckrational durchzusetzen versu­ chen, auch und gerade die Mädchen sollen das einüben. In diesem Sinne würde ich für eine gewisse Zurückhal­ tung beim Gebrauch des Begriffs „Emanzipation" plädieren. Nicht auf getrennten Wegen, sondern nur in der Kooperation und in der Akzep­ tanz des anderen kommen wir dem oben genannten Ziel näher. Dürfen wir das nun sagen, daß ge­ wisse Denk- und Verhaltensweisen eher weiblich oder eher männlich sind? Hat Margarete Mitscherlich mit ihrem Diktum recht: „Die Zukunft ist weiblich, oder es gibt sie nicht?" Was ist das, „männlich" und „weiblich"? Wenn die Unterschiede zwischen Frau und Mann vor allem biologisch, also naturgegeben sind, dann läßt sich dar- 78 Früher Haushalt - heute Karriere. Eine Schülerin zeichnet ihre Idealvorstellung von Frauenverwirklichung im Berufsleben aus ein Rollendeterminismus im gesellschaftlichen Leben ableiten. Die­ ses Erklärungsmuster hat jahrtausen­ delang funktioniert und beträchtliche Ungerechtigkeiten produziert. Sein an­ thropologischer Determinismus ist in­ zwischen überholt, die objektiven Fak­ ten bleiben und mit ihnen die Versuchung, sich - uneingestanden - immer wieder daran zu orientieren. Selbst die modernste Forschung - auch die von Frauen - knüpft immer wieder daran an, wenn man Pressebe­ richten über erstaunliche Ergebnisse der vergleichenden Gehirnanatomie Glauben schenken darf.3 Es gibt jedoch auch Positionen am anderen Extrem der Erklärungspa­ lette: Dort wo man meint, die Unter­ schiede allein mit der Anpassung der Jungen und Mädchen an die Rollener­ wartungen der Gesellschaft erklären zu können. Da die Rollenaufteilung zurückgeführt werden muß auf die hi­ storische Dominanz der Männer und natürlich deren Interessenlage ent­ spricht, kann „frau" nur fordern, daß sie so schnell wie möglich aufgeho­ ben wird. Der zählebige Unterschied zwischen den Geschlechtern ist also das Produkt einer falschen Wahrneh­ mung, eines Rollenzwanges, und gilt im Prinzip als aufhebbar. Die Qualität einer Schulform - koedukativ oder nicht - entscheidet sich vor allem an ihrer Fähigkeit, den Druck der Rollen­ erwartungen der Gesellschaft auf die Mädchen zu minimieren. Eine gewisse Inkonsequenz liegt dann allerdings darin, daß gerade die vehe­ mentesten Verfechterinnen dieser Theorie - allen voran Margarete Mit- scherlich - gleichzeitig meinen, am weiblichen Wesen solle die Welt gene­ sen. Das könnte doch nur sein, wenn das weibliche Wesen grundsätzlich und unaufhebbar anders wäre. Ratlos zwischen den Lagern stehend kann es für den ideologisch noch nicht festgelegten Zeitgenossen interessant sein, das Buch der amerikanischen Psychologin Carol Gilligan „Die ande­ re Stimme"4 zu lesen. Es bietet zu­ nächst auch eine Erklärung für die unterschiedliche Wesensart von Mäd­ chen und Jungen, Männern und Frau­ en. Die Ursache soll im Raum der fa­ miliären, sehr frühen Identifikations- 79 Ich möchte kein Mädchen sein, weil man schöne Kleider anziehen muß und in der Schule beim Sport immer den Softball bekommt. Als Junge hat man mehr Freiraum; man kann auf Bäume klettern, darf sich schlampig anziehen und wird von der Mutter ge­ wöhnlich in Ruhe gelassen. Rüben, 5c a und Lösungsprozesse liegen, einfa­ cher gesagt, im Unterschied zwi­ schen Mutter-Tochter- und Mutter- Sohn-Verhältnis. (Eine Untersuchung darüber, ob die Ausprägung der so verursachten Wesensart bei von Vä­ tern erzogenen Kindern genau umge­ kehrt ist, habe ich nicht gefunden.) Mir erscheint diese Erklärung - falls mono­ kausal verstanden - auch nicht viel einleuchtender als alle anderen,vor al­ lem aber nicht ausreichend. Im Lesen von Carol Gilligans Buch wirkt auf je­ den Fall die Fülle des Erkundeten und dem Menschen mit großer Sensibilität Abgelauschten überzeugender als ihre monokausale Erklärung, die dann auch noch ängstlich abgesichert wird durch die Versicherung, natürlich wolle man nicht das alte Lied der naturgege­ benen Unterschiede nach einer neuen Melodie singen. Vor der Wiedergabe der wichtigsten Thesen von Carol Gilligans Buch muß hier noch ein kleiner Hintertreppenwitz der Forschungsgeschichte erzählt werden: Der bekannte amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg, des­ sen zeitweilige Mitarbeiterin Carol Gil- ligan war, hat sich vor allem mit dem Reifungsprozeß Jugendlicher befaßt und diesen als einen stufenweisen Prozeß des zunehmend reiferen mora­ lischen Urteils dargestellt. Seine Er­ gebnisse wurden in der Fachwelt weit­ gehend akzeptiert. Carol Gilligan entdeckte, daß ihr verehrter Lehrer - bewußt oder unbewußt - „geschum­ melt" hatte: Er hatte nämlich aus­ schließlich männliche Jugendliche un­ tersucht und das Ergebnis dann allgemein auf „Jugendliche" bezogen. Keiner merkte etwas. „Typisch", kann „frau" da nur sagen. Nun zu Carol Gilligans eigenen Unter­ suchungen. Sie erscheinen mir des­ halb so bemerkenswert, weil sie die Wesensunterschiede, um die es hier geht, auf einem bei uns wenig disku­ tierten Gebiet, dem des moralischen Urteils, erforschen. Es erscheint mir wichtiger als die „Leistungsfähigkeit" auf den verschiedensten Gebieten, von der üblicherweise bei dieser Kon­ troverse die Rede ist. Wenn Carol Gilligan den Reifungspro­ zeß männlicher Jugendlicher unter­ sucht, bestätigen sich im wesentli­ chen die Ergebnisse von Lawrence Kohlberg: Es ist ein Prozeß der stufen­ weisen Trennung oder Individuation, des stufenweisen Gewinns von Auto­ nomie der Persönlichkeit. Identifikati­ on mit und dann Trennung von der Mutter, Identifikation mit und dann wieder kritische Distanz zu außerfami­ liären Personen, Gruppen oder gesell­ schaftlichen Institutionen lösen einan­ der in einem fünfstufigen Prozeß ab. Im positiven Fall steht am Ende eine Persönlichkeit, die moralische Impera­ tive kritisch überprüft und sie in eine sinnvolle Beziehung zu den eigenen Lebenszielen und den Normen der Gesellschaft zu setzen gelernt hat. Da­ bei sind abstrakte - das heißt von der konkret-individuellen Situation und ih­ rem komplizierten Beziehungsgeflecht abstrahierende - Werte, Prinzipien oder Ideen, zum Beispiel Gerechtig­ keit oder Menschenwürde, Pflicht oder Gemeinwohl, die wichtigsten Orientierungspunkte. Bei Lawrence Kohlberg galt ein Abweichen von die­ sem Modell in einem für die jeweilige Stufe vorgesehenen Alter als Mangel an Reife. Angewandt auf weibliche Ju­ gendliche wurde dann von den Wis­ senschaftlern, die Kohlbergs Modell folgten, immer wieder Mangel an Rei­ fe konstatiert. Carol Gilligan war nicht bereit, diese Diagnose zu akzeptieren und ging der Sache auf den Grund. In umfangreichen eigenen Untersu­ chungsreihen bringt Carol Gilligan nun die „Stimme" der Mädchen und jungen Frauen zu Gehör. Sie zeigt, daß bei ihnen ein Reifungsprozeß ganz anderer Art stattfindet: Das Mäd­ chen verbleibt in der Identifikation mit der Mutter (eventuell generell mit dem erziehenden Elternteil oder der Be­ zugsperson) und nimmt das Leben als Bindung, als Geflecht von Bezie­ hungen wahr. In ihnen sich zuneh- Jungs sind rauh! Laufend müssen sie ihre Kräfte messen, können nie verlie­ ren oder auch mal nur nachgeben, und am Haushalt fühlen sie sich auch nicht beteiligt. Das müssen immer die Mädchen machen. Wir Mädchen wer­ den oft unterschätzt, vielleicht weil wir lieber mit Puppen spielen als uns rau­ fen. Als Mädchen kann ich viele Freun­ dinnen haben, und auch mit Mama läßt es sich besser reden. Katharina, 5c a mend bewußter zu orientieren, bedeu­ tet für das Mädchen Reifung. Den Ort des eigenen Ichs in diesen Bindungen zu entdecken und Raum zu fordern für die eigenen Ansprüche gegen die An­ sprüche der anderen, ist die erste Stu­ fe. Da jedoch die Bindungen keinen Schaden nehmen dürften, führt das in Stufen, die meist durch schwere Beziehungskonflikte oder Lebenskri­ sen markiert sind, zur Entdeckung der Berechtigung der Ansprüche der anderen. Die Fähigkeit zur Identifikati­ on mit dem Mitmenschen (nicht mit Institutionen) ist bleibender Bestand­ teil dieses Reifungsprozesses des Mädchens, nicht nur Durchgangsstu­ fe zu einer neuen Ablösungsfähigkeit. Diese Identifikation geschieht zuneh­ mend weniger naiv, wird zu einer Fä­ higkeit, das eigene Ich und die ande­ ren in ihren realen Bindungen in ihrer personalen Eingebundenheit, die hier 80 erst personale Ganzheit wird - wahr­ zunehmen. Aus dieser reifen Wahr­ nehmungsfähigkeit wächst der morali­ sche Wert der Verantwortung, die sich sowohl auf die Intaktheit des Bezie­ hungsgeflechtes, in dem jeder lebt, als auch auf das Lebensglück und die Würde des anderen Menschen be­ zieht. Daraus erwächst weiterhin eine Ethik der Vermeidung von Destruktion, des Mitleidens und der Orientierung an der realen, unentwirrbar komplexen Situation. Eine Orientierung an klaren Rechten und abstrakten Prinzipien in Konflikten wird dadurch sehr er­ schwert. Wir entdecken hier also ein anderes Verständnis von Reife. Das Kohl- berg'sche Schema stimmte so ein­ leuchtend mit unserer an der Auf­ klärung und an Kant geschulten Auffassung von Mündigkeit überein, daß es dem Gebildeten schwerfällt um­ zulernen. Das unscharfe, aber reali­ tätsgerechte, seiner Verantwortung bewußte und Verletzlichkeit bedenken­ de Urteil eines Mädchens, einer Frau, ist vielleicht ein größerer Ausweis von Reife als die Fähigkeit eines Jungen, eines Mannes, juristisch eindeutig zu sagen, „wie die Dinge liegen". Nun geschieht nicht alles, was bei Jun­ gen und Mädchen anders läuft, auf die­ sem hohen ethischen Niveau. Lassen wir uns ruhig einen kurzen Blick in die scheußlichen Niederungen gefallen, in denen sich einige Bereiche der Ju­ gendkultur abspielen: Wer sitzt denn in so großer Zahl vor den Horrorvideos und verbringt seine Zeit mit unsäglich aggressiven „War-Games" und „Nazi- Games"? Auf einer Tagung der Evan­ gelischen Akademie Arnoldheim zu diesem Thema5, an der ich kürzlich teil­ nahm, stellten die anwesenden Fach­ leute übereinstimmend fest, daß das auf dieser Tagung behandelte Pro­ blem praktisch ausschließlich ein Pro­ blem männlicher Jugendlicher sei. In der rechten Randale-Szene fehlen die Mädchen zwar nicht ganz, aber wer bestreitet, daß sie dort unterrepräsen­ tiert sind, der ist mit Blindheit geschla­ gen. Die Mädchen können wohl kaum einen größeren Beweis von Reife brin­ gen als den, daß sie sich von solchen Unternehmungen fernhalten (selbst wenn sie zu den Sympathisanten zäh­ len). Auf Demonstrationen gegen Aus­ länderhaß sind Mädchen und Frauen auf jeden Fall nicht so deutlich unter­ repräsentiert. „Die Zukunft ist weiblich, oder es gibt sie nicht", ganz falsch kann das wohl nicht sein. Nun können wir uns zum Schluß der Frage zuwenden, was das für unser am Anfang gestelltes Problem bedeu­ tet. Es steht völlig außer Zweifel, daß von den beiden Arten des moralischen Ur- teilens und der Konfliktlösung diejeni­ ge, die eher den Männern eigen ist, in unserer Gesellschaft in erdrückender Weise dominiert. Wenn man das vor­ her in diesem Aufsatz Dargelegte ak­ zeptiert, kann das nur heißen, daß die weibliche Art des Urteilens mit allen erdenklichen Mitteln zur Gleichbe­ rechtigung geführt werden muß. Das wird ein schweres Stück Arbeit sein. Unsere Schulen sollten sich diese Auf­ gabe bewußt machen und Strategien der Realisierung für Lehrpläne und Un­ terrichtsgeschehen entwickeln. Das erfordert Strukturreformen im gesam­ ten Bildungsbereich. Ein Kampf darum wäre auf jeden Fall stark vorbelastet durch die Erfahrungen der 70er Jah­ re. Da braucht es eine geduldige Über- zeugungs- und Experimentierarbeit, um etwas zu bewegen. Wir Lehrerinnen, Lehrer und Eltern soll­ ten uns mit großer Selbstdisziplin kon­ trollieren bei unserem erzieherischen Tun, damit wir nicht immer wieder Op­ fer der berühmten Rollenerwartungen werden und diesen Druck an unsere Mädchen weitergeben. Weiter sollten wir offen sein für Experimente. Warum nicht gelegentlich jahrgangsweise oder in einigen Fächern getrennter Un­ terricht? Das hilft außerdem, die Unter­ schiede, die Hemmungen und Ängste ans Tageslicht zu heben. Das ist ganz wichtig, denn nur so wird es uns gelin­ gen, die unterschiedliche Art der Mäd­ chen , sich auf den Unterrichtsstoff und auf Konfliktsituationen einzulassen, überhaupt erst bewußt zu machen. Diese Bewußtseinsbildung könnte dann die Voraussetzung dafür wer­ den, den Mädchen Mut zu ihren eige­ nen Fragestellungen zu machen. Wir Lehrerinnen und Lehrer müssen die Konfrontation beider Wesensarten kontrolliert zulassen, ja herausfordern und der weiblichen Weise zu urteilen den gebührenden Raum verschaffen. Wir müssen die andere Art des Urtei­ lens mit Mädchen und Jungen so lan­ ge einüben - denn das tun wir ja heute umgekehrt auch, zum Beispiel mit dem Einüben des „abstrakten Denkens" - bis auch „der letzte Macho" begriffen hat, was die Schule ihm hier zumutet. Dafür aber müssen beide, Mädchen und Jungen, in einem Gebäude und meist auch in einer Klasse unterrichtet und erzogen werden. Bleiben wir also bei der Koedukation und bemühen wir uns, sie als Heraus­ forderung zu begreifen und sie sinnvoll zu gestalten. Anmerkungen: ' Margarete Mitscherlich, Die Zukunft ist weiblich, Serie Piper 968, Verlag Piper, München 1990, S.54 2 Franziska Stalmann, Die Schule macht die Mädchen dumm, Serie Piper (Frau­ en) 1323, Verlag Piper, München 1991 3 Siegfried Schober, Sandra Witelson und Gloria Steinern, „Der große Unterschied", in: Stern, Nr. 20, 1992 4 Carol Gilligan, Die andere Stimme, Serie Piper (Frauen) 838, Verlag Piper, Mün­ chen 1988 b Tagung vom 25. bis 27. September 1992 der Evangelischen Akademie Arnold­ heim. Thema: „Die Lust am Grauen". 81 Äpfel mit Birnen Warum die koedukative Schule heute nicht Gleichheit bringt „Nein, keineswegs! Im Gegenteil: Mädchen bekommen eindeutig die besseren Noten, heimsen mehr Preise ein und bekommen weniger Einträge als Jungen. Nein, bei uns an der Schule/bei mir in der Klasse werden die Mädchen keines­ wegs benachteiligt." - Wer heute, nach zwanzig Jahren, die Segnungen der Koedukation auch nur leise anzweifelt und nach Benachteiligungen von Mäd­ chen in der Schule fragt, erhält oft energische Antworten von den Lehrkräften und Schulleitern der Gymnasien. Solche Behauptungen sind schwer zu widerlegen - weil sie stimmen. Dennoch zeigen solche Reaktionen auf sublime Weise das leise Unbehagen auf der Seite der Lehrenden, weil die Geschlechterrollen sich bis heute kaum verändert haben. Wie sieht nun die koedukative Wirklichkeit aus? Der prägnante Titel hat Leitfunktion: Warum eine gemeinsame Erziehung manchmal dem Vergleichen von Äpfeln mit Birnen ähnelt, das zeigt im folgenden Margarete Kraft. Sie eröffnet so eine Diskussion, die in den nachfolgenden Beiträgen jeweils aus unterschiedlicher Sicht ihre Fortsetzung findet. Knapp und eher auflistend als beschreibend und erklärend faßt Frau Kraft eigene Beob­ achtungen und Ergebnisse empirischer psychologischer Untersuchungen zu­ sammen. Ihre Erfahrungen stammen aus erster Hand: Sie ist Leiterin des Fichte-Gymnasiums. Die Auswahl des Stoffes Immer noch orientieren sich Schulbü­ cher vorwiegend an der Männerwelt. Die Mathematikaufgaben präsentie­ ren Männer in interessanteren Beru­ fen und Situationen als Frauen; die Lesebücher enthalten überwiegend Texte aus der Sicht von Jungen oder Männern. Jungen lehnen Mädchen­ themen und -bücher ab, Mädchen protestieren im umgekehrten Fall nicht oder finden die Jungenthemen auch interessanter. Versagen in Prüfungssituationen Mädchen führen ihren Mißerfolg auf mangelnde Fähigkeiten zurück. Des­ halb erwarten sie auch in Zukunft schlechte Ergebnisse, und diese stel­ len sich auch ein. Sie vermeiden so­ weit möglich Situationen, wo sie ver­ sagen könnten. Jungen erklären ihre schlechte Note mit zu geringer Anstrengung. Ein Miß­ erfolg fordert sie heraus, es das näch­ ste Mal besser zu machen. Sie zeigen in der Folge öfter verbesserte Leistun­ gen. Ihr Selbstvertrauen bleibt intakt. Lehrer- und Lehrerinnenurteile Die Rückmeldung über Leistungen wird für Mädchen und Jungen unter­ schiedlich gegeben. Jungen werden schnell und häufig für ihr Verhalten getadelt. Ihr Betragen wird als schlechter eingeschätzt. Die Lehrer und Lehrerinnen halten Jun­ gen für weniger motiviert und für fau­ ler. Die negativen Rückmeldungen sind oft undifferenziert. Mädchen erhalten positivere Rück­ meldungen. Nach der Einschätzung der Lehrer und Lehrerinnen sind Mäd­ chen motiviert, sozial angepaßt, zuver­ lässig und fleißig. Werden sie negativ bewertet, so können Mädchen das nur auf ihre intellektuellen Leistungen und Fähigkeiten zurückführen. Jungen dagegen lernen, daß der Tadel sich nicht auf den intellektuellen Be­ reich, sondern auf das Verhalten be­ zieht. Sie erklären sich die oft diffuse negative Rückmeldung mit Sätzen wie: „Ich hab' nicht genug aufge­ paßt." oder: „Ich muß halt das näch­ ste Mal mehr lernen." oder auch: „Der/die mag mich nicht." Mädchen erhalten spezifischere Rück­ meldungen, die meist Informationen beinhalten wie: „Das war offenbar zu schwer für dich." oder „Schade, aber das liegt dir halt nicht." Also lernen Mädchen, daß negative Urteile durch ihre mangelnde Intelligenz bedingt sind. Lob gibt es für Jungen für Fähigkeiten und Kenntnisse; Mädchen werden für intellektuell irrelevante „Leistungen" gelobt, falsche Antworten werden oft nicht korrigiert. Je vager ein Lehrer oder eine Lehrerin Mädchen für eine Antwort lobt, um so eher interpretie­ ren diese das Lob als Nettigkeit der Lehrkraft. Folge: Die Selbsteinschätzung von Die Mädchen malen immer, und wenn sie gemahnt werden, malen sie weiter. Die Mädchen sagen in Erdkunde nie was, und wenn man sie dran nimmt, reden sie sich irgendwie raus, so daß ein Junge antworten muß. Die Mäd­ chen schreiben untereinander im Un­ terricht Briefe. Die Mädchen malen die Bänke voll. U 82 Mädchen und Jungen in Bezug auf Intelligenz und Fähigkeiten sind sehr verschieden. Mädchen trauen sich bei gleicher Leistung weniger zu; Jun­ gen haben mehr Selbstvertrauen und beziehen ihr Versagen nicht wie die Mädchen auch auf die Zukunft, son­ dern nur auf ihre augenblickliche Situation. Ein Lehrerwechsel kann ihnen verheißungsvoll erscheinen, ma­ chen sie doch oft den Lehrer für ihr Versagen verantwortlich. Wessen Urteil gilt? Mädchen und Jungen orientieren sich an unterschiedlichen Bezugsperso­ nen. Mädchen lernen die falsche Art, mit Mißerfolg umzugehen bei negati­ ver Kritik von Erwachsenen, Jungen bei der von Gleichaltrigen. Beide las­ sen sich dabei am meisten von gleich­ geschlechtlichen Personen beeinflus­ sen. Für die Jungen ist es deshalb schlimm, wenn gleichaltrige Jungen sie negativ bewerten, für Mädchen, wenn dies erwachsene Frauen (Leh­ rerinnen!) tun. Erwartungen und Haltungen Mädchen oder Jungen werden nicht generell bevorzugt oder benachteiligt. Ich finde die Koedukation gut. Mäd­ chen und Jungen lernen sich besser kennen. In Erdkunde jedoch kommen die Jungen öfter dran. In Latein habe ich einmal eine Strafarbeit bekommen, als ich das Heft vergessen habe. Als aber einmal ein Mädchen das Heft ver­ gaß, hieß es nur: „Zeig es morgen vor." a Deutlich wird allerdings, daß Lehrer und Lehrerinnen annehmen, daß Jun­ gen in naturwissenschaftlichen Fä­ chern, Mädchen in sprachlichen Fä­ chern bessere Leistungen zeigen. Dazu paßt, daß Jungen bei falschen Antworten in „ihren" Fächern mehr To­ leranz entgegengebracht wurde als Mädchen und umgekehrt. Mädchen werden also in den naturwissenschaft­ lichen, Jungen in den sprachlichen Fä­ chern schneller kritisiert. Dies gilt muta- tis mutandis für das Lob. Man kann deshalb vermuten, daß Jungen im na­ turwissenschaftlichen und Mädchen im sprachlichen Unterricht bevorzugt, beziehungsweise benachteiligt wer­ den. Die Unterschiede betreffen auch so beiläufige Lehrerhandlungen wie das Aufrufen. Obwohl sich Mädchen und Jungen ungefähr gleich oft melden, werden Jungen signifikant häufiger aufgerufen. In Einzel- und Gruppenar­ beit gehen Lehrer und Lehrerinnen häufiger auf Jungen zu, diese wieder­ um auch häufiger auf die Lehrkräfte. Dies gilt besonders für die sachkund­ lichen Fächer (Erdkunde, Geschichte, Biologie), am wenigsten für Deutsch. Grundsätzlich wird Jungen in der Schule deutlich mehr Aufmerksam­ keit gewidmet als Mädchen, auch „negative Aufmerksamkeit" in Form von Kritik für Verhalten. Fazit Die Ergebnisse von Untersuchungen und Beobachtungen zeigen, daß Leh­ rerinnen und Lehrer durchaus nicht Gleiches von den Mädchen und Jun­ gen erwarten, wobei Selbsteinschät­ zung und Verhalten im Unterricht oft nicht übereinstimmen. Besorgnis muß die Tatsache erwecken, daß Mädchen ihre intellektuelle Leistungs­ fähigkeit aus den obengenannten Gründen als geringer einschätzen, ja einschätzen müssen, was sich in den tatsächlich erbrachten Leistungen nie­ derschlägt. Es kann niemandes Inter­ esse sein, daß dieser Zustand perpe- tuiert wird. Sowohl das Verhalten als auch die Leistung von Mädchen und Jungen müssen nach den gleichen Kriterien beurteilt werden, positive und negative Rückmeldungen müs­ sen sich auf Gleiches beziehen. Die Lehrerinnen und Lehrer können dies aber nur dann leisten, wenn schon die Kinder, nicht erst die ja be­ reits sozialisierten Schülerinnen und Schüler ihrem persönlichen Entwick­ lungsstand entsprechend Raum zum Aufbau und zur Entfaltung der eige­ nen Persönlichkeit bekommen. In der Schule heute, die davon noch nicht ausgehen kann, müßten durchaus ge­ schlechtsspezifische Angebote ge­ macht werden können, die helfen, De­ fizite auszugleichen. Experimente mit zeitweilig getrenntem Unterricht oder die Einrichtung getrennter Kurse für Mädchen und Jungen in Naturwissen­ schaften und Fremdsprachen sind notwendig. Für Ausprobieren und Er­ fahrungsgewinn sollten auch Struktu­ ren geändert werden können. Vor allem aber darf man nicht von den Lehrerinnen und Lehrern erwarten, daß sie autodidaktisch und ohne kom­ petente Unterstützung eine echte Ko- Edukation, die ja differenzieren muß, statt der bisher praktizierten undiffe­ renzierten Ko-Instruktion verwirkli­ chen. Erkenntnisse der Entwicklungs­ psychologie, der Soziologie und der Erziehungswissenschaften müssen in Fortbildungsveranstaltungen allge­ mein bekannt gemacht werden. Da­ von sind Impulse zu erwarten, die die Wahrnehmung schärfen, bewußteres Handeln ermöglichen und pädagogi­ schen Spielraum zurückgewinnen las­ sen. Nützen wird es uns allen. Anmerkung: (Weiterführende) Literaturangaben und Befunde finden sich in: Bettina Hannover/ Susanne Bettge, Mädchen und Technik, Göttingen/Bern/Toronto/Seattle (Hogrefe) 1993 83 Mädchen in Naturwissenschaften und Technik „Mädchen mögen Mathe", das ist die These von Werner Kimmig, Mathematik­ lehrer am Fichte-Gymnasium. Doch der Weg dahin ist nicht wenig dornenreich, denn selbst von Seiten der Mädchen ist manches Vorurteil zu überwinden, so manche Hemmschwelle abzubauen, um mit den Jungen in dieser Hinsicht gleichzuziehen. Wie sehen nun die Projekte aus, die Berührungsängste der Mädchen angesichts der „männlichen Domäne" Naturwissenschaften abbauen sollen? Und vielmehr noch, wie kann man schon in der Schule Mädchen auf dem Weg in einen eventuellen technischen Beruf unterstützen? Die Ausgangslage Frauen sind in der Schule und in der Arbeitswelt im naturwissenschaftlich­ technischen Bereich deutlich unterre­ präsentiert. Dies zeigt sich in vielen Befragungen und ist in zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahre nachzulesen. Augenfällig ist aber auch, daß Absolventinnen von reinen Mädchen-Gymnasien wesentlich häu­ figer Mathematik und Naturwissen­ schaften studieren oder einen Inge­ nieurberuf wählen als Abiturientinnen koedukativer Gymnasien. Da die fort­ schreitende Technologisierung die technisch-mathematisch weniger ver­ sierten Frauen auf dem Arbeitsmarkt und beim beruflichen Aufstieg be­ nachteiligt, ist es wichtig, eine Verän­ derung dieses Verhaltens anzustre­ ben. Im wesentlichen werden drei Gründe erkennbar, warum sich Mädchen we­ niger als Jungen für Naturwissen­ schaften und Technik interessieren und seltener Berufe dieser Richtung wählen: Mädchen haben weniger praktische Erfahrungen im Umgang mit techni­ schen Problemen. Während sehr viele Jungen schon einmal eine Bohr­ maschine benutzt, ihr Fahrrad selber repariert oder ein Computerpro­ gramm geschrieben haben, trifft dies auf die allerwenigsten Mädchen zu. Weil Mädchen so wenig praktische Erfahrungen mit Technik haben, inter­ essieren sie sich auch in der Schule weniger für technische oder naturwis­ senschaftliche Themen. Mädchen trauen sich weniger zu als Jungen. Obwohl Mädchen keines­ wegs schlechtere Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern er­ bringen, halten sie sich trotzdem für sehr viel schlechter als Jungen. Weil Mädchen ihre Fähigkeiten unterschät- Ich bin lieber ein Junge, weil wir schneller rennen können (das ist wich­ tig beim Fußball). Außerdem können viele sehr gut Mathematik. Mädchen haben da eher ihren Schwachpunkt, auch für Mannschaftsspiele sind sie schlecht geeignet. Aber Mädchen werden einfach unterschätzt, was na­ türlich überhaupt nicht stimmt! Denn die meisten spielen ein Instrument, hä­ keln, stricken, springen Seil und schla­ gen Räder, und das alles einfach per­ fekt! zen, interessieren sie sich in der Schu­ le auch weniger für diese Fächer. Mädchen haben ein negatives Bild von naturwissenschaftlich-technischen Be­ rufen. Sie befürchten, sich bei einer Berufswahl nicht für Menschen und Umwelt voll einsetzen zu können - sie vermuten statt dessen, den gan­ zen Tag im Büro sitzen zu müssen und durch ihre Tätigkeit zu den nega­ tiven Folgen der Technik aktiv beizu­ tragen. Maßnahmen und Erfahrungen am Fichte-Gymnasium Ein Projekt Aus diesen Erkenntnissen heraus ver­ sucht das Fichte-Gymnasium bereits seit dem Schuljahr 1988/89, das Inter­ esse der Schülerinnen an Naturwis­ senschaften und Technik zu wecken. So beteiligte sich die Schule (neben 15 anderen Schulen bundesweit) in jenem Schuljahr am Projekt der TU Berlin „Mehr Mädchen in Naturwissen­ schaften und Technik" und führt es intern unter der Bezeichnung „MINT" bis heute weiter. Bereits am 1. September 1988 erfolg­ te eine erste Befragung der Schülerin­ nen der 9. Klassen durch eine For- 84 Chemieunterricht im Fichte-Gymnasium. Gute pädagogische Betreuung und gemeinsames Arbeiten erleichtern den Einstieg in die Materie schungsgruppe. Gefragt wurde nach der Bewertung der Fächer, dem eige­ nen Erfolg darin, der Selbsteinschät­ zung und den Zukunftsplänen. Diese Befragungen dienten als Ausgangsba­ sis für Maßnahmen, die eine positive Verhaltenserfahrung im Umgang mit Naturwissenschaften vermitteln und dadurch die Einstellung von Jugendli­ chen verändern und sie für naturwis­ senschaftlich-technische Berufe inter­ essieren sollten. Im Rahmen des Projekts erlebten zwei 9. Klassen Be­ triebsbesichtigungen und Diskussio­ nen mit Betriebsleiterinnen und Aus­ zubildenden bei der Firma Siemens und dem Kernforschungszentrum Karlsruhe, sowie der Firma Messer- schmitt-Bölkow-Blohm (MBB) in Ham­ burg - anläßlich des Schullandheim­ aufenthaltes in Eckernförde. Die einhellige Meinung der Schüler und Schülerinnen war, daß ihnen durch diese Bekanntschaft mit der Praxis die Problematik „Mehr Mädchen in Naturwissenschaften und Technik" nähergebracht wurde. Eine zweite Befragung sollte diese Erfahrung bereits deutlich werden lassen und genauer Motive und Ur­ teile ergründen. Mädchen und Jun­ gen mußten nach einer sechsstündi­ gen Unterrichtseinheit, erarbeitet von der TU Berlin, quadratische Glei­ chungen lösen und ihr Abschneiden prognostizieren. Ganz besonders wertvoll fanden nicht nur die Teilneh­ menden dieses Projektes, daß sie in Gruppen zu je zwei (gleichge­ schlechtlichen) Schülern und Schü­ lerinnen praktische Aufgaben gestellt bekamen, die sie zu Hause selbstän­ dig lösen mußten. Zu diesem Zweck erhielten sie unter anderem eine So­ larzelle, die einen Motor betrieb. Da­ mit konnte jede Gruppe kreativ arbei­ ten. Es entstanden sehr interessante („taugliche") Objekte wie Windmüh­ len, CD-Reiniger, Jalousien und vie­ les mehr. Weiter galt es zum Bei­ spiel, eine Taschenlampe aus Einzelteilen zusammenzusetzen. Die Zusammenarbeit klappte sehr gut und wurde durch den internen Wett­ bewerb beflügelt. Als Abschluß des gesamten Projektes fand noch ein Wochenendseminar in Adelsheim statt. Es standen folgende Themen an: - Mädchen besiegen den Computer - Physikalisches Experiment - Wir drehen einen Film Gerade dieses gemeinsame Wochen­ ende begeisterte die Schüler und Schülerinnen sehr. Besonders auch durch das Spiel „Mädchen besiegen den Computer" konnte bei einigen Schülerinnen die Scheu vor dem Computer abgelegt und Freude ge­ weckt werden. Christine meinte: „Ich wußte gar nicht, daß mir das Arbeiten am und das Umgehen mit dem Com­ puter so viel Spaß machen kann." Der Umgang mit der Videokamera machte allen - trotz der Technik, die man dazu benötigte - viel Freude. Eine letzte Be­ fragung durch die TU Berlin rundete das Projekt ab. Sie ließ erkennen: Durch gezielte Ein­ flußnahme läßt sich das Interesse von Mädchen für Naturwissenschaften und Technik erheblich steigern. Die Auseinandersetzung mit praktischen technischen Problemen und deren Lö­ sung kann den Mädchen durchaus Er­ folgserlebnisse vermitteln, die ihnen der Alltag in der Schule und zu Hause versagte. Ein Mathematikwettbewerb zeigte, daß sie unter bestimmten Bedingun- 85 gen genauso erfolgreich sind wie Jun­ gen. Analysen der Gruppendynamik veränderten das Bewußtsein um die Problematik sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungen. Durch all diese Erfahrungen wurde das Selbstbewußtsein der Mädchen ge­ stärkt. Ihr Interesse an naturwissen­ schaftlichen und technischen Fä­ chern wuchs und damit auch die Bereitschaft, in diese Bereiche später einmal beruflich einzusteigen. Weder bei der Leistungskurswahl noch bei den angestrebten Berufssparten war jedoch eine unmittelbare Verände­ rung gegenüber den Schülerinnen an­ derer Jahrgänge festzustellen: Zu spät und zu singulär war die Beeinflussung, In Erdkunde werden die Jungs immer bevorzugt, und wenn wir Mädchen nichts kapieren und drangenommen werden, eine falsche Antwort sagen und nicht richtig mitkommen, hört man von den Jungs immer ein lautes: Öh, bist du dumm! Und da wundern sich die Lehrer, wenn sich die Mäd­ chen nicht melden! Das ist doch lo­ gisch!! Man will ja nicht von den Jungs ausgelacht werden! Oder in Mathe: Da traut sich ja gar kein Mäd­ chen an die Tafel, weil die Jungs sonst wieder ihre Gebärden loslassen. Das ist ja total peinlich! a um außer der affektiven Einstellung auch das Verhalten zu ändern. Ein unmittelbares Ergebnis dieses Projektes war, daß sichtbar wurde, daß Jungen zur Selbstüberschätzung im naturwissenschaftlichen und tech­ nischen Bereich neigen. Sie sehen nun ihre Leistung in Mathematik reali­ stischer. Hiervon konnten die Mäd­ chen profitieren. Die demotivierende Wirkung der „Angeber" fiel weg, die Mädchen lernten, daß sie de facto ge­ nauso kompetent in Mathematik sind wie Jungen. Aus den Erfahrungen scheint mir eine eindeutige Forderung zu resultieren: Keine generelle Trennung der Ge­ schlechter! Eine gute pädagogische Betreuung vorausgesetzt, beeinflus­ sen sich Mädchen und Jungen gegen­ seitig positiv und nähern sich einander an. Dies schließt jedoch keineswegs aus, daß immer wieder einmal die Ge­ schlechter getrennt unterrichtet wer­ den, um ihnen gerecht zu werden. Vor allem muß den Mädchen Mut ge­ macht werden! Dann wird erkennbar werden: Mädchen mögen Mathe ! Computerkurse in der Unterstufe Als unmittelbare Reaktion auf die Erfahrungen im Projekt richteten wir am Fichte-Gymnasium Computer­ kurse bereits für die 6. Klasse ein. An­ geboten wurden wahlweise gemischte Kurse und Kurse speziell für Mädchen. Deren Interesse war so groß, daß eine Aufnahmesperre eingeführt werden mußte. Für die sieben Computerplät­ ze lag die Höchstzahl bei 14 Teilneh­ merinnen. Doch wurden zu Beginn als maximale Zahl 18 zugelassen. Folgen­ de Themen wurden angeboten: Erstel­ len von Graphiken, Einführung in die Textverarbeitung, Melodien am Com­ puter programmieren und ertönen las­ sen, Fadenspannbilder entwerfen. Wichtig und hilfreich für Mädchen war auch die Bekanntschaft mit den Elementen der Fischer-Technik. Die Begeisterung war und ist noch sehr groß, denn auch in diesem Schuljahr 1992/93 laufen wieder zwei ausge­ buchte Kurse für die 6. Klassen. Alle sind sich darin einig: „Angst vor dem Computer hatten wir keine." Als sehr wichtig war für Yvonne (Klasse 6): „Mädchen sollten lernen, sich vor dem Computer gegen Jungen durch­ zusetzen." Während der Arbeit mit dieser Alters­ gruppe - und auch später besonders in der Klasse 8 - stellte sich heraus, daß Mädchen zunächst zögern, am Computer zu experimentieren. Sie ver­ langen genaue Anweisungen und auch genügend Zeit, um das auszu­ probieren, was sie erarbeitet haben. Sehr deutlich wurde das beim Gebiet Graphik. Nach einer gewissen Einar­ beitungszeit waren wenige Mädchen bereit, alleine am Computer zu arbei­ ten, bei Jungen tauchte dieser Wunsch häufig auf. Der kommunikati­ ve Aspekt der Gruppenarbeit ist den Schülerinnen sehr wichtig. Außerdem vermittelt ihnen die Gruppe Sicherheit. Eine neue Lehrplaneinheit: Die „Informationstechnische Grundbildung - ITG" Sie wurde für die 8. Klassen mit Beginn des Schuljahres 1992/93 eingeführt und soll einen fachüber­ greifenden Einstieg in Fragen der Informationstechnologie, ihre prakti­ sche Gestaltung und ihre gesellschaft­ lichen Auswirkungen vermitteln. Man beginnt augenblicklich mit dieser Aus­ bildung im Rahmen der Mathematik, später sollen Biologie, Erdkunde, Deutsch, Bildende Kunst und Physik hinzukommen. Mädchen als Zielgruppe Einen grundlegenden Gedanken des ITG-Konzepts bildete die Verbesse­ rung der Zugangsmöglichkeit für Mäd­ chen zu den neuen Technologien. Ne­ ben inhaltlichen Fragen, wie zum Beispiel der Auswahl von Unterrichts­ themen unter Berücksichtigung der Interessen und Erfahrungen der Mäd­ chen, sind auch didaktische und un­ terrichtsorganisatorische Fragen un­ ter dem Gesichtspunkt der Motivation und Ansprache von Mädchen berück­ sichtigt worden. Zu nennen sind in die­ sem Zusammenhang der Zeitpunkt des Beginns der ITG, die Zusammen­ setzung der Arbeitsgruppen am Com­ puter, die Aufgabenstellung, die Schaffung von Möglichkeiten zur au­ ßerunterrichtlichen Nutzung des Com­ puters sowie die Einbindung der ITG in übergreifende Unterrichtsprojekte. Im Rahmen der Vorbereitung sind zu­ dem gezielt Lehrerinnen angespro­ chen und in die Weiterbildungsmaß­ nahmen einbezogen worden, um die 86 ITG nicht als eine Domäne männlicher Lehrer erscheinen zu lassen und damit die Abgrenzung der Mädchen zu per- petuieren. Erste Erfahrungen mit der ITG Am Fichte-Gymnasium werden in den 8. Klassen zwei verschiedene Wege der ITG im Leitfach Mathematik einge­ schlagen. Die eine Gruppe arbeitet mit dem Programm „NIKI - Der Roboter", die andere mit dem Programmpaket WORKS. Letztere Gruppe lernt zu­ nächst drei Bereiche kennen: Textver­ arbeitung, Tabellenkalkulation und Ar­ beiten mit einer Datenbank. Dies geschieht anhand der Planung eines Schullandheimaufenthaltes. Dieses Thema eignet sich deshalb beson­ ders für die Klasse 8, weil es aus dem unmittelbaren Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler stammt und andererseits umfangreich genug ist, alle Bereiche abzudecken. Die Begeisterung bei Jungen und Mäd­ chen ist gleichermaßen groß. Aussa­ gen wie „Endlich mal etwas anderes!" oder „Am besten hat mir gefallen, daß wir keinen Unterricht hatten" waren nicht selten. Die Abwechslung, das „lockere Verhalten" des Lehrers trug ganz offensichtlich dazu bei, diese Stunden nicht als „normalen Unter­ richt" zu sehen. Jungen wie Mädchen stehen oft bereits vor dem Läuten am Computerraum und überhören am Ende der Stunde gern das Klingeln. Es ist auch sehr schön zu beobachten, wie die anfängliche Scheu bei man­ chem Mädchen, „etwas kaputt zu ma­ chen" oder gar die Angst, „sich vor den Jungen zu blamieren, sich lächer­ lich zu machen" verfliegt und einer freudigen Erwartung, was die näch­ ste Stunde bringt, weicht. Das gegen­ seitige Helfen wird zur Selbstverständ­ lichkeit. Es entsteht nicht mehr die Rolle des hilfegebenden Jungen und die des hilflosen Mädchens, sondern auch ein Schüler läßt sich gerne von einer Schülerin unterstützen. Starre Rollenmuster können so aufgebro­ chen werden. Allerdings erfordert gerade die Einfüh­ rungsphase eine hohe Sensibiliät für die Bedürfnisse der Mädchen. Es ist eine Atmosphäre der Sicherheit zu schaffen, in der die Schülerin sagen kann : „Der Lehrer hat Zeit für mich." Mädchen halten sich sehr genau an die Anweisungen des Lehrers, sind sehr zurückhaltend, während Jungen meistens schon weitere Möglichkei­ ten ausprobieren, ja sogar versuchen, „den Computer auszutricksen". Anschließend an die Arbeit mit WORKS beschäftigen sich die Schü­ ler und Schülerinnen mit der Program­ miersprache TURBO PASCAL. Hierbei ist nicht daran gedacht, sie zu Pro­ grammierern und Programmiererin­ nen auszubilden. Es sollen die beim Programmieren aufeinanderfolgenden Schritte von Problemanalyse, Algorith­ menentwurf, Programmentwicklung und -ausführung bewußt gemacht werden. Neben den Vorteilen sind auch die Grenzen und Gefahren im Zusammenhang mit der Anwendung der Computer-Technik zu verdeutli­ chen und die Schüler und Schülerin­ nen anzuleiten, verantwortungsbe­ wußt damit umzugehen. Hochschule zum Anfassen Ein weiterer Versuch, Mädchen an Na­ turwissenschaften und Technik her­ anzuführen, sind die Workshops „Hochschule zum Anfassen", die die Universität Karlsruhe seit nunmehr zwei Jahren durchführt. Auch hier ist das Fichte-Gymnasium von Anfang an dabei. Ziel dieses Projektes ist es, Mädchen das Studium in den Fach­ bereichen Mathematik, Physik, Infor­ matik und Maschinenbau erfahrbar zu machen. Die Bedeutung einer solchen Veranstaltung „Mädchen er­ leben Technik" wird auch dadurch unterstrichen, daß das Oberschulamt die Teilnehmerinnen für diesen Tag freistellt. So nahmen im Januar 1992 13 Schü­ lerinnen der 11. Klassen am Workshop teil. Angeboten wurde: Mathematik: Probleme der ange­ wandten Mathematik am Beispiel ei­ ner Flächenberechnung Physik: Der „schwebende" Magnet Informatik: Der Roboter: graphische Simulation, Spracherkennung, Pro­ grammierung Von der Möglichkeit, sich mit Studen­ tinnen, Dozentinnen, Doktorandinnen unterhalten zu können und Fragen stellen zu dürfen, wurde ausgiebig Ge­ brauch gemacht. In der anschließen­ den Schlußbesprechung wurden vor allem mit den anwesenden Studentin­ nen anderer Fachrichtungen sehr viele Gruppengespräche geführt. Reaktionen der Oberstufenschülerin­ nen: Insgesamt wurde der erste Workshop von allen Schülerinnen sehr positiv aufgenommen. Beeindruckt hatten am meisten die Vorführungen in Phy­ sik und Informatik. Die Studienfach­ wahl kann nun eindeutig auf einer brei­ teren Wissensbasis erfolgen. Das zeigen die Reaktionen der Schülerin­ nen: „Ich konnte reinschnuppern und Fra­ gen stellen." welche Fächer ich als Leistungs­ kurs wählen werde." welche Studiengänge für mich in Frage kommen." „Ich weiß jetzt, daß naturwissenschaft­ liche Fächer faszinierend sein kön­ nen." „Ich weiß jetzt, was ich nicht studieren möchte." Da der Gesamteindruck dieser Veran­ staltung - bei Schülerinnen, Lehrkräf­ ten, den Vertretern der Fakultäten so­ wie der Frauenbeauftragten der Universität - sehr positiv war, wurde der Workshop im Januar 1993 wieder­ holt. Er war mit insgesamt über 80 Teilnehmerinnen nahezu überfüllt. Dies zeigt deutlich, daß die Schülerin­ nen die Möglichkeit schätzen, umfas­ send und in persönlichem Austausch Hilfe für die Wahl der Leistungskurse und gezielt Informationen über Berufs­ bilder zu erhalten. Sie erfuhren von Frauen selbst, welche Chancen die 87 blicklich stellen am Fichte-Gymna­ sium die Schülerinnen nur etwas mehr als ein Drittel der Teilnehmen­ den des Leistungskurses Mathema­ tik, eine verschwindende Minderheit der Kurse Physik und Informatik, aber immerhin zwei Drittel des Leistungs­ kurses Chemie. Noch liegen keine Er­ fahrungswerte vor, wie die Schülerin­ nen wählen werden, die schon in der Unterstufe an die „Jungen-Domänen" herangeführt wurden. Das positve Echo auf all die Angebote aber läßt hoffen, daß „Mehr Mädchen in Natur­ wissenschaft und Technik" vom Slo­ gan zum Programm und schließlich zur Realität wird. Lehrerkarikaturen als Füll-Stoff langweiliger Unterrichtsstunden: Mathematiklehrer im Wandel der Zeit aus der Sicht einer Schülerin Frauen in den technischen Berufen haben, aber auch welchen Schwierig­ keiten sie begegnen könnten. Wenn die Informationen dazu führten, sich gegen ein naturwissenschafliches Leistungs- und/oder Studienfach zu entscheiden, war auch etwas gewon­ nen, denn diese Entscheidung auf der Basis von Wissen ist einem Studien­ abbruch weit vorzuziehen. Wie geht es später weiter? Die Bemühungen, mehr Schülerinnen für Mathematik, Naturwissenschaften und Informatik zu interessieren, ihre Befangenheit in Neugier und Sicher­ heit umzuwandeln, wird weiterhin eine vorrangige Aufgabe in der Schu­ le sein. Computerkurse und Technik- Arbeitsgemeinschaften in der Unter­ stufe und Angebote allein für Mäd­ chen müssen auch an unserer Schule verstärkt angeboten werden, damit in kleinen Gruppen gearbeitet werden kann. Haben Mädchen daran teilge­ nommen, so können sie auch mit grö­ ßerem Gewinn und ohne Scheu vor den computererfahrenen Mitschülern die informationstechnische Grundaus­ bildung absolvieren. Es ist nicht nur zu hoffen, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit anzuneh­ men, daß dann auch die Bereitschaft steigt, sich in der Oberstufe und ganz besonders in den Leistungskursen diesen Stoffen zuzuwenden. Augen- 88 Umfrage unter den Abiturjahrgängen 1964 bis 1968 Die Abiturjahrgänge 1964 bis 1968 fallen in die Zeit des sogenannten Bildungs­ notstandes, aber auch in die Zeit des reinen Mädchen-Gymnasiums. Ingrid Neuburger-Kappis hat die Abiturientinnen von damals befragt: Wie sie unter anderem ihr Berufsleben gemeistert haben und ob hochfliegende Karrierepläne erfüllt wurden. Im Zentrum ihres Interesses stand jedoch die Frage, welche Hürden in einer männlich orientierten Berufswelt zu nehmen waren nach den Jahren im Elfenbeinturm eines Mädchen-Gymnasiums. Ursprünglich hatte ich den Abiturjahr­ gang 1966 zur Befragung ausgewählt, weil dessen Schülerinnen in der Zeit des „Bildungsnotstandes" mit einer verkürzten 13. Klasse ermuntert wur­ den, möglichst schnell einen akademi­ schen Beruf anzustreben. Viele Schü­ lerinnen haben diese Herausforderung angenommen und erfolgreich abge­ schlossen. Es wurden von mir zwei Themen angesprochen: Das erste in engem Zusammenhang mit der Schul­ zeit am Mädchen-Gymnasium und das zweite, zu welchen Erfahrungen das bei der Berufsausbildung führte. Fragen hierzu lauteten beispielswei­ se: Glauben Sie, Ihr Lernerfolg wäre an einer gemischten Schule anders gewesen? Glauben Sie, der Über­ gang von der Schule in die Berufsaus­ bildung wäre anders gewesen, wenn Sie aus einer gemischten Schule ge­ kommen wären? Da Frauen mit qualifiziertem Beruf mit Frauen in ähnlichen Berufen vielfach Kontakt pflegen, habe ich den Kreis der befragten Frauen über meine Schülerinnen erweitert: Es wurden dazu die Abiturjahrgänge 1964 bis 1968 zugelassen. Aus Gesprächen, Beobachtungen und aus Erfahrungen über viele Jahre hinweg wurden Ant­ worten auf die Fragen erarbeitet, die unter anderem folgendermaßen laute­ ten: Aus welchen Gründen haben Frauen mit Kindern ihre Berufstätig­ keit teilweise beibehalten? Welche Chancen haben Frauen, entspre­ chend Ihren Kenntnissen beruflich vor­ wärts zu kommen? Ich wollte heraus­ finden, inwieweit sich diese Frauen im Beruf durchsetzen konnten und wie weit es ihnen gelungen ist, im eng­ sten Beziehungskreis den Beschrän­ kungen der traditionellen Rolle der Frau zu entgehen. Zunächst wurden die 26 Abiturientin­ nen des Abiturjahrgangs 1966 befragt, 17 davon haben geantwortet, eine lebt in Amerika, eine ist gestorben, von zweien war die Adresse nicht aufzufin­ den, fünf waren zum Zeitpunkt der Be­ fragung sehr gestreßt durch Probleme bei der Betreuung der Eltern, durch Veränderungen im Haus zur effiziente­ ren Gestaltung der Berufsausübung, durch akute Probleme mit den Schul­ leistungen der Kinder oder deren Um­ schulung. Die Antworten des Abiturjahrgangs 1966 Nach der Befragung war es für sie vor 30 Jahren selbstverständlich, in ein Mädchen-Gymnasium zu gehen, wenn auch vier in der Oberstufe lieber in einer gemischten Schule gewesen wären. Ob sie von Lehrerinnen oder Lehrern unterrichtet wurden, war gleichgültig. Wichtig waren Fairneß und Kompe­ tenz. Das Verhältnis zu Jungen wurde mehr von Brüdern, deren Freunden und den Begegnungen bei Sport und Tanz be­ stimmt. Vier glauben, sie seien Jungen gegenüber stark gehemmt, drei, sie seien Jungen gegenüber besonders selbstbewußt gewesen. Den Lernerfolg halten sie in einer ge­ mischten Schule für gleich oder sogar besser. Die Schulzeit beurteilen 14 vorwiegend positiv, zwei nicht positiv. Eine fühlt sich davon nicht mehr berührt. Die Berufswahl hing mehr vom Eltern­ haus ab. Der Übergang von der Mäd­ chenschule in eine männlich orientier­ te „Ausbildungswelt" war schwer. Von Minderwertigkeitsgefühlen, weil man das Wissen derKommilitonen nicht ein­ schätzen konnte bis zur Hemmung, in die Mensa zum Essen zu gehen, reicht die Skala der Schwierigkeiten. Für das Zusammenleben mit dem Le­ benspartner wird die Erfahrung aus der Schule gering eingeschätzt. Die Er­ fahrungen aus der Familie geben, so die Befragung, den Mut partnerschaftli­ ches Verhalten durchzusetzen und Minderwertigkeitsgefühle abzubauen. 89 Im folgenden wurden 73 Frauen der Abiturjahrgänge 1964 bis 1968 mit qualifizierten Berufen befragt. Die Erfahrungen der Abiturjahrgänge 1964 bis 1968 Danach haben diese Frauen während ihrer Berufsausbildung keine Benach­ teiligung von außen erfahren. 32 glau­ ben aber, sich selbst benachteiligt zu haben - aus Angst aufzufallen, wegen zu großer Zurückhaltung oder der Mei­ nung, Fehler zu machen wäre für sie schädlich. Den Beruf ganz aufgegeben, um Kin­ der zu betreuen, haben nur sehr weni­ ge, und diese haben es bereut, weil sie, als die Kinder selbständig waren, den Anschluß verloren hatten. Eine Pause im Beruf zugunsten der Kinder haben 42 eingelegt, 29 davon sogar begeistert. Die anderen wurden eher durch die geringe Hilfe des Part­ ners dazu gezwungen und vermißten die Kontakte, die der Beruf mit sich bringt. 30 Frauen haben die Berufstätigkeit auch mit kleinen Kindern teilweise bei­ behalten, vor allem aus Freude am Be­ ruf, aber auch um den Freundeskreis zu behalten und über eigenes Geld zü verfügen. Alle wollen, wenn die Kinder selbstän­ dig sind, den Beruf wieder aufnehmen oder sie haben ihn schon wieder auf­ genommen. Dabei sind die Kontakte zu Menschen und die finanzielle Unab­ hängigkeit die ausschlaggebenden Faktoren. Die Chancen, entsprechend ihrer Kenntnisse vorwärts zu kommen, be­ urteilen diese Frauen als gut - vor al­ lem im unteren und mittleren Bereich. Für den höheren Bereich werden die Chancen durch die Doppel- und Drei­ fachbelastung, auch der gebildeten Frau, als gering angesehen. Die Last, den Haushalt zu organisieren, einzu­ kaufen und mit den Kindern zu lernen liegt auch hier auf der Frau. Das schränkt die Bewegungsfreiheit sehr ein und zehrt so an den Nerven, daß ihnen das Karrieregerangel zuwider ist. Frauen, die höhere Stellen erreicht ha­ ben, wirken auf Frauen ermutigend. Von Männern gehen in dieser Rich­ tung kaum Signale aus. Durch den Gedanken an eine spätere Familie ließen sie sich als junge Mäd­ chen bei der Berufswahl einschrän­ ken, dabei scheinen gleichermaßen der Druck der Eltern und das eigene Verantwortungsgefühl mitgewirkt zu haben. Damit auch junge gebildete Frauen Familie und Beruf in Einklang bringen können, müßte, so die Beobachtung, sich einiges ändern. Vor allem müßten Väter in echtem partnerschaftlichen Verhalten an der Betreuung der Kin­ der vom Baby bis zum Schulkind teil­ nehmen. 90 20 Jahre Koedukation Wie denken unsere Schüler darüber? Der folgende Beitrag faßt die Ergebnisse einer Umfrage unter Oberstufenschü­ lern und -Schülerinnen des Lessing-Gymnasiums zusammen. Den Rahmen bildet das Thema der Koedukation. Nach Jahren, in denen die Problematik des koedukativen Schulunterrichts kaum näher erörtert wurde, wird sie nun wieder, im zweiten Dezennium ihrer Einführung, mehr denn je diskutiert. Walter von Kienle, Lehrer am Lessing-Gymnasium, hat Direkt-Betroffene, Absolventen und Absolventinnen der Oberstufe, befragt, ihre Antworten analysiert und kommentiert. Nachdem vor zwanzig Jahren die Ko­ edukation am Lessing-Gymnasium in Karlsruhe eingeführt worden war, lag es nahe, aus Anlaß dieses Jubiläums uns einen Eindruck davon zu verschaf­ fen, wie unsere Schülerinnen und Schüler von heute zu der damaligen Entscheidung stehen. Um ein Bild der heutigen Stimmung zu erhalten, habe ich zwei Klassen schriftlich befragt und die Ergebnisse ausgewertet. Die Be­ schäftigung mit den Antworten hat mich dabei auch zu ein paar kritischen Einlassungen veranlaßt, die anfänglich nicht geplant waren. Zunächst zu den einzelnen Fragen: Die erste Frage stellt die eigentliche Leitfrage dar: „Durch die Einführung der Koedukation wurde das bis dahin reine Mädchen-Gymnasium zu einer gemischten Schule. Die Umwandlung wurde damals von den Schülerinnen und Schülern begrüßt. Halten Sie den damaligen Entschluß aus heuti­ ger Sicht für richtig? Wie würden Sie die Entscheidung aus heutiger Sicht begründen?" Mit der zweiten und dritten Frage ver­ suchte ich, das konkrete Zusammen­ leben unserer Schülerinnen und Schü­ ler zu erfassen: „Wie gut funktioniert nach Ihrer Mei­ nung das Zusammenleben der bei­ den Geschlechter an unserer Schule? Wie würden Sie den Zusammenhalt Ihrer Klasse beschreiben: als ein Mit­ einander - ein Nebeneinander - oder als ein Gegeneinander? Oder spielt das Geschlecht bei den Gruppenbil­ dungen überhaupt keine Rolle?" „Sie haben nun schon fast neun Jahre an dieser Schule miteinander ver­ bracht; hat sich das Zusammenleben im Verlauf der Jahre verändert? Wie würden Sie diese Veränderung be­ schreiben?" Die vierte Frage griff Kritik auf, die in letzter Zeit an der Koedukation geübt wurde. Die Antworten auf diese Frage sollten Aufschluß geben, ob sich un­ sere Schülerinnen und Schüler noch lebendig mit der Frage der Koeduka­ tion auseinandersetzen: „Neuere pädagogische Untersuchun­ gen sehen in der Koedukation eher Nachteile für die Mädchen, etwa fol- Ich finde, daß die Jungs im Unterricht etwas mehr Quatsch machen, aber die Mädchen sind auch nicht immer sehr brav. Getrennten Unterricht finde ich blöd, denn man kann auch über den Quatsch der Jungs lachen. gender Art: Mädchen seien begabter für das Erlernen von Sprachen und außerdem fleißiger, sie würden des­ halb durch die weniger lernwilligen Jungen am Fortschreiten gehindert. Umgekehrt sei es in den Fächern Ma­ thematik, Informatik und den Natur­ wissenschaften. Hier besäßen die Jungen oft erhebliches Vorwissen; Mädchen hätten hier oft Hemmun­ gen, ihr Unwissen einzugestehen oder den Lehrer nach dem zu fragen, was sie noch nicht wüßten, um nicht als dumm zu gelten. Diese Nachteile scheinen dadurch bestätigt zu wer­ den, daß die Mädchen in reinen Mäd­ chenschulen (die es ja immer noch gibt) in Mathematik, Informatik und den Naturwissenschaften bessere Zensuren aufzuweisen haben als in gemischten Schulen. In einem Bun­ desland wurde bereits darüber nach­ gedacht, ob es sinnvoll sei, neue Mäd­ chen-Gymnasien zu gründen. Wie stehen Sie zu solchen Überlegun­ gen?" Und nun zu den Antworten: Die Verantwortlichen, die die Koedu­ kation am Lessing-Gymnasium einge­ führt haben, dürfen zufrieden sein: Alle Schülerinnen und Schüler von heute halten den damaligen Beschluß für richtig. Ja, unter den zustimmenden 91 Momentaufnahmen ... Antworten sind viele, die bekennen: „Wäre dies damals nicht geschehen, ich wäre nie in diese Schule gegan­ gen." Die Begründungen für solch ein­ hellige Zustimmung stimmen inhaltlich weitgehend überein. Typisch sind etwa die folgenden zwei Antworten: „Die Koedukation bringt sehr viel für das Zusammenleben zwischen Mäd­ chen und Jungen. Eine Trennung der Geschlechter schafft Probleme, und sie ist unnatürlich. Früher waren die Geschlechter ja auch in allen anderen Lebensbereichen getrennt, und zwi­ schengeschlechtliche Beziehungen begannen erst später, was heute ja nicht mehr so ist." „Ich halte die damalige Entscheidung für die Koedukation für richtig, da es heute auch im Beruf keine reinen Män­ ner- oder Frauenberufe mehr gibt, sondern beide Geschlechter am Arbeitsplatz zusammenarbeiten. Ein gemischtes Gymnasium finde ich des­ halb vernünftig, da eine Chancen­ gleichheit gewährleistet wird und es sowohl Frauen als auch Männern möglich gemacht wird, in einen Beruf einzusteigen, der nicht typisch für ihr Geschlecht ist." Die wichtigsten Gründe werden also in unseren gesellschaftlichen Verhältnis­ sen, besonders in der Berufswelt, ge­ sehen, wo es eine Trennung nach Ge­ schlechtern nicht mehr gebe. Wo die Begründungen genauer sind, wird häufig die Notwendigkeit betont, daß Mädchen lernen müßten, sich gegen das männliche Geschlecht durchzu­ setzen. Merkwürdigerweise aber kom­ men trotz Äußerungen wie „Bei uns dominieren die Mädchen" die Befrag­ ten nicht auf den Gedanken, es könne auch - in umgekehrter Richtung - nö­ tig sein, Toleranz zu lernen und domi­ nantes Verhalten zu vermeiden. Der Grundton der Äußerung ist sach­ lich, von Nutzen und Vorteil ist in die­ sem Zusammenhang die Rede. Selten werden differenziertere Gründe vorge­ bracht: Überwindung von Vorurteilen und Hemmungen, die Einübung in Partnerschaft und Toleranz werden als positive Wirkungen der Koeduka­ tion angegeben. Manchmal heißt es auch nur: „Koedukation macht mehr Spaß". Und bezeichnend ist ein Wunsch, der in einem Beitrag geäu­ ßert wird, nämlich, daß die Koeduka­ tion doch recht bald auch einen Be­ reich erfassen möge, der bislang noch von ihr ausgenommen sei; ge­ meint ist hier der nach Geschlechtern getrennte Sportunterricht. Man ersieht daraus, wie selbstverständlich heute Koedukation ist. Auch bei der Beantwortung der zwei­ ten Frage sind sich Schülerinnen und Schüler weitestgehend einig: Das all- 55 Die Mädchen sind auch nicht so ohne, und es gibt ja auch ruhige Jungen, es ist halt Natur, daß die Jungen etwas temperamentvoller sind. Daß Sport getrennt ist, finde ich sehr gut, denn die Mädchen haben ja ganz andere Interessen. Zum Beispiel würden die Jungen eher Fußball spielen, das wür­ den Mädchen niemals spielen, son­ dern Völkerball und andere Spiele. gemeine Zusammenleben der Ge­ schlechter wird durchweg als gut bis sehr gut bezeichnet. Kommt man al­ lerdings auf die Verhältnisse in der ei­ genen Klasse zu sprechen, so wird zurückhaltender geurteilt. Nur eine kleine Gruppe, meist Jungen, hält die Zustände in der eigenen Klasse für problemlos und harmonisch. Wenn Spannungen zugegeben werden, wird betont, diese hätten nichts mit den verschiedenen Geschlechtern zu tun. Die folgenden Beispiele sind ty­ pisch für eine positive Grundeinstel­ lung, bei der gleichzeitig auch ge­ wisse Grenzen sichtbar werden: „Das Zusammenleben der beiden Ge­ schlechter an unserer Schule funktio­ niert gut, warum auch nicht? Ich wür­ de meine Klasse als Gemeinschaft bezeichnen. Daß jeder außerhalb der Schule eigene Wege geht, ist ebenso natürlich. Doch würde ich sagen, daß in schulischen Dingen eine Gemein­ schaft besteht. Gewisse Spannungen in den Klassen 9 und 10 sind wohl immer vorhanden." „Das Verhältnis in der Klasse läßt sich als ein Miteinander charakterisieren. Alles wird miteinander geplant, durch­ geführt, erlebt, ohne Vorurteile oder Ausschlüsse, schon gar nicht bezüg­ lich des Geschlechts. Man hat genau- 92 so gute oder vielleicht noch bessere Freunde beim anderen Geschlecht. Gruppenbildung in Bezug auf ein Ge­ schlecht läßt sich nie vermeiden, ist aber wohl kein Kriterium des heutigen Verhältnisses der Schüler untereinan­ der." „Unser Zusammenleben ist auf jeden Fall besser geworden. Man lernt sich ja auch in diesen neun Jahren besser kennen, und wenn man sich nun mal neun Jahre lang sieht, geht man auch auf den einen oder anderen zu. Man trifft sich jetzt auch mal gemeinsam im privaten Bereich und feiert zusam­ men oder ruft auch mal jemand ande­ ren an (auch vom anderen Ge­ schlecht), wenn man ein schulisches Problem hat." Die zitierten Antworten lassen erken­ nen, daß unsere Schülerinnen und Schüler ganz vernünftige Maßstäbe für ihre Klassengemeinschaft zugrun­ de legen. Zu hinterfragen wäre die ver­ nünftige Einstellung allerdings in einem Punkt: Kann es wirklich befriedigen, daß diese Gemeinschaft sich aus­ schließlich auf die Schulstunden er­ streckt (wie meist versichert wird), oder sind die Ansprüche an ein sol­ ches Zusammenleben doch eher be­ scheiden? Weitaus die meisten Schülerinnen und Schüler stuften gemäß der Vorgabe des Fragebogens das Leben in der Klasse nur als ein Nebeneinander ein. In der Schule helfe man sich zwar, aber außerhalb der Schule fehle der Zusammenhalt. Zu berücksichtigen ist bei diesen Urteilen, daß sie aus der Oberstufe kommen, obwohl die Mädchen und Jungen darin überein­ stimmen, daß das Verhältnis der Ge­ schlechter nach den eher kritischen Jahren der Pubertät in der Oberstufe am besten sei. Auch wenn man sol­ che Problematik nicht allein der Ko­ edukation anlasten darf, sondern sie als für unsere Zeit typisch ansehen kann, so liegt darin doch ein Anlaß für die Pädagogen, um über eine Ver­ besserung der Klassengemeinschaft nachzudenken. In diesem Zusam­ menhang wird vereinzelt - sicher zu Recht - auch dem Kurssystem der Oberstufe eine Mitschuld zugewie­ sen: „Jeder kommt in die Schule, um sein Soll zu erfüllen und verläßt dann auf schnellstem Weg das Schulhaus." Ebenso fallen hier auch lobende Worte über die Klassenfahrten, wo Schü­ lerinnen und Schüler offensichtlich er­ leben, daß ihr Zusammenleben auch anders sein kann. Was hier als Mei­ nung über das Zusammenleben in den Klassen geäußert wird, findet eine optische Bestätigung, wenn man durch die Klassenräume geht, wo die Geschlechter meist getrennt sitzen - eine bunte Reihe ist die Aus­ nahme. Daß die Zustimmung zur Koedukation so eindeutig ausfällt, darf Schulbehör­ den und Politiker mit Genugtuung er­ füllen. Dennoch sollte das hohe Maß an Zustimmung niemand daran hin­ dern, sich auch mit der Kritik am ge­ mischten Gymnasium auseinanderzu­ setzen, die mit der vierten Frage thematisiert wurde. Hier zeigten sich deutlich Schwierigkeiten, die nicht nur bei Schülerinnen und Schülern weit verbreitet sind: Gleichheit ist in unse­ rer Demokratie so selbstverständlich geworden, daß sie für natürlich gehal­ ten wird. Es bedarf im Unterricht stets einiger Überzeugungsarbeit, bis begrif­ fen wird, daß in sogenannten „natürli­ chen Gesellschaften" - zum Beispiel in Tiergesellschaften - keine Gleichheit herrscht, sondern daß die Gleichheit der Menschen eine philosophische Idee ist, die erstmals in der Spätantike aufkam. Noch schwerer aber fällt es, zu begreifen, daß Gleichberechtigung und Chancengleichheit nicht de facto Gleichheit bedeuten. Erst wenn man sich diesen Unterschied klargemacht hat, wird man für die Frage offen, ob die gemischte Schule wirklich der be­ ste Weg ist, die Chancengleichheit zu realisieren. Entsprechend dieser Situation fallen die Antworten aus. Die Frage wird nicht diskutiert. Als Beispiel sei wie­ der eine typische Antwort zitiert: „Ich halte es nicht für sinnvoll, noch­ mals Mädchen-Gymnasien zu grün­ den. Auch den Mädchen/Frauen dürfte der Entschluß nicht gefallen, da sie mehr und mehr gleichberech­ tigt werden sollen. Dazu gehört ein gemeinsamer Arbeitsplatz mit Män­ nern und auch eine gemeinsame Schule! Außerdem sind es Vorurteile, daß Mädchen begabter seien für das Erlernen von Sprachen und fleißiger und in Mathematik, Informatik und Na­ turwissenschaften schlechter als Jun­ gen wären. Es gibt gute Schüler in 93 Sprachen und gute Schülerinnen in den Naturwissenschaften. Das Ver­ hältnis von guten und schlechten Schülern/Schülerinnen teilt sich in Sprachen und Naturwissenschaften gleichmäßig auf." Die Jungen taten sich bei dieser Frage durch entschiedene Ablehnung her­ vor, sie taten solche Gedanken als Un­ sinn ab, stets gestützt auf Fakten wie zum Beispiel „Im Mathematik-Lei- stungskurs ist das Verhältnis der Ge­ schlechter 1:1" oder „Bei uns haben die Mädchen bessere Zensuren in den Naturwissenschaften als die Jun­ gen". Von den Mädchen hingegen kommen vereinzelt auch nachdenk­ lichere Stimmen. Ein paarmal konnte man folgende Antworten lesen: „Es ist eine Tatsache, daß viele Mädchen Probleme in der Schule nicht anspre­ chen, um sich vor den Jungen nicht lächerlich zu machen". An eine spezi­ fische Begabung der Geschlechter mochten allerdings die wenigsten glauben: die unterschiedlichen Lei­ stungen wurden durch unterschiedli­ che Interessen erklärt. Auch die Mehr­ zahl der Mädchen betrachtet also die unterschiedliche Begabung der Ge­ schlechter in den Naturwissenschaf­ ten als ein heute überwundenes Vor­ urteil. Bemerkenswert erscheint dabei, daß trotz eingestandener Hem­ mungen, in den naturwissenschaftli­ chen Unterrichtsstunden Fragen zu stellen, niemand das Problem durch die Beendigung der Koedukation ge­ löst sehen möchte. „Man muß diesen Nachteil in Kauf nehmen, da die Vor­ teile überwiegen". Und an die Adres­ sen der Lehrer richtet sich die Bemer­ kung einiger Schülerinnen, daß auch das Verhalten des Lehrers erheblich dazu beitrage, diese Situation zu ent­ schärfen, ebenso natürlich die Klas­ sengemeinschaft. Und wie denkt man über reine Mädchenschulen? To­ lerant; warum auch nicht? „Aber für uns wäre das nichts". Die Jungs können bleiben. Im Deutschunterricht werden die Jungs manchmal ermahnt, die Mädchen auch. Aber ohne die Jungs würde es keinen Spaß machen. Vielleicht ist es besser, daß Jungs und Mädchen ge­ trennt sind im Sport, sonst nicht!!! CC Das Ergebnis ist eindeutig und klar: Übereinstimmend sieht die Schüler­ schaft in der gemischten Schule die einzig akzeptable Schulform unserer Zeit. Das ist nicht überraschend und ist andererseits eine solide Basis für die Arbeit an unserer Schule. Ist damit alles gesagt? Es ist abendländische Tradition seit den Griechen, daß sich gerade dort, wo ein großes Maß an Übereinstimmung herrscht, stets auch der Zweifel entzündet. Ange­ sichts der breiten Zustimmung zu die­ ser Schulform stellt sich die Frage, ob die natürlichen Unterschiede der Ge­ schlechter bei solcher Einstellung nicht völlig übersehen werden. Denn es ist wohl ein Unterschied, ob man durch konsequente Gleichbehand­ lung die Unterschiede der Geschlech­ ter vertuscht oder ob man, im Bewußt­ sein um das Anderssein männlichen und weiblichen Wesens, die Ge­ schlechter zu einer harmonischen Partnerschaft in Leben und Gesell­ schaft zu erziehen sucht. Es ist kaum zu erwarten, daß die Ko­ edukation wieder rückgängig gemacht wird; ich halte es aber für denkbar, daß man die heutige Form der Koedukati­ on später einmal als zu mechanisch und unsensibel kritisieren wird. Der äußere Rahmen der Koedukation ist geschaffen, es bedarf weiterer Bemü­ hungen, um ihre Aufgaben optimal zu erfüllen. 94 Koedukation und Emanzipation Sind Frauen nicht auch heute noch benachteiligt? Beginnt diese Benachteiligung nicht schon in der koedukativen Schule? - Diese Fragestellungen werden im Aufsatz von Katharina Herz, Claudia Kolbinger und Judith Nöller kurz beleuchtet. Obwohl scheinbar vieles gegen die Koedukation spricht, sind sich die drei Oberstufenschülerinnen des Lessing-Gymnasiums darin einig, daß eine gemeinsame Ausbildung von Jungen und Mädchen heute unverzichtbar ist. Die Geschichte der Emanzipation der Frau ist relativ kurz. Vor etwa hundert Jahren wurden der Frau nicht nur Rechte, sondern auch Befähigungen abgesprochen, die man heute für selbstverständlich hält. Noch 1870 sieht der Stundenplan einer sich als emanzipiert verstehenden „Gehobe­ nen Töchterschule" wöchentlich vier bis fünf Stunden für „Weibliche Hand­ arbeiten" und zwei bis drei Stunden für das Fach „Rechnen" vor. Heute kann man feststellen, daß be­ züglich der Frauenemanzipation gro­ ße Leistungen vollbracht und ein wirk­ lich beachtlicher Schritt in Richtung Gleichberechtigung getan wurde. Allerdings sollte man auch bedenken, daß diese Entwicklung noch nicht ab­ geschlossen ist. Im Berufsleben zum Beispiel sieht das nicht anders aus. Frauen haben beim beruflichen Auf­ stieg deutlich schlechtere Chancen als Männer. Als Begründung wird zwar meist die Tatsache genannt, daß die Frau die Kinder bekommt und deshalb aus dem Beruf ganz oder zumindest eine Zeitlang aus­ steigt; dies allerdings als Begründung für die Benachteiligung der Frau zu nennen, ist nicht tragbar. Auch in der Schule kann man gelegentlich Be­ nachteiligungen erfahren. So wird zum Beispiel in den technisch­ mathematischen Fächern den Jungen von vornherein mehr zugetraut als den Mädchen, von denen ein Interesse für Technik gar nicht erwartet wird. Diese Rollenverteilung beginnt schon in frü­ hester Kindheit. Welcher Vater baut denn schon mit seiner Tochter ein Mo­ dellflugzeug? Dementsprechend moti­ viert begibt sich ein Mädchen in den Physikunterricht, obwohl es Mädchen an technischem Verständnis nicht fehlt. Auch wird behauptet, daß in gemisch­ ten Klassen den Jungen mehr Auf­ merksamkeit geschenkt wird und sie mehr gefördert werden als die Mäd­ chen. Allerdings ist das heute nicht mehr so selbstverständlich wie es frü­ her einmal war. Mädchen engagieren sich in der Schule mehr und bringen sich auch im Unterricht öfter ein. So gibt es Lehrerinnen und Lehrer, die diese Emanzipation unterstützen und objektiv sind, andere wiederum bevor­ zugen die Jungen offensichtlich und stellen sich gegen die Entwicklung, die Mädchen und Frauen schon eini­ ge Zeit durchmachen. Es ist jedoch zu bezweiflen, daß Mäd­ chen an einem Mädchen-Gymnasium besser gefördert werden können. In gemischten Klassen werden Mäd­ chen mit Problemen konfrontiert, die in einer reinen Mädchenklasse nicht aufkommen. Sie lernen damit umzu­ gehen und haben so einen besseren Start in die Gesellschaft. Dies spricht für eine Koedukation. Sollten Mädchen überhaupt Abitur machen? Diese Frage ist eindeutig mit „ja" zu beantworten. Durch die 13jährige Schulausbildung erhalten Mädchen eine wesentliche Grundlage für die spätere Berufsausbildung. Nicht wenige Frauen werden so zu hervorragenden und bewährten Füh­ rungskräften herangebildet. Hedwig Kettler sagte 1893 in ihrer Fest-Ansprache zur Gründungsfeier des ersten deutschen Mädchen-Gym­ nasiums: wir wollen der Frau er­ möglichen, ihre geistigen Fähigkeiten so zu entwickeln wie der Mann. Wir glauben, daß kein Mensch das Recht hat, seinem Nebenmenschen zu sa­ gen: ,Bis hierher entwickelst Du Dich, aber um keine Linie weiter; bis hierher denkst Du, aber um keinen Gedanken weiter!' Und wir glauben, daß kein Mensch das Recht hat, seinem Ne­ benmenschen aus Prinzip das größte Glück des Lebens zu rauben: befriedi­ gende Arbeit in einem selbsterwähl­ ten, nicht aufgezwungenen Beruf." 95 Koedukation im Schulalltag Ein „Knaller" leitet den Beitrag von Sabine Siebold ein: Die provozierende Äußerung eines Lehrers dient ihr als Reibungsfläche für ein vehementes Plädoyer zugunsten der Koedukation - aus der Perspektive einer Oberstufenschülerin des Lessing-Gymnasiums. „Der Sittenverfall im westlichen Abendland hat unter anderem damit zu tun, daß die Frauen hier kein Kopf­ tuch tragen müssen." So äußerte sich sinngemäß ein Lehrer des Lessing- Gymnasiums während einer Unter­ richtsstunde im Jahre des Herrn (?!) 1992. Sollte es sein Ziel gewesen sein, uns damit aufzuwecken, so ge­ lang ihm nicht nur dies: Da der Aus­ spruch für unsere Ohren damals - und auch noch heute - recht ernst gemeint klang, brach eine heftige Dis­ kussion aus. Der Lehrer nahm sie denn auch gelassen hin. Unter den Schülern und Schülerinnen unserer elften Klasse fand sich allerdings kei­ ner, der ihm beigepflichtet hätte. Statt dessen flogen die - nicht immer ganz ernst gemeinten - Argumente durch den Raum. Nur das meiner Meinung nach plausibelste will ich hier nen­ nen: „Wenn sich die Männer nicht be­ herrschen können, warum tragen dann nicht sie die Kopftücher?" Die Antwort des Lehrers blieb mir nicht im Gedächtnis. Die Feststellung zuvor genügte. Eine garstige Geschichte, und das schlimmste an ihr: Sie hat sich im ver­ gangenen Jahr tatsächlich so ereig­ net. Zum Glück sind derlei Bemerkun­ gen jedoch selten zu hören, weit öfter eher aus den Gesichtern der betref­ fenden Lehrer abzulesen. Denn der­ art veraltetes Gedankengut scheint noch in manchem Lehrerkopf zu exi­ stieren. Seine Erscheinungsformen al­ lerdings sind mit der Zeit gegangen, weit subtiler geworden. Manche Un­ gleichbehandlung mag auch unbe­ wußt Zustandekommen. Es kann schlicht die unterschiedliche Art sein, in der ein Lehrer auf Bemerkungen reagiert: Kommt ein Entwurf, frech, aber vielleicht begründet, von einem Jungen, so wird er ernstgenommen oder aber mit einem Scherz abgetan. Kommt der Einwurf, ebenso frech und ebenso begründet vielleicht, von ei­ nem Mädchen, so... Nun, in meiner Erinnerung setzte es bei dem betref­ fenden Lehrer dann eine zynische Be­ merkung oder einen patzigen Konter. Der gleiche Lehrer jedoch machte es sich zur Gewohnheit, just einen Kna­ ben aus der hintersten Reihe gar häu­ fig aufzurufen - wahrlich, ein seltener Zufall bei mehr als 25 Mädchen und weniger als zehn Jungen. Mancher Wissenschaftler würde - auf­ grund solcher und ähnlicher Erfahrun- Mädchen sind empfindlich und haben weniger Hirn. Sie ekeln sich vor allem. Und weil sie nicht so kräftig sind, ha­ ben wir Männer immer die Oberhand und können Mädchen besser ärgern. Auch das Sportangebot ist für Männer besser! Gibt es etwa einen Frauen- KSC? Peter, 5c gen - die Koedukation am liebsten wieder abschaffen: Den Mädchen sei schlecht geholfen damit, sie würden benachteiligt, hätten im Konkurrenz­ kampf gegen die Jungen geringere Chancen, entwickelten „unter sich" mehr Selbstvertrauen, gerade was das Engagement in den Naturwissen­ schaften betreffe - so melden sich heute die Kritiker der Koedukation zu Wort. Und eines ihrer schlagkräftig­ sten Argumente vielleicht: Sie fordern eine getrennte Schule, damit sich die Mädchen unter Ausschluß der angeb­ lichen männlichen Ruppigkeit besser wappnen können - mit qualifiziertem Wissen und Selbstsvertrauen - ge­ gen die böse Welt später. Diese Theo­ rie ist verführerisch und von vielen si­ cherlich ernst- und wohlgemeint. Aber, so ließe sich dagegensetzen, was, wenn sich die Mädchen dann an ihren goldenen Käfig, an ihr Biotop gewöhnen, sich darin 13 Jahre lang wohlfühlen, um dann nach dem Ab­ itur den großen Schock zu erleben? Zum Beispiel dann, wenn sie sich im Kampf um eine Arbeitsstelle mit lauter Männern auseinanderzusetzen ha­ ben, mit Männern als Konkurrenten und als Chefs? Liegt in einer „gemischten" Schulzeit stattdessen nicht die Chance, sich be­ reits hier Gleichberechtigung zu er­ kämpfen oder Strategien im Kampf ge­ gen Benachteiligungen zu erlernen? Womöglich mag dies alles gar nicht in einen wüsten Kampf - den es an unse- 96 Der Schulhof erweist sich stets als ein ideales Erprobungsfeld für die Entwicklung neuer Strategien auf dem Weg in ein fried­ liches Miteinander der Geschlechter ren Schulen wohl kaum gibt - ausarten, sondern in ein partnerschaftliches Zu­ sammenleben. Denn Gleichberech­ tigung ist schließlich viel weniger Zustand denn Entwicklung. Wo sie sich nicht entwickeln darf, da wird um sie gekämpft. Erst, nachdem dieser Kampf gewonnen ist, kann die Ent­ wicklung beginnen, die Gleichberech­ tigung sich in einem Normalisie­ rungsprozeß in den Köpfen festsetzen. Wir haben die Koedukation und wir haben die Probleme, die sie durchaus mit sich bringt. Aber wir haben auch die Möglichkeit, diese wenigen Pro- >5 Mädchen haben's schwer: Beim Ball­ spielen mit Jungen sind sie im Nach­ teil, in Mathe haben sie Probleme, und gegen Jungs müssen sie sich auch noch wehren! Dafür finde ich toll, daß sie so musikalisch sind, schöne Hand­ arbeiten machen können und viel ge­ lenkiger sind als wir. Michael, 5c bleme anzugehen und mit Sicherheit ist die Koedukation nach 20 Jahren der Entwicklung bereits recht weit mit der „Gleichberechtigung" vorange­ schritten. Das Umdenken auch der letzten Lehrer wird kommen, und wo es nicht kommt, da ist die Courage der Schüler und Schülerinnen ge­ fragt, sich gegen Benachteiligungen zu wehren. Nicht nur von Jungen oder Mädchen, sondern auch von Ausländern, die vielleicht nicht so gut Deutsch spre­ chen, von Leuten, die sich vielleicht anders kleiden, die vielleicht andere Ansichten haben als der Lehrer - oder die Lehrerin. 97 Gedanken eines Koeduzierten Allein unter Mädchen - dieses Gefühl muß Andreas Ramin gespürt haben, als er, dem Jahrgang der ersten zu koeduzierenden Knaben angehörend, das Lessing- Gymnasium 1973 zum ersten Mal betrat. Wie erlebte er nun angesichts der scheinbaren weiblichen Übermacht seine Schülerlaufbahn? Wie gelangte er von einer „Blöde Weiber"-Attitüde (fünfte Klasse) zum Gefühl des „sinnlichen Prik- kelns" bei der Aussicht, einziges männliches Wesen in einem Leistungskurs zu sein (zwölfte Klasse)? Mit Augenzwinkern beschreibt Andreas Ramin, Studien­ referendar an „seiner" Schule, wie er es schaffte, mit Mädchen groß zu werden. Vor 20 Jahren - genau am 13. März 1973 - beschloß der Karlsruher Ge­ meinderat nach damals leidenschaft­ lich geführten Diskussionen die Ein­ führung der Koedukation für Gymnasien in der Fächerstadt. Der neue Gemeinschaftsunterricht für Mädchen und Jungen sollte von die­ sem Zeitpunkt an das schulische Le­ ben an Goethe- und Helmholtz-, Fichte- und Lessing-Gymnasium ent­ scheidend umgestalten. Völlig unberührt vom damaligen emanzipatorischen Fieber sah ich mei­ nem ersten Schultag im Lessing-Gym­ nasium entgegen. Von der Grund­ schule her kannte ich es nicht anders, als mit Mädchen gemeinsam in eine Klasse zu gehen. Und so wer­ de ich heute mit dem Abstand einiger Jahre den Verdacht nicht los, daß sich die damaligen pädagogischen Aufge­ regtheiten mehr an der Erhaltung von Traditionen entzündeten als an den längst überfälligen Forderungen der Befürworter eines gemeinschaftlichen Unterrichts, den es auf anderer Ebene längst gab. So waren die, auf die es eigentlich an­ kam, die ersten Jungs im Lessing- Gymnasium nämlich, viel besser auf die kommenden Jahre vorbereitet als die Schule selbst. Aus heutiger Sicht kann ich das zu einem guten Teil ver­ stehen, damals verlor jedoch die Selbstverständlichkeit, mit Mädchen zusammen in eine Klasse zu gehen, etwas von der wohltuenden Natürlich­ keit der Grundschule. Dies betraf die neu entstehende Klassengemein­ schaft, die zu einem Drittel aus Jungs bestand, zum Glück nicht. Vielmehr gab sich ein Teil des Lehrerkollegiums alle Mühe, mit dem berüchtigten erho­ benen Zeigefinger auf negative Verän­ derungen hinzuweisen, die sich durch die Aufnahme des „unbekannten" Ge­ schlechts einstellten. Leider wurden schlechthin alle Veränderungen als ne­ gativ gebranntmarkt, was ich heute mit einer Art Modernitätsschock um­ schreiben würde. Der Elfenbeinturm begann zu bröckeln, und Dornrös­ chen erschrak heftig, als es wachge­ küßt wurde. Verstehen Sie mich jedoch nicht falsch. Dies bezog sich nur auf einen Teil des Kollegiums und wohl auf den kleineren, der aber mit Macht ver­ suchte, seinen Einfluß nicht zu verlie­ ren. Der weitaus größere Teil bemühte sich, mit diskretem Charme den Jungs eine weltoffene und moderne Schule zu präsentieren, was zwar manchmal noch ein wenig Wunschgedanke war, sich aber langsam durchsetzte. Ich möchte den Modernitätsschub heute nicht mehr so unhinterfragt mit dem Auftauchen der ersten Jungs in Ver­ bindung bringen, wie dies damals im Selbstbewußtsein der ersten männli­ chen Abiturienten fest verankert war, dennoch bin ich immer noch über die Parallelität der Ereignisse überrascht. Doch lassen Sie mich noch einmal zu­ rückblicken auf die ersten Jahre. Einen diskreten Charme entwickelten nicht nur viele Lehrer, sondern auch die Schulleitung und die Oberstufenschü­ lerinnen. Beim ersten Klassenausflug ließ sich die sonst so strenge Mathe­ matiklehrerin klaglos an den Marter­ pfahl fesseln, ganz im Stile eines ech­ ten Karl-May-Indianers, Muttergefühle entwickelnde Abiturientinnen nahmen es „mit Freuden" hin, im Schulhof bis auf die Haut naßgespritzt zu werden, und die Direktorin verteidigte „ihre" Jungs gegen die Traditionalisten im Kollegium. Im Gefühlsleben des Fünft- kläßlers war allerdings dann die Gren­ ze erreicht, wenn er sich in seinem Mannsein allzu sehr verharmlost sah. Nie werde ich den Ärger vergessen, den ich verspürte, als ich beim Kreide­ holen in einer Oberstufenklasse lust­ vollem Entzücken ausgesetzt war: „Mein Gott, ist der goldig!" Die Jahre zwischen der fünften Klasse 98 Ob diese Oberstufenschülerinnen des Lessing-Gymnasiums 1974 es „mit Freu­ den" hingenommen hätten, naßgespritzt zu werden, wie Andreas Ramin es formulierte, bleibt dahingestellt und dem Abitur verfliegen auf dem Pa­ pier allzu schnell. Während in der Schule mit jedem neuen Jahrgang die Minderheit nachhaltiger vertreten war, schrumpfte die Anzahl der männ­ lichen Mitglieder in unserer Klasse mit zunehmendem Alter. Die Gefühle, die sich damit verbanden, dürften nie­ manden überraschen. Zunächst ent­ stand eine verschworene männliche Gemeinschaft, die sich gerade durch ihre zahlenmäßige Unterlegenheit be­ wußt von den Mädchen der Klasse abzugrenzen suchte. „Blöde Wei­ ber!" - Sie kennen diesen Ausspruch heranwachsender Männer, die nichts anderes sind als pubertierende Jungs. Doch gerade in dieser Phase verbringt das tägliche Zusammensein mit Mädchen in der Schule ihre kleinen und großen Wunder. Auf dem Weg zum Abitur, der durch einen weiteren Rückgang des männlichen Anteils der Klasse und später der Jahrgangs­ stufe gekennzeichnet war, kam dann die Phase, in der das Minderheitenda­ sein als durchaus angenehm be­ schrieben werden muß. Spätestens hier waren die Anfangsschwierigkei­ ten auf einem ehemaligen Mädchen- Gymnasium vergessen und verge­ ben. Als einziges männliches Wesen im Französisch-Leistungskurs: Ich müßte leugnen, dieses leichte sinnli­ che Prickeln nicht als angenehm emp­ funden zu haben. 55 Jungen lassen Mädchen nie mitspie­ len und sind gemein zu uns. „Das legt sich mit der Zeit", sagt meine Mut­ ter. Lieber bin ich ein Mädchen. Ein Mädchen war ich eigentlich schon im­ mer, dagegen kann man nichts ma­ chen. So lebe ich mit dem Ge­ schlecht, welches mir angeboren ist, und ich muß sagen, ich bin mit mir ganz zufrieden. Wenn ich ein Junge wär', dann war' ich eben ein Junge. Man soll mit dem zufrieden sein, was man ist. Ich könnte viele Antworten bringen, aber keine wäre wirklich rich­ tig. Deswegen schreibe ich auch keine richtige. Katrin, 5c CC Die Leichtigkeit, mit der ich den Über­ gang vom Mädchen- zum gemischten Gymnasium erlebt habe, möchte ich als Beleg für das Natürliche am ge­ mischten Unterricht anführen. Emanzi­ pation war auch für die Jungs - zumin­ dest in der Oberstufe - ein wichtiges Thema, aber keines, das in der Dis­ kussion die Errungenschaft der Ko­ edukation in Frage stellte. Aus der Sicht der ersten Mädchen, die die Ko­ edukation erfahren haben, mag dieses Urteil vielleicht anders ausfallen, aber­ ehrlich gesagt - ich glaube es nicht. Dennoch möchte ich einen kritischen Aspekt, der in der Abiturzeitung des ersten gemischten Jahrgangs geäu­ ßert wurde, nicht unterschlagen. Hier beschrieb eine Abiturientin ihre eigene Minderheitenproblematik folgender­ maßen: Allein unter Wölfen! „Mädchen zu sein ist manchmal ganz schön schwer! Das mußte man feststellen, wenn man zu den bedauernswerten Kreaturen gehörte, die ihre Leistungskurse aus dem mathematisch-physikalischen Bereich wählten und dazu noch weib­ lichen Geschlechts waren. Das wenig­ ste, was man zu hören bekam, war: ,Was, du hast Mathe und Physik? Na dann viel Spaß!' oder: ,Sie als Mäd­ chen? Ja, meinen Sie, daß das das richtige ist...?' - und dann noch die etwas unverschämteren Bemerkun­ gen: .Mädchen haben kein räumli­ ches Vorstellungsvermögen, keine mathematischen Fähigkeiten und kön­ nen nicht logisch denken' - oder auch nur das vielsagende .Sumpfhuhn.' All diese Meinungen kamen nicht ohne die tatkräftige Mitwirkung gewisser 55 Ich wäre gern ein Mädchen, weil sie viel mehr an sich hübsch machen kön­ nen mit Make up und Frisuren; Jungen dagegen können sich höchstens sty­ len. Tilman, 5c CC 99 7973-1982. Der erste gemischte Jahrgang des Lessing-Gymnasiums hat das Abitur gemacht Lehrer zustande, die ihre Kräfte besser darauf verwendet hätten, zu nutzen als zu schaden. Aber was einen nicht umbringt, das härtet ab, und so geht man, gewissen Bemerkungen gegen­ über gleichgültig, ,den Weg in den neuen Lebensabschnitt'. Unbestritten aber bleibt, daß die zwei Jahre sich hätten angenehmer gestalten kön­ nen, was denn wohl auch zu einem besseren Abschluß geführt hätte. Jedoch: Hoch lebe das Vorurteil, denn sonst müßte man sich ja eine eigene Meinung bilden, und dazu müßte man nachdenken, was viel zu anstren­ gend ist." Sicherlich ist hiereine bedenkenswerte Seite der Koedukation angesprochen, die ja immer wieder von ihren Gegnern und Gegnerinnen angeführt wird: Ge­ meinsamer Unterricht unterstützt das traditionelle Rollenverständnis, und die mathematisch-naturwissenschaft­ liche Förderung der Mädchen kommt zu kurz, ja findet eigentlich gar nicht statt. Hier liegen Defizite, die es immer noch auszugleichen gilt. Projekte wie „Mädchen und Naturwissenschaften" leisten einen wichtigen Beitrag dazu. 55 Im Sport wäre ich schon gern ein Jun­ ge, denn da machen wir so oft Jun­ genspiele. Auch in den Berufen wie Automechaniker, Geschäftsführer, Dachdecker wäre Junge sein be­ stimmt ganz schön. Trotzdem, ich möchte kein Junge sein, weil sie keine Röcke oder Kleider tragen kön­ nen. Mädchen können 1. alle Klamot­ ten anziehen und 2. sehen sie meist besser aus. Außer bei Tieren, da sind die Männchen hübscher. Nastassia, 5c a Ein weiterer wesentlicher Ansatzpunkt müßte jedoch die Lehrerausbildung sein, wo dieses Thema viel zu kurz kommt. Verständlich, wenn man sich die Anzahl der weiblichen Lehrkräfte an den schulpädagogischen Semina­ ren anschaut? Und dennoch lautet mein Urteil und hoffentlich auch das der weiblichen Mehrheit meiner ehemaligen Klassen­ kameradinnen: Schule darf auf die Na­ türlichkeit im Umgang der Geschlech­ ter nicht verzichten, sie darf sich vor allem nicht von der Wirklichkeit entfer­ nen und das gemeinsame Kennenler­ nen von Welt ausgerechnet in einem zentralen Lebensbereich von Kindern und Jugendlichen unterbinden. Fazit: Mit der Koedukation hat sich das Les- sing-Gymnasium weiterentwickelt, zu seinem Vorteil, wie ich nicht nur hof­ fe, sondern mir ganz sicher bin ... und die ersten Jungs haben sich auf dieser Schule - mit den üblichen Ab­ strichen - zusammen mit den Mäd­ chen wohl gefühlt. 100 „Das goldene Blatt" Phantasie ließe sich verstehen als Möglichkeit zur geistigen Bewegung in Raum und Zeit, über alle Grenzen der Wirklichkeit hinweg. Liegt darin ein Grund für das brennende Interesse von Kindern an diesen Dingen? - Eine fünfte Klasse setzte sich mit dem Thema „Schule in der Zukunft" auseinander. Das Stichwort war gegeben - die Zeitreise in Aufsatzform konnte beginnen. Thema und Ort des Geschehens standen fest, alles andere blieb der freien Bewegung einer Phantasiegeschichte überlassen. Die Schülerinnen und Schüler Anna Rösinger („Das goldene Blatt"), Ute Schulte („Das Traumei"), Sebastian Gluch („Die Lessing-Zeitmaschine") und Paul Popa („2001") haben diese Bewegungsfreiheit aufs reizvollste genutzt, um nun darin die „Zeitschranken" zu überwinden, mit Hilfe von „Zukunftsmaschinen" turbulente Entdeckungen zu machen oder auch nur per Computer Spickzettel zu erstellen. Melina träumt, die Architektin ihrer Schule zu sein. Blick ins Treppenhaus ... 101 ... und Fassadenausschnitt vom Hof des Lessing- Gymnasiums Melina sah zum Fenster hinaus. Es regnete in Strömen. Ihr schössen vie­ lerlei Gedanken durch den Kopf. Sie dachte: „Jungen kann ich nicht lei­ den. Es müßte eine Schule für Mäd­ chen geben, für Mädchen ganz al­ leine." Plötzlich fiel ein Blatt auf das Fenster­ brett. Als Melina es genauer betrach­ tete, sah sie, daß es goldschimmernd war. Sie merkte, daß mit dem Blatt etwas Besonderes los war. Sie seufzte, denn sie mußte die Hausauf­ gaben hinter sich bringen. Als diese erledigt waren, legte sie sich kurz hin, um sich auszuruhen. Sie hatte einen seltsamen Traum. Sie träumte, sie wäre eine junge Frau, die im Jahre 1893 mit viel Mühe das Studium der Architektur hinter sich gebracht hatte. Jetzt war sie eine Architektin, ihr erster Auftrag war der Bau einer Schule. Als sie den vorgesehenen Bauplatz be­ sichtigte, der in der Sophienstraße lag, und sie über dies und das nach­ dachte, erinnerte sie sich an ihre Mäd­ chenzeit. Sie erinnerte sich daran, wie schwierig es für sie und die anderen Mädchen gewesen war, weil die Jun­ gens sich in fast allen Fächern immer größer vorkamen und sich vordrängel­ ten. Sie dachte auch daran, daß jenes Gymnasium, das sie bauen wollte, eine Mädchenschule sein sollte. Als sie sich ihrer Arbeit widmete, fing es plötzlich an zu regnen. Da es Herbst war, fielen auch Blätter. Melina arbei­ tete weiter, als plötzlich das goldene Blatt vor ihre Füße fiel. Nun wußte sie, daß sie die Erbauerin dieser Mäd­ chenschule sein wollte. Als sie schließ­ lich nach schwerer Arbeit stand - sie sah sehr originell aus -, und die neuen Schüler nach der Eröffnung der Schu­ le, die 1911 war, hineinströmten, wachte Melina auf und war wieder die normale Melina. Aber, war sie vielleicht wirklich die Er­ bauerin der Mädchenschule? 102 „Das Traumei" Es war Mittag, und die kleine Lisa kam erschöpft von der Schule nach Hause. Sie ging in den Garten und setzte sich in den Liegestuhl. Nach einer Weile schlief sie ein und fing an zu träumen. Lisa sah im Traum ein riesengroßes Ei im Garten stehen. Sie ging näher her­ an. Da sah sie eine Tür an dem Ei. Lisa öffnete die Tür und stieg hinein. Dort waren lauter Knöpfe, auf denen ver­ schiedene Dinge zu lesen waren, zum Beispiel „Eiszeit" oder „Stein­ zeit". Auf einem stand „Zukunft". „Den drücke ich, mal sehen, was pas­ siert!" Kurz darauf begann das Ei zu schleudern, und Lisa flog hin und her. Als das Ei wieder stillstand, stieg sie aus. „Wo bin ich?", fragte sie sich. Sie war ins Jahr 2000 geschleudert worden. Als Lisa sich umschaute, sah sie, daß sie vor einer Schule ge­ landet war. Sie las an dem Gebäude: „Lessing-Gymnasium Jungenschule." Lisa war neugierig und wollte wissen, wie es in der Jungenschule so zugin­ ge. Also verschlug sie einen Jungen, zog ihm die Schulkleider aus und fes­ selte ihn. Schnell zog sie sich die Klei­ der über, ging ans Eingangstor und schaute hinein. Da kam ein Mann an­ gelaufen und sagte: „Ja, da haben wir ja einen neuen Schüler! Na, dann komm mal mit!" Er nahm Lisa mit in einen Raum, an dem „Direktion" ge­ schrieben stand. Lisa stellte sich mit falschem Namen vor. Nun brachte der Mann sie in eine Klasse, und Lisa setzte sich an einen Tisch. Die Lehre­ rin sagte: „Wir haben Geschichte. Heute beschäftigen wir uns mit dem Thema ,Lessing-Gymnasium im Jah­ re 1972'. Da war die Schule ja noch ein Mädchen-Gymnasium." Plötzlich rief ein Junge: „Mädchen sind doof!" „Das stimmt nicht! Alle sind gleich gut, Mädchen und Jungen!", rief Lisa und zog wütend ihre Mütze vom Kopf. Da sahen alle, daß Lisa ein Mädchen war, und schrien: „Du hast hier nichts zu suchen!" Lisa lief so schnell sie konnte zum Ei und stieg hinein, denn ein Junge rannte hinter ihr her. Schnell drückte sie den Knopf, auf dem 1993 stand. Nun wirbelte es Lisa wieder durch das ganze Ei. Ihr wurde schwin­ delig, doch auf einmal tippte ihr je­ mand auf die Schulter, und Lisa wach­ te auf. „Du hast geschlafen, Lisa", sagte eine Stimme hinter ihr. Als Lisa sich um­ drehte, stand ihre Mutter hinter ihr. Sie hatte eine große Schüssel mit Pud­ ding in der Hand und sagte: „Laß es dir schmecken." Als Lisa am nächsten Tag in die Schule ging und alles er­ zählte, war die Klasse baff, und jeder dachte: „Hoffentlich wird der Traum nie wahr!" 103 „Die Lessing-Zeitmaschine" „2011 Wir haben jetzt das Jahr 1993, und in unserer Schule geht es ziemlich heiß her, denn die Jungs ärgern die Mäd­ chen und umgekehrt. Trotzdem vertra­ gen wir uns ansonsten ziemlich gut. Eines Tages rief mich Professor Schlauhirn an und fragte, ob ich seine Zeitmaschine testen würde. Natürlich sagte ich zu. Der Professor zeigte mir die Maschine, die wie ein Sessel aus­ sah. Ich setzte mich hinein und gab das Jahr 1972 an. Sofort fing die Maschine an zu arbeiten. Etwa nach zwei Minu­ ten kam ich 1972 im Lessing-Gymna- sium an und sah nur Mädchen im Gang. Sie zogen sich gegenseitig an den Haaren und prügelten sich. Ich hatte einen unsichtbar machenden An­ zug mitgenommen und schmuggelte mich in den Unterricht. Auf einmal kam Herr Sauer ins Klassenzimmer spaziert und sagte: „Guten Morgen, liebe Mädchen!" Die Mädchen taten so, als hätten sie ihn nicht gehört und plauderten weiter. Da schmiß er wü­ tend sein dickes Lesebuch auf den Pult. Sofort war es still. „Wir wiederho­ len heute die Grammatik!" Die Mäd­ chen seufzten und holten ihre Spick­ zettel heraus. Als die Stunde zu Ende war, raste ich zu der Zeitmaschine, tippte das Jahr 2000 ein und drückte auf START. Kurz darauf war ich wieder im Lessing-Gymnasium. Diesmal zo­ gen sich nicht mehr die Mädchen ge­ genseitig an den Haaren, sondern die Jungens den Mädchen. Ich ging wie­ der in den Unterricht und fing an zu staunen, denn an jedem Platz war ein Computer, sogar am Pult des Lehrers. Schließlich kam wieder Herr Sauer her­ ein und sagte: „Guten Morgen!" Alle Mädchen und Jungs sangen zurück: „Guten Morgen, Herr Sauer." „Wir wie­ derholen heute die Grammatik." Alle seufzten und holten den im Computer eingespeicherten Spickzettel hoch. Nach der Stunde ging ich zur Zeitma­ schine: „Nichts wie zurück in das Jahr 1993!" Wir schreiben das Jahr 2011. Am Mor­ gen kommen die Mädchen des Les- sing-Gymnasiums wie jeden Tag um 7.45 Uhr zur Schule. Ihr müßt wis­ sen, daß das Lessing-Gymnasium ein reines Mädchen-Gymnasium ist. So war es auch bis 1973, als aus dem reinen Mädchen-Gymnasium ein gemischtes Gymnasium wurde. Ich, Esra Schmidt, komme jeden Morgen mit meinem Northrop B 2 Stealth Bomber zur Schule. Jedes Mädchen in der Schule hat einen Northrop B 2 Stealth Bomber. Die Straßenbahn ist schon längst aus der Mode. Jetzt ist die Lockheed F 117 A-Bahn der letzte Schrei. In der Schule unterrichten nicht mehr Lehrer, sondern Roboter, die für Mathe, Deutsch, Biologie, Welt­ raumkunde, Musik, Bildende Kunst, Religion, Englisch und Sport vorpro­ grammiert sind. Nur für Schwimmen haben wir keine Roboter, sondern stinknormale Lehrer; Bücher und Hefte existieren auch nicht mehr. Je­ des Mädchen, das ins Lessing-Gym­ nasium geht, hat einen eigenen Com­ puter. So braucht man auch kein Schreibzeug mehr. Ist das nicht toll! Zehnuhrpause bei Regenwetter im Trep­ penhaus. Die Knaben und Mädchen gehen gesittet diversen Beschäftigungen nach - zur Freude der aufsichtführenden Lehrerin 104 Schule und Gleichberechtigung Eine unendliche Geschichte? Schule und Gleichberechtigung - Frauenbeauftragte Annette Niesyto nennt Zahlen und Fakten, die mit manchem Voruteil aufräumen dürften. Ihr Blick auf die Schule ist eher skeptisch. Ihr Fazit: Es bedarf noch erheblicher Anstrengungen, bis auch das Bildungssystem seinen Beitrag zum Abbau der Geschlechterhierarchie und zum partnerschaftlichen Miteinander von Mann und Frau leistet. Die Gründung des ersten deutschen Mädchen-Gymnasiums 1893 in Karls­ ruhe war zweifellos ein Meilenstein auf dem Weg zur Gleichberechtigung von Frau und Mann, schuf sie die Voraus­ setzung für die - 1900 in Baden erfolg­ te - Zulassung von Frauen zum Stu­ dium und damit zu einer qualifizierten Berufstätigkeit. Dieser Erfolg war vor allem Ergebnis des hartnäckigen En­ gagements von Frauen der Frauenbe­ wegung, die für gleiche Chancen in der Bildung und politische Rechte für Frauen stritt. Es sollte allerdings noch fast 100 Jah­ re dauern, bis Mädchen beim Abitur mit den Jungen gleichzogen: Erst im Jahr 1991 erreichten in den alten Bun­ desländern die Mädchen bei den Schulabgängern mit allgemeiner Hochschulreife einen Anteil von 50 %; die Schulabgängerinnen mit Fachhochschulreife machen jedoch auch 1991 nur einen Anteil von knapp 38 % aus.1 Demgegenüber haben die Mädchen beim mittleren Bildungsab­ schluß die Jungen inzwischen sogar überholt. Voraussetzung hierfür war die Bil­ dungsreform in den 70er Jahren, mit der regionale, schichtenspezifische, konfessionelle und geschlechtsspezi­ fische Bildungsbenachteiligungen überwunden werden sollten. Bis zum Beginn der 70er Jahre betrug der An­ teil der Mädchen beim Abitur weniger als 40 %. Die weitere Entwicklung ist kritisch zu beobachten, deuten doch neuere Zahlen darauf hin, daß seit Mitte der 80er Jahre der Mädchenanteil bei den Schulabgängern mit Hochschul­ reife (Fachhochschulreife und allge­ meine Hochschulreife zusammenge­ nommen) rückläufig ist: Er sank von 47,4 % im Jahr 1985 auf 46,6 % im Jahr 1991.1 Im Stadtbezirk Karlsruhe ist auch bei den Abiturientinnen seit 1987 eine rückläufige Tendenz zu ver­ zeichnen. Dies zeigt sich insbesonde­ re bei den allgemeinbildenden öffentli­ chen Gymnasien, an denen der Abiturientinnen-Anteil von 49,6 % im Jahr 1987 auf 43,5% im Jahr 1992 zurückging.2 Frauen an der Universität: Trotz besserer Schulabschlüsse schlechtere Chancen Beim Studium und der akademischen Laufbahn zeigen sich geschlechtsspe­ zifische Ausleseprozesse; mit jeder weiteren Stufe verringert sich der Frauenanteil: Deutlich weniger Frauen als Männer mit Hochschulreife beginnen ein Stu­ dium. So hatten neun von zehn Män­ nern, aber nur zwei Drittel aller Frauen, die 1986 die Hochschulreife erworben hatten, bis zum Jahr 1991 ein Studium begonnen.3 In naturwissenschaftlichen und techni­ schen Studiengängen sind Frauen nach wie vor stark unterrepräsentiert. Mehr Studentinnen als Studenten bre­ chen ein begonnenes Studium ab.4 (Dies gilt allerdings gerade nicht für naturwissenschaftliche und techni­ sche Studiengänge.) Noch geringer ist der Anteil der Frau­ en, die erfolgreich promovieren/ Bei den Habilitationen sinkt der Frau­ enanteil weiter; er erreichte in den al­ ten Bundesländern nie mehr als 10 %.5 Unter den an den Hochschulen Leh­ renden finden sich nochmals weniger Frauen. Bei der höchstbezahltesten Professoren-Gruppe (C 4) ist gerade jede(r) 40. eine Frau.6 Entsch eidungsposition en sind nach wie vor überwiegend in Männerhand Nicht nur an den Universitäten, son­ dern auch in allen anderen gesell­ schaftlichen Bereichen sind Frauen in Führungspositionen nach wie vor eine Minderheit: Der Entwicklung besserer Bildungschancen für Mädchen und Frauen in der Schule folgten keine ent­ sprechenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. 105 In der Wirtschaft sind in den Spitzen­ funktionen seit Jahren nahezu unver­ ändert Frauen nur zu 4 % anzutref­ fen. Auf der mittleren und unteren Führungsebene konnten sie in den letzten Jahren jedoch zulegen. Das Berufsspektrum von Frauen ist nach wie vor erheblich enger als das von Männern. Frauen sind überwiegend auf den un­ teren Funktionsebenen beschäftigt, verdienen durchschnittlich fast ein Drittel weniger als Männer und sind von Arbeitslosigkeit überproportional betroffen.7 Auch in der Politik sind Frauen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Zwar wurden bei den letzten Wahlen mehr Frauen als bisher in den Bundes­ tag gewählt, der von seinem Anspruch her alle gesellschaftlichen Gruppen angemessen repräsentieren soll. Die Mehrheit der Gesellschaft spiegelt sich in dessen Zusammensetzung je­ doch keineswegs wieder: Nur jede(r) fünfte(r) Abgeordnete ist eine Frau. In den Landesparlamenten schwankt der Frauenanteil zwischen 11 % und 34,8 %.7 In den Kommunalparlamen­ ten ist inzwischen jedes fünfte Rats­ mitglied eine Frau, wobei Großstädte einen höheren Anteil aufweisen. In Karlsruhe stellen Frauen ein knappes Drittel des Gemeinderats. Bildung allein reicht nicht Bereits 1969 wies Helge Pross in ihrer Untersuchung über die Bildungschan­ cen von Mädchen in der Bundesrepu­ blik darauf hin, daß „die Hebung des Bildungs- und Ausbildungsniveaus von Mädchen und Frauen für sich ge­ nommen nicht genügt, um ihre Teil­ nahme an außerhäuslichen Prozes­ sen, sei es in der Erwerbssphäre, sei es im öffentlichen Bereich, zu erhö­ hen. Bildung allein kann die soziale Un­ gleichheit nicht überwinden, und Bil­ dungsreformen ... bleiben nutzlose Investitionen, solange sie nicht mit an­ deren Maßnahmen verbunden wer­ den."8 Um das Gleichberechtigungsgebot unseres Grundgesetzes einzulösen, ist ein ganzes Bündel von weiteren Maßnahmen notwendig. Hierzu zählen die Schaffung rechtlicher Instru­ mentarien (unter anderem Gleichbe­ rechtigungsgesetz), gezielte Maßnah­ men in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, betriebliche Initia­ tiven zur Frauenförderung, die Schaf­ fung eines ausreichenden, bedarfsge­ rechten Kinderbetreuungsangebots, kulturelle Initiativen, die Installierung kommunaler Frauenbeauftragten ebenso wie konkrete Programme in der Schulpolitik. Schulreform im Interesse von Mädchen Es waren vor allem Frauen der neuen Frauenbewegung, die seit Ende der 70er Jahre die damals (und heute) weit verbreitete Auffassung widerleg­ ten, daß mit der Bildungsreform und der Einführung der Koedukation die Benachteiligung der Mädchen im Bil­ dungswesen überwunden sei.9 Sie kritisierten die Schule als eine der zentralen Agenturen, die zur Auf­ rechterhaltung des überkommenen hierarchischen Geschlechterverhält­ nisses beitrage. Ihre Kritik bezog sich auf die Schulbücher und Lerninhalte, Hierarchien in der Schule, Interaktio­ nen und Sprachgebrauch und nicht zuletzt auf die Hausaufgabenpraxis, die in erheblichem Umfang die zusätz­ liche unbezahlte Arbeit der Mütter vor­ aussetzt.10 Diese Kritik wurde vor allem außerhalb der traditionellen Institutionen des Bil­ dungswesens formuliert und fand kaum Eingang in die Institutionen der Lehrer-Aus- und -Fortbildung.11 Imfol­ genden sollen kurz ausgewählte Be­ reiche in ihrer Entwicklung bezie­ hungsweise Diskussion dargestellt werden. Schulbücher - viel kritisiert und wenig geändert! Die Kritik an den einseitigen und damit diskriminierenden Darstellungen von Frauen in den Schulbüchern wurde von den für Bildung zuständigen Stel­ len der Länder und des Bundes aufge­ griffen. Bereits 1978 erfolgte auf Initia­ tive des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft eine Be­ standsaufnahme. Untersuchungen von Geschichts-, Mathematik- und Englischbüchern kamen zu folgen­ dem Ergebnis: In den Schulbüchern kommen Mäd­ chen und Frauen quantitativ erheblich seltener vor als Jungen und Männer, inbesondere sind sie als Handlungs­ trägerinnen stark unterrepräsentiert. Das in Schulbüchern dargestellte Tä­ tigkeitsfeld von Frauen beschränkt sich weitgehend auf haushält- und fa­ milienbezogene Tätigkeiten. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wird meist so dargestellt, daß Männer im öffentlichen und im priva­ ten Leben die Entscheidungen tref­ fen, während Frauen im wesentlichen dann solche Entscheidungen auszu­ führen haben. Weibliche Identifikationsmuster fehlen weitgehend. Die Lebenswirklichkeit von Frauen in unserer Gesellschaft - sowohl im Hin­ blick auf Belastungen und Konflikte wie auch hinsichtlich ihrer Teilnahme am Berufsleben und am öffenlichen Leben wird unzureichend dargestellt.12 Zu ähnlichen Ergebnissen kamen zahlreiche weitere Untersuchungen, die im Auftrag einzelner Bundeslän­ der erarbeitet wurden. Auch 1993 - seit der Bestandsauf­ nahme von 1978 sind immerhin 15 Jahre verstrichen - gilt die oben zitier­ te Analyse für die Mehrheit der zuge­ lassenen Schulbücher. So stellt bei­ spielsweise ein 1991 im Auftrag des Saarlandes vorgelegtes Schulbuch­ gutachten über 18 Lesebücher der Sekundarstufe I fest, daß keines (!) durchgehend als empfehlenswert zu 106 5 a Statt Ute und Peter kannst du auch andere Wörter schreiben! Sieh dir die Bilder an! Streiche aus! Sieh dir Peters Gesicht an! Der hat doch < f e i n e n Streich vor! •ÄJ } * \ j So wollte Peter seine Schwester erschrecken I Ute ist doch kein B • wie Peter, sondern ein r— -7 0 Dies Wörtchen kann man fast ~rr immer für Peter schreiben! H1^ Dies Wörtchen kann man fast - immer für Ute schreiben! 1 7 a Weißt du, welche Wörter zu Peter und welche zu Ute passen? Streiche aus! -..Ute Peter F Rollenklischees in Schulbüchern und Schreibheften. Deutschhausaufgaben 1993 für die zweite Grundschulklasse bezeichnen sei. Lediglich zwei Lese­ bücher - so das Gutachten - tendie­ ren zu einer ausgeglichenen, nicht durchgängig geschlechtsrollenstereo- typen Darstellung. Zwei weitere ent­ halten auch Ansätze positiver Identifi­ kationsmöglichkeiten für Mädchen. Die Mehrzahl - 14 Lesebücher - bie­ ten keine oder kaum nennenswerte Ansätze einer solchen positiven Iden­ tifikationsmöglichkeit. „Nur in einem Lesebuch (Wort und Sinn, Schöningh Verlag, Jahrgangsstufe 10) sind mehr als ein Drittel der dargestellten Perso­ nen Frauen und Mädchen. In vielen Lesebüchern liegt ihr Anteil sogar un­ ter 20 %. Das bedeutet: Schülerinnen haben im Vergleich zu Schülern we­ sentlich weniger Identifikationsmög­ lichkeiten. Die zahlenmäßige Überre­ präsentanz von männlichen Personen läßt sowohl bei Schülerinnen als auch bei Schülern den Eindruck entstehen, Männer und Jungen seien die eigent­ lich wichtigen Personen im beruflichen und gesellschaftlichen Leben."13 Bereits fünf Jahre vor diesem Gutach­ ten hatte die Konferenz der Kultusmi­ nister detaillierte Empfehlungen zur Darstellung von Frau und Mann in den Schulbüchern beschlossen. Of­ fensichtlich greifen Empfehlungen al­ leine wenig. Notwendig ist darüber hinaus die explizite Formulierung und Anwendung entsprechender Zulas­ sungskriterien sowie eine konsequen­ te Überprüfung bereits zugelassener Schulbücher durch die jeweiligen Kul­ tusministerien. Dies wird auch heute noch immer wieder von Frauenver­ bänden - wie erst kürzlich vom Lan­ desfrauenrat Baden-Württemberg - gefordert.14 Solange Schulbücher eine chancen­ gleiche Erziehung von Mädchen und Jungen ver- und behindern, können auch engagierte Lehrerinnen und Leh­ rer dies nur zum Teil über eine bewußte Auswahl und Ergänzung von Unter­ richtsmaterialien ausgleichen. Lehrpläne und Lehrplan-Kommis­ sionen Schule hat den Anspruch, Mädchen und Jungen auf ein gleichberechtig­ tes Leben in unserer Gesellschaft vor­ zubereiten. Hierzu benötigen Mäd­ chen und Jungen ein systematisches Wissen über die soziale Lage, die Be­ deutung und die Leistungen von Frau­ en in Geschichte und Gegenwart. Noch keine Schülerinnen- und auch noch keine Lehrerinnengeneration konnte dieses bisher im institutionel- 55 Jungs sind besser als Mädchen! Sie sind viel schlauer und kriegen Mus­ keln, weil sie kräftig rangenommen werden. Cemal, 5c 107 Mädchen sind geschickt: Sie können kochen und sind sehr beweglich. Jun­ gen sind stärker; sie müssen nicht den Haushalt machen, können gut Fußball spielen und sind sehr handwerklich! Manche Jungen sind Muttersöhne. Felix, 5c a len Rahmen unseres Schulwesens er­ werben beziehungsweise vermitteln. Somit wird Mädchen und Jungen ein wichtiger Teil der Realität vorenthalten: Wie sollen Mädchen ein positives Selbstwertgefühl entwickeln können, wenn sie nicht (ausreichend) Identifi­ kationsangebote und Kenntnisse weiblicher Traditionen erhalten? Wie sollen Jungen die Leistungen von Mädchen und Frauen kennen und schätzen lernen, wenn diese in der Schule nur punktuell und reduziert sichtbar werden? Vor allem in den letzten zehn Jahren hat die Forschung wesentliche neue Erkenntnisse über bisherige „blinde Flecken" erbracht. Das heute verfüg­ bare Wissen und die institutionellen Bildungsinhalte klaffen zunehmend auseinander. Diese Schere ist nur zu schließen, wenn die Erkenntnisse der Frauenforschung zur Kenntnis ge­ nommen und in bestehende Curricu- la integriert werden. Hierzu bietet die derzeitige Fortschreibung der Lehr­ pläne für die Schulen Baden-Württem­ bergs eine Chance. Als ein wesentliches Ziel dieser Lehr- planfortschreibung wird die gleichbe­ rechtigte Förderung von Mädchen und Jungen genannt. In den Kommis­ sionen, die diese Fortschreibung erar­ beiten, ist nicht einmal jedes fünfte Mitglied eine Frau, obwohl die Mehr­ zahl der an öffentlichen Schulen Un­ terrichtenden Frauen sind. Viele Kom­ missionen im naturwissenschaftlichen Bereich sind rein männlich besetzt, während die Kommissionen für Haus­ wirtschaft und Textiles Werken aus­ schließlich aus Frauen bestehen. Das Kultusministerium hat angekündigt, daß in der zweiten Arbeitsphase in je­ der Kommission mindestens eine Frau beziehungsweise ein Mann vertreten sein soll. Diese Unterrepräsentation von Frauen in wichtigen Gremien ist auch ein Aus­ druck der nachgeordneten Stellung von Lehrerinnen in der Schulhierar­ chie selbst, wurden doch für die Kom­ mission meist Fachberater, das heißt Funktionslehrende vorgeschlagen, und diese sind überwiegend männlich. Auch in der Schule: Karrieren für Männer - Barrieren für Frauen? „Männer, die unter der Leitung einer Frau stehen, werden nicht als vollwer­ tig angesehen", formulierte noch zu Beginn unseres Jahrhunderts der Ver­ band der Oberlehrer an Höheren Mäd­ chenschulen.15 Den uneingeschränkten Zugang zum Lehrerinnenberuf mußten sich Frauen erst gegen vielerlei ideologische und rechtliche Hürden mühsam erkämp­ fen. So waren Frauen in der Kaiserzeit der Unterricht in Jungen-Gymnasien ganz, der in den Oberstufen der Mäd­ chenschulen weitgehend verschlos­ sen. Darüber hinaus galt bis zur Wei­ marer Republik das „Lehrerinnen- Zölibat", das nur unverheiratete Frau­ en als Lehrerinnen im staatlichen Schuldienst zuließ. Mit der Heirat ver­ loren Lehrerinnen ihre Anstellung und ihre Altersversorgung als Beamtin. Der radikale Flügel der bürgerlichen Frau­ enbewegung und - später in den Jah­ ren des Ersten Weltkrieges auch der Bund Deutscher Frauenvereine - for­ derten die Abschaffung dieser Zöli­ batsklausel. Nach ihrer Abschaffung 1919 wurde sie jedoch 1932 erneu­ ert, als der Reichstag ein Gesetz be­ schloß, wonach weibliche Beamtin­ nen jederzeit entlassen werden konnten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie - wenn auch in abgeschwächter Form - erneuert: So beschloß 1950 der Deutsche Bundes­ tag ein Gesetz, das eine Verbeamtung von Frauen erst ab dem 35. Lebens­ jahr ermöglichte und die Möglichkeit vorsah, wirtschaftlich abgesicherte Beamtinnen zu entlassen. Begründet wurde das Lehrerinnen- Zölibat immer wieder mit der Verpflich­ tung des Beamten zur „vollen Berufs­ hingabe" und der vorrangigen Verant­ wortlichkeit der Ehefrau für die Haus­ haltsführung und Kindererziehung. Arbeitsmarktpolitisch diente es der Si­ cherung von qualifizierten, abgesi­ cherten Arbeitsplätzen für Männer in Zeiten wirtschaftlicher Krise. Diese rechtlichen Schranken weiblicher Be­ rufstätigkeit schwanden erst mit der Verabschiedung des Grundgesetzes und insbesondere des von Elisabeth Seibert erkämpften Gleichberechti­ gungsgrundsatzes. Mit der gesetzlichen Regelung des An­ spruchs von Beamtinnen auf Teilzeit­ arbeit und Beurlaubung schließlich, die 1969 - auf nachdrückliche, frakti- onsübergreifende Forderungen von Frauen und des Deutschen Juristin­ nenbundes hin - verabschiedet wur­ de, schienen für die Lehrerinnen die Zeiten ihrer Benachteiligung zu Ende zu sein. Mit den neuen Regelungen war ihnen eine kontinuierliche Berufs­ ausübung möglich. (Eine Beurlaubung von Vätern war in diesem Gesetz aller­ dings noch nicht vorgesehen und wur­ de erst Mitte der 70er Jahre möglich.) Die Gewerkschaft Erziehung und Wis­ senschaft löste 1974 ihren Bundes­ frauenausschuß auf, da nach ihrer damaligen Auffassung die Gleichbe­ rechtigung der Lehrerinnen bereits verwirklicht war. Dies mag heute ver­ wundern, da 1974 die neue Frauenbe­ wegung bereits massiv in der Öffent­ lichkeit präsent war. Im Vordergrund der Aktionen der Frauen stand der Kampf gegen den § 218, die Aufdek- kung der alltäglichen Gewalt gegen Frauen sowie die Forderung nach „gleichem Lohn für gleiche Arbeit". Frauendiskriminierung wurde hier mit Lohndiskriminierung gleichgesetzt. Seit ungefähr zwei Jahrzehnten stellen Frauen nun die Mehrzahl der im allge­ meinen Schulwesen Lehrenden. Be­ zogen auf die Schularten gilt dies 108 jedoch nur für Grund-, Haupt-, Sonder- und Realschulen. In den Gymnasien beträgt der Anteil der Leh­ rerinnen nur knapp 40%. Schullei­ tungspositionen werden überwiegend von Männern eingenommen - und zwar in allen Schularten. Die Karls­ ruher Daten vom Februar 199316 bele­ gen dies eindeutig. Besonders kraß ist das Mißverhältnis an den Grund- und Hauptschulen: Hier sind mehr als drei Viertel der Lehrenden Frauen, aber nur ein gutes Drittel dieser Schulen wer­ den von einer Frau geleitet. Nur eines der elf allgemeinbildenden staatlichen Gymnasien in Karlsruhe wird von einer Frau geleitet. Diese Unterrepräsentati­ on von Frauen nimmt mit steigenden Hierarchiestufen in der Schulverwal­ tung zu. Eine Ausnahme bildet hier die amtierende Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg, Marian­ ne Schultz-Hector. Hier zeigt sich - wie in allen gesell­ schaftlichen Bereichen - die typische Karrierepyramide: In den besser be­ zahlten und in den leitenden Positio­ nen dominieren die Männer. Da die in einer Schulart Lehrenden über einen formal gleichen Bildungs­ abschluß verfügen, können die Ursa­ chen für die geschlechtshierarchische Verteilung der beruflichen Positionen in der Schule nicht in der fehlenden formalen Bildung der Frauen liegen. Vielmehr muß zur Erklärung ein gan­ zes Bündel von Ursachen herangezo­ gen werden. Stichworte hierzu sind: Jungs haben den Vorteil, daß sie tech­ nisch und handwerklich begabt sind und größere Aufstiegschancen im Be­ ruf haben. Wir Mädchen können zwar Kleider und Röcke tragen und müssen nicht zum Militär, dafür haben wir spä­ ter die doppelte Belastung von Beruf und Haushalt und werden schlechter bezahlt als Jungs, obwohl wir gleich­ viel arbeiten. Stefanie, 5c a eingeschliffene Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster; die hartnäckige Verweigerung (auch der meisten der sogenannten „Neuen Väter") von Män­ nern, konkrete Familienarbeit zu über­ nehmen; die fehlende positive Erfah­ rung von Frauen, sich Raum zu nehmen und eigene Kompetenz offen­ siv darzustellen und vieles mehr. Was bedeutet dies für die Schülerin­ nen und Schüler? Kinder und Jugendliche nehmen sehr sensibel wahr, wer mit welchem Sta­ tus beziehungsweise welcher Macht­ position ausgestattet ist. Bereits beim ersten Kontakt mit der neuen Schule - bei der Einschulung - erleben die Kin­ der den Rektor/die Rektorin als Reprä­ sentant beziehungsweise Repräsen­ tantin der Schule. In besonderen Konfliktfällen in der Schule steht ein Gespräch mit dem „Direx" an. Die Wahrnehmung der ungleichen Macht­ verteilung zwischen Lehrerinnen und Lehrern in der Schule verfestigt Ge­ schlechtsrollen-Stereotype. Frauen werden als untergeordnete, zweitran­ gige erlebt. Schülerinnen brauchen Vorbilder, müssen diese im Alltag erle­ ben können. Sonst bleibt jede Gleich­ stellungsforderung leer. Die heimliche Macht der Alltags­ kommunikation Ende der 70er Jahre begannen Wis­ senschaftlerinnen in der Bundesre­ publik - angeregt durch Forschungs­ ergebnisse aus den USA - die alltäglichen Interaktionen in der Schu­ le zu untersuchen. Diese wechselsei­ tigen, prozeßhaften Handlungen zwi­ schen Personen sind komplex. Deshalb sind ihre Muster im Alltag schwer erkennbar und oft unserer be­ wußten Wahrnehmung entzogen. Ihre Beobachtung: Da mit der Einfüh­ rung der Koedukation keine methodi­ schen und didaktischen Konsequen­ zen entwickelt wurden, hat sich Koedukation bisher nur als formales, nicht aber als inhaltliches Prinzip von Schule erwiesen. „Ko-Edukation" ist in der Praxis vielmehr eine „Ko-Instruk- tion". Mädchen und Jungen werden zwar gemeinsam im Klassenverband unterrichtet - aber: Mädchen und Jungen verhalten sich unterschiedlich, ihr Verhalten wird von den Lehrenden unterschiedlich wahrgenommen, in­ terpretiert und beantwortet, Mädchen und Jungen lernen dabei Unterschiedliches. Durchschnittlich erhalten Jungen un­ gefähr zwei Drittel der Aufmerksam­ keit der Lehrenden. Mädchen erhal­ ten weniger Lob, weniger Tadel, weniger Rückfragen und Rückmel­ dungen, weniger Blickkontakt und we­ niger räumliche Nähe. Geringe Auf­ merksamkeitsverschiebungen zugun­ sten der Mädchen wurden von allen Beteiligten - Mädchen, Jungen und Lehrenden - als eine Bevorzugung der Mädchen wahrgenommen, auch wenn Mädchen noch nicht einmal die Hälfte der Aufmerksamkeit erhielten. Dies zeigt, daß wir hier unsere Wahr­ nehmung filtern.17 Eine Grundlage für die größere Auf­ merksamkeit, die Jungen in der Schu­ le erhalten, ist die Erwartung von Leh­ renden, daß Disziplinstörungen stärker von Jungen ausgehen, die „von Hause aus" aggressiver seien. Was Mädchen alles entgeht, während sie scheinbar so gut zurechtkommen, tritt weniger offen zu Tage. Damit verkehrt sich ein Verhaltens-Vor­ teil von Mädchen in eine Benachteili­ gung: Über die ungleiche Aufmerk­ samkeitsverteilung lernen Mädchen yy Mädchen sind immer fleißig: Sie ma­ chen ziemlich oft Handarbeiten und haben deshalb keine Zeit, sich zu prü­ geln. Wir Jungs mögen lieber Technik und Logik und sind nicht so empfind­ lich, dafür aber ein bißchen brutal. Peter, 5c CC 109 und Jungen, daß es „normal" ist, wenn Jungen mehr Raum einnehmen, daß Jungen dominieren dürfen. Mädchen werden so in ihrer Zurücknahme ge­ genüberjungen nur noch bestärkt. Mädchen und Jungen werden für Un­ terschiedliches gelobt und getadelt. Mädchen erhalten Lob vor allem für soziales Verhalten und Ordentlichkeit. Deutlich seltener als Jungen werden sie für Leistungen gelobt, obwohl ihre Leistungen oft besser sind als die der Jungen. Tadel gegenüber Mädchen bezieht sich überwiegend auf Leistun­ gen, das heißt Mädchen erleben Re­ aktionen auf Leistungen vor allem bei ungenügenden Leistungen. Ihre guten Leistungen werden oft nicht explizit wahrgenommen und benannt. Erhal­ ten Mädchen Lob für gute Leistun­ gen, so bezieht sich dieses häufig auf nicht-intellektuelle Aspekte, zum Bei­ spiel Fleiß, Ordentlichkeit. Damit wird ihnen Unterstützung vor­ enthalten, die notwendig ist, um ein Zutrauen in eigene Fähigkeiten, um Selbstbewußtsein zu entwickeln. Mädchen deuten Mißerfolge in der Schule häufig als Ausdruck der Gren­ ze ihrer Fähigkeiten und erleben diese nicht als Ansporn zu verstärkten eige­ nen Bemühungen. Die guten schuli­ schen Leistungen der Mädchen schlagen sich nicht in der Entwick­ lung eines entsprechenden Selbstbe­ wußtseins nieder. Zugespitzt formu­ liert: Mädchen sind besser, Jungen fühlen sich besser. (Allerdings muß hier darauf hingewiesen werden, daß die Unterschiede im Selbstvertrauen nicht allein durch schulinterne Fakto­ ren erklärbar sind.) Ihre guten Leistun­ gen werten Mädchen demgegenüber häufig als Resultat eines entspre­ chenden Verhaltens. Auch Jungen führen die (häufig besseren) Leistun­ gen von Mädchen oftmals nicht auf deren intellektuelle Fähigkeiten, son­ dern auf das Verhalten oder die Be­ ziehung der Mädchen zu den Lehren­ den zurück und interpretieren diese als Ergebnis einer ungerechtfertigten Bevorzugung der Mädchen durch die Lehrenden. Jungen erhalten Lob fast ausschließ­ lich für Leistungen oder aber für Ver­ halten, das eher dem Mädchen-Ste­ reotyp entspricht. Tadel bezieht sich bei ihnen vor allem auf ihr Verhalten.18 Insgesamt führen Tadel bei Jungen selten zu tiefgreifenden Verunsiche­ rungen hinsichtlich ihrer eigenen Fä­ higkeiten. Jungen führen Leistungs­ mängel auf Verhalten zurück: „Ich könnte ja, wenn ich nur wollte". Gleichzeitig interpretieren Jungen Tadel als Bestätigung ihrer männli­ chen Rolle.19 Auch in der Schule ist Gewalt gegen Mädchen alltäglich. Monika Barz stellte bei Interviews mit Schülerinnen und Schülern von insgesamt sieben sechsten Klassen fest, daß bei den Äußerungen, die die Beziehung zwi­ schen Jungen und Mädchen betref­ fen, Gewalt gegen Mädchen das am häufigsten genannte Thema war. Ob­ wohl nicht direkt nach körperlicher Ge­ walt gefragt war, schilderten 20 % aller Äußerungen körperliche Gewalt gegen Mädchen. Knapp die Hälfte aller Aus­ sagen von Mädchen schilderten, wie sie von Jungen geärgert oder geschla­ gen werden. Dem gegenüber berich­ teten nur 9 % der Jungen in ihren Aus­ sagen, von Mädchen geschlagen oder geärgert zu werden.20 Aus den Aussa­ gen der Schülerinnen und Schüler wurden zwei Begründungszusam­ menhänge deutlich: Mädchen werden häufig von Erwach­ senen in der Schule in Schutz genom­ men. Die Jungen ärgern sich, daß Jungen Mädchen nicht schlagen dür­ fen, während Mädchen, die Jungen schlagen, nicht immer in gleicher Wei­ se von Lehrenden zurechtgewiesen werden. Jungen deuten dies als unge­ rechte Bevorzugung der Mädchen und reagieren mit Wut und Aggressi­ on. (Mit einer Parteinahme für die Mädchen werden ihnen oftmals zugleich die Möglichkeiten einer eben­ bürtigen Auseinandersetzung genom­ men, erleben sie sich als hilfs­ bedürftige und können eigene Stär­ ken weniger entwickeln.) Jungen schlagen, weil sie ihre eigene Vormachtstellung in der Schule in Ge­ fahr sehen und die leistungsmäßigen Stärken der Mädchen als Bedrohung für die eigene Identität erleben. Zu­ gleich interpretieren sie diese auch als ungerechtfertigte Bevorzugung. (Diese vermeintliche Bevorzugung war auch das zweithäufigste Thema der Jungen, das häufigste war Abwer­ tung der Mädchen.) Aus diesen Erklärungen der Jungen selbst kann keinesfalls geschlossen werden, daß die Ursache von Gewalt gegen Mädchen primär im Verhalten der Lehrenden zu suchen ist. Viel­ mehr ist hier der Einfluß aller Sozialisie- rungsinstanzen zu sehen.21 Da es keine systematischen Untersu­ chungen zum realen Ausmaß von Ge­ walt gegen Mädchen in der Schule gibt, kann aus den Äußerungen der Kinder nur geschlossen werden, daß diese vorhanden und prägend für das Erleben der Beziehung zwischen Jun­ gen und Mädchen in der Schule ist. Wenn diese Gewalt nicht adäquat in der Schule thematisiert wird, verzich­ tet die Schule auf eine Chance, hier präventiv im Hinblick auf gesamtge­ sellschaftliche Gewalt gegen Frauen tätig zu sein und trägt umgekehrt dazu bei, Mädchen und Jungen früh­ zeitig an die „Normalität" dieser Ge­ walt zu gewöhnen. In der aktuellen Diskussion um Ge­ waltbereitschaft von Jugendlichen wird anerkannt, daß Gewalt fast aus­ schließlich von männlichen Jugendli­ chen ausgeübt wird. Gleichzeitig wer­ den aus dieser Erkenntnis jedoch (noch) keine systematische Schlußfol­ gerungen für die Entwicklung von Maßnahmen zur Prävention von Ge­ walt gezogen. Zahlreiche Gespräche mit Lehrerinnen und Lehrern in meiner alltäglichen Ar­ beit zeigten immer wieder: Lehrerin­ nen und Lehrer nehmen zunehmend diese alltägliche Gewalt wahr. Sie wol­ len dieser Gewalt Einhalt gebieten und ihr weiteres Entstehen verhindern. Um sie hierbei zu unterstützen, ist weitere 110 Getrenntgeschlechtlicher Unterricht, um Jungen und Mädchen gleiche Entwick­ lungschancen einzuräumen? Forschung ebenso wie die Entwick­ lung und Vermittlung konkreter Hand­ lungsmöglichkeiten notwendig. Diese müssen sowohl an der Stärkung der Mädchen als auch an den Entwick­ lungs-Bedürfnissen der Jungen orien­ tiert sein. Geschlechtsspezifische Be­ nachteiligungen in der Schule zeigen sich darüber in weiteren Bereichen - wie zum Beispiel im Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern -, die hier nicht weiter ausgeführt wer­ den sollen (vergleiche Festschriftbei- trag: Mädchen in naturwissenschaftli­ chen Fächern). Fazit Wenn die koedukative Schule Mäd­ chen und Jungen gleiche Entwick­ lungschancen eröffnen soll, wenn die Schule zum Abbau der Geschlechter­ hierarchie beitragen und die Chance zu einem partnerschaftlichen Mitein­ ander der Geschlechter nutzen will, sind tiefgreifende Veränderungen not­ wendig. Hierzu können die Erfahrun­ gen der zahlreichen Modellprojekte, die in den letzten Jahren entwickelt und durchgeführt wurden, genutzt werden. Notwendig ist die Entwicklung eines Mädchen- und Frauenförderpro- gramms für die Schule, das auf unter­ schiedlichen Ebenen ansetzt und die vorhandenen Einzelmodelle in die Re­ gelpraxis in der Schule überführt und weiterentwickelt. Hierzu gehört: Die Verankerung von Frauenforschung an den Hochschulen insbesondere auch an den pädagogischen Hoch­ schulen, die Aufgabe des Universalitätsan­ spruchs der Erziehungswissenschaft zugunsten eines geschlechtsdifferen­ zierten Blicks, die Entwicklung und Umsetzung von Aus- und Fortbildungskonzepten für Lehrende (Grundlagenkenntnisse über Identitätsentwicklung von Mäd­ chen und Jungen, Vermittlung profes­ sioneller Handlungsmöglichkeiten, mit denen im Unterricht Interaktionsstruk­ turen erkannt, der Interaktionsstil ver­ ändert und das Lernklima verbessert werden kann), die Revision der Lehrinhalte und ins­ besondere die Erweiterung des Bil­ dungsbegriffs im Hinblick auf Familien­ arbeit, die Überprüfung und Überarbeitung zugelassener Lehrbücher und Unter­ richtsmaterialien, die Entwicklung neuer Formen des „Team-teaching" und Angebote zur Unterrichtsbeobachtung und Beglei­ tung, (zeitweilig) geschlechtsgetrennte An­ gebote für Mädchen und Jungen, so zum Beispiel die systematische Ein­ führung eines naturwissenschaftli­ chen Förderangebotes für Mädchen und eines sozialen Förderangebotes für Jungen, die Installierung von Selbstverteidi- 111 Obersekunda 1931. Sittsamkeit unter den wachsamen Augen der Lehrer gungs- und Selbstbehauptungskur­ sen für Mädchen an allen Schulen, die Entwicklung und Umsetzung eines Konzepts der Berufsorientierung in der Schule, welches die gesamte Lebens­ planung - also nicht nur die Berufspla­ nung - von Mädchen und Jungen in den Mittelpunkt stellt, gezielte Frauenförderung im Schulbe­ reich, unter anderem die Installierung von Frauenbeauftragten für Schulen (wie in Berlin bereits geschehen). Auch wenn kommunale Frauenbeauf­ tragte nicht direkt zur Entwicklung ei­ nes solchen Programms beitragen können, da die Schulen der Kulturho­ heit der Ländern unterstehen, bieten sich ihnen dennoch auf örtlicher Ebene Ansatzpunkte für die Entwick­ lung konkreter Kooperationen mit den Schulen. Hierzu zählen Projekte zur Berufsorientierung (vergleiche: „Mäd­ chen machen Nägel mit Köpf(ch)en" - Ausstellung 1991 in Karlsruhe), Beteili­ gung an Fortbildungsveranstaltungen für Lehrende, ebenso wie die Unter­ stützung von konkreten Initiativen zur Prävention von Gewalt. (Die Sozial- und Jugendbehörde der Stadt Karlsru­ he hat hier bereits mehrfach Veranstal­ tungen mit und in Schulen durchge­ führt. Der Stadtjugendausschuß e.V. bietet in Zusammenarbeit mit den Schulen Selbstverteidigungskurse für Mädchen an.) Aufgrund der - in allen Städten gerin­ gen - personellen Kapazitäten kom­ munaler Frauenbüros/Frauenbeauf­ tragter konnten bisher nur in begrenz­ tem Umfang Initiativen entwickelt werden. Die bisherigen Erfahrungen hierbei dokumentieren jedoch eine hohe Motivation vieler Lehrerinnen und - wenn auch in geringerem Um­ fang - Lehrer, die eigene Praxis weiter­ zuentwickeln, um so auch den Inter­ essen von Mädchen gerecht werden zu können. Dies läßt hoffen. Sexta 1993: „Bloß cool bleiben." Lässig­ keit und Selbstbehauptung sind aus­ schlaggebende Faktoren 112 Anmerkungen: 1 Grund- und Strukturdaten des Bundes­ ministeriums für Bildung und Wissen­ schaft 1992/93, S. 95 2 Vom Büro der Frauenbeauftragten er­ stellte Tabelle 3 Grund- und Strukturdaten des Bundes­ ministeriums für Bildung und Wissen­ schaft, S. 164/165, S. 95 beziehungs­ weise S. 201 Unter den Studierenden lag der Frauen­ anteil in den letzten fünf Jahren bei unge­ fähr 38 % (1991: 38,7%). 4 ebenda, S. 233 und S. 264 Nur 36,4% derer, die 1990 die Hoch­ schulen mit bestandener Prüfung verlie­ ßen, waren Frauen. Dabei war ihre Stu­ diendauer im Durchschnitt kürzer als die der Männer. Im Jahr 1990 wurden nur 27,8 % aller Doktorprüfungen von Frau­ en abgelegt 5 ebenda, S. 259 6 ebenda, S. 254 7 Frauen in der Bundesrepublik, Bundes­ ministerium für Frauen und Jugend 1992, S. 50/51 Sie verdienten im Jahr 1991 als Arbeite­ rinnen durchschnittlich 70,8 % des Durchschnittslohns der Männer, als An­ gestellte kamen sie in Industrie und Han­ del nur auf 65,3 % des durchschnittli­ chen Einkommens der männlichen Angestellten 8 Helge Pross, Über die Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepublik, Frankfurt 1969, S. 104 9 siehe zum Beispiel die seit 1982 regelmä­ ßig stattfindenden bundesweiten Fachta­ gungen der AG Frauen und Schule 10 Uta Enders-Dragässer, Die Mütterdres­ sur. Eine Untersuchung zur schulischen Sozialisation der Mutter und ihrer Folgen, Basel 1981 11 Auf politischer Ebene wurde mit dem sechsten Jugendbericht der Bundesre­ gierung zum Thema Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen in der Bundesrepublik Deutschland (1984), dem UN-Frauenaktionsprogramm 1985, und dem EG-Programm Chancengleich­ heit von Frauen 1986 bis 1990 benachtei­ ligende Strukturen im Bildungswesen thematisiert und Veränderungen gefor­ dert " Zitiert nach: Ulrike Fichera, Elmar Weyershäuser, und drinnen waltet der tüchtige Hausmann", in: Schulbil­ dung und Gleichberechtigung, Brengel, Anedore und andere (Hrsg.), Frankfurt 1987 13 Margarte Kees, Mathilde Popesco, Charlotte Schießmann, Mädchen und Frauen in Lesebüchern der Sekundar­ stufe 1, Hrsg. vom Ministerium für Frau­ en, Arbeit, Gesundheit und Soziales und vom Ministerium für Bildung und Sport des Saarlandes, Saarbrücken 1991 14 Rundbrief des Landesfrauenrates Ba­ den-Württemberg, Mai 1993 15 Zitiert nach Christa Karras in: Karrieren für Männer, Barrieren für Frauen, Ta­ gungsdokumentation, Hannover 1992 16 Daten des Karlsruher Schulamtes, April 1993 Mehr als drei Viertel (76,3 %) der Leh­ renden an Grund- und Hauptschulen sind Frauen - aber nur ein gutes Drittel (34,8 %) dieser Schulen werden von ei­ ner Frau geleitet. Bei den Sonderschulen ist nicht einmal jede fünfte (18,2 %) Rek­ toratsstelle von einer Frau besetzt, wäh­ rend mehr als zwei Drittel (66,7 %) des Kollegiums Frauen sind. Auch bei den Lehrenden an den Realschulen sind Frauen in der Überzahl (56,3 %); an den neun Karlsruher Realschulen finden wir nur eine (11,1 %) Rektorin. Von den elf allgemeinbildenden staatlichen Gym­ nasien wird auch nur eines von einer Frau geleitet (9,1 %), hier beträgt der An­ teil der Lehrerinnen demgegenüber fast 40 % (39,1 %) 17 Uta Enders, Claudia Fuchs, Interaktionen in der Schule, Weinheim 1989 18 Für Jungen sind die Auswirkungen je nach Herkunftsschicht unterschiedlich: Für männliche Arbeiter - Jugendliche verfestigt sich hier eher ihre soziale Be­ nachteiligung !9 siehe auch Marianne Horst-Kemper, Schule, Geschlecht und Selbstvertrau­ en, Weinheim 1987 20 Monika Barz, Körperliche Gewalt gegen Mädchen in: Enders-Dragässer, Frau­ ensache Schule, Frankfurt 1990, S. 95 21 Lothar Böhnisch, Reinhard Winter, Männliche Sozialisation, Weinheim 1993, S. 63 bis 67 Und weiter? Politikerinnen nehmen Stellung Die Erben der 68er-Bewegung: Oberprima des Fichte-Gymnasiums 1974 114 115 Mädchenbildung und Erwerbsarbeit Nach dreißig Jahren Bildungsreform hat sich die Bildungsbeteiligung von Mäd­ chen in weiten Bereichen der von Jungen angeglichen. Der Übergang in die Erwerbstätigkeit (und erst recht der Verbleib) ist aber für Mädchen und Frauen immer noch um vieles schwieriger. Bundesministerin Angela Merkel schildert die Ursachen von Berufsproblemen der Frauen und nennt konkrete Ansatzpunkte politischen Handelns. Die Erziehung von Mädchen und jun­ gen Frauen orientierte sich im frühe­ ren Bundesgebiet bis in die Mitte der 60er Jahre weitgehend an traditionel­ len Rollenvorstellungen. Besonderen Wert wurde auf die Vorbereitung auf die Hausfrauen- und Mutterrolle ge­ legt. Inzwischen hat sich dies geän­ dert. Heute ist es selbstverständlich, daß Frauen eine qualifizierte Ausbil­ dung erhalten, und eine entsprechen­ de Berufstätigkeit in ihrer Lebens­ planung einen wichtigen Stellenwert einnimmmt. Die Mehrzahl möchte gleichzeitig Kinder haben. Die Chancengleichheit im Bildungs­ und Ausbildungsbereich ist wesent­ liche Voraussetzung für die Verwirk­ lichung der Gleichberechtigung in allen anderen Lebensbereichen. Ge­ rade im Bildungswesen sind in den letzten Jahrzehnten bei dem Versuch, Mädchen und Frauen gleiche Chancen für die Entfaltung ihrer Interessen, Fä­ higkeiten und Begabungen zu eröff­ nen, in den alten Bundesländern ent­ scheidende Fortschritte erzielt worden. Im Verlauf der letzten 30 Jahre sind die Anteile von Mädchen und Frauen an Realschulen, Gymnasien und Hoch­ schulen erheblich gestiegen. An Real­ schulen und Gymnasien sind sie be­ reits in der Mehrzahl, die Zahl der Abiturientinnen hat sich seit 1975 fast verdoppelt. Mädchen sind heute von der schulischen Ausbildung her zwei­ fellos ebenso qualifiziert wie Jungen. In der beruflichen Bildung hat sich die Situation von Mädchen und jungen Frauen ebenfalls verbessert. Der An­ teil der erwerbstätigen Frauen mit (ab­ geschlossener) beruflicher Ausbildung hat sich in den alten Bundesländern von 1970 bis 1989 von 38% auf 70% erhöht. Seit 1975 ist die Zahl der weiblichen Auszubildenden stän­ dig stärker gestiegen als die der männlichen. Rund 90 % der Mäd­ chen haben 1990 ihre Abschlußprü­ fungen bestanden, knapp 3 % mehr als ihre männlichen Kollegen. Auch der Anteil der Studentinnen an den Hochschulen hat sich in den al­ ten Bundesländern von 1972 bis 1990 deutlich erhöht. Gesamtdeut­ sche Erhebungen im Wintersemester 1991/92 weisen einen Frauenanteil von 38,7 % in den alten Bundeslän­ dern und 44,3 % in den neuen Bun­ desländern aus. Zu fragen ist jedoch, weshalb sich der Übergang in die Erwerbstätigkeit nach schulischer Ausbildung, Berufsausbil­ dung oder Studium vergleichsweise für Mädchen und junge Frauen we­ sentlich schwieriger gestaltet als für Jungen und junge Männer - ein seit Jahren nachgewiesenes, beklagens­ wertes Phänomen. Entscheidend er­ scheinen nach den vorliegenden Zah­ len und Studien dafür folgende Erkenntnisse: In den alten Bundesländern konzen­ trieren sich Frauen bei ihrer Berufs­ wahl auf relativ wenige Berufe. Fast zwei Drittel der erwerbstätigen Frau­ en sind in nur zehn Berufsgruppen tätig. Frauen arbeiten vor allem in Or- ganisations-, Verwaltungs- und Büro­ berufen, als Warenkaufleute sowie in Gesundheitsberufen. Trotz der sehr viel höheren Erwerbstä­ tigenquote von Frauen - es waren über 90 % berufstätig - konzentrier­ ten sich auch in der ehemaligen DDR die Frauen in Berufen, die ihnen die Vereinbarung ihrer Aufgaben in Beruf und Familie erlaubten. Mädchen wur­ den hauptsächlich in jenen Berufen ausgebildet, die schon bisher einen hohen Fräuenanteil aufwiesen. Lehr­ stellenangebote in technischen Beru­ fen gab es in den letzten Jahren des Bestehens der DDR immer weniger. Um diesem Trend entgegenzuwirken und um eine Erweiterung des Berufs­ spektrums für Frauen zu erreichen, fördert die Bundesregierung Maßnah­ men sowie Modellprojekte und führt Informationskampagnen durch, um Frauen den Einstieg in gewerblich­ technische Berufe zu erleichtern. Da­ bei besteht eine große Bereitschaft der Frauen, in nicht-frauenspezifischen Berufen zu arbeiten, allerdings ist das Angebot noch zu gering und auf ein­ zelne Regionen beschränkt. Hier gilt es, die Voraussetzungen dafür zu 116 schaffen, daß Frauen neue, zukunfts­ trächtige Arbeitsplätze übernehmen können. Der Anteil weiblicher Auszubildender in gewerblich-technischen Berufen ist in den letzten Jahren zwar deutlich ge­ stiegen, aber der Frauenanteil beträgt damit insgesamt nicht mehr als 8,9 %. Das ist keineswegs ein „Durchbruch", sondern allenfalls ein „Silberstreif am Horizont". Dabei fällt unter anderem auf, daß Mädchen ihre Ausbildungs­ verträge überproportional in diesen Bereichen gelöst haben (vor allem Hauptschülerinnen, wobei der haupt­ sächliche Grund in der Regel das Lei­ stungsversagen im mathematisch-na­ turwissenschaftlichen Teil ist). Dies verweist auf die Verpflichtung der Schule, die Entscheidung über Wahl- und Wahlpflichtfächer nicht ge­ schlechtsspezifischen Gewohnheiten auszuliefern. Gravierend ist auch, daß Mädchen seltener als Jungen in die­ sen Berufen ein Übernahmeangebot von den Ausbildungsbetrieben erhiel­ ten. Die Einlassung der Betriebe geht dahin, daß sie - bei ohnehin bestehen­ dem Facharbeitermangel - dem konti­ nuierlich zur Verfügung stehenden Mann den Vorzug vor der „vom Mutter­ schutz bedrohten" Frau geben. Eine Ausweitung des Berufswahlspek­ trums ohne gleichzeitige reale Auswei­ tung des Beschäftigungsangebots in diesem Bereich wäre ein verhängnis­ voller und unter allen Umständen zu vermeidender Irrweg. Eine weitere Überwindung ge­ schlechtsspezifischer Ungleichheit liegt in der Aufwertung und Qualifizie­ rung der typischen Frauenberufe, die regelmäßig durch schlechte Bezah­ lung und geringe Aufstiegsmöglichkei­ ten gekennzeichnet sind. Ein positiver Ansatz in dieser Hinsicht findet sich in der neu gestalteten Ausbildungsord­ nung für den Einzelhandel, durch die die bislang zweijährige Ausbildungs­ zeit um ein Jahr erweitert worden ist, um auf diese Weise die Chancen für eine berufliche Weiterbildung zu ver­ bessern. Darüber hinaus müssen, um die Er­ werbstätigkeit auch für Frauen mit Kindern zu ermöglichen, Rahmenbe­ dingungen geschaffen werden, die es ihnen erlauben, Beruf und Familie zu vereinbaren. Frauen heute wollen weder auf Beruf noch auf Kinder ver­ zichten. Zunehmend sind auch Väter bereit, sich an der Kindererziehung und -betreuung zu beteiligen. Der Staat, die Tarifparteien und die Betrie­ be sind gefordert, die Arbeitswelt fa­ milienfreundlicher zu gestalten. Hierzu gehört vor allem, daß die Arbeitszeit den Bedürfnissen von Familien noch besser angepaßt wird. Teilzeitarbeit auch in qualifizierter Form für Männer und Frauen wäre hier ein wichtiger Ansatz. Dabei muß ein ausreichen­ des Angebot von Kindergartenplät­ zen vorhanden sein und auch das An­ gebot von Ganztagsschulen erweitert werden. Neben ihrer Berufstätigkeit erfüllen Frauen vielfach Verpflichtungen in der Familie. Folge dieses „geteilten Ar­ beitsmarktes" ist, daß Frauen im Durchschnitt noch immer weniger ver­ dienen als Männer. Diese Einkom­ mensunterschiede beruhen immer we­ niger auf direkter Lohndiskriminierung, vielmehr haben sie „strukturelle" Grün­ de. Frauen sind nämlich vor allem in niedrigeren Lohngruppen beschäftigt, arbeiten weniger Stunden pro Woche, leisten in geringerem Umfang mit Tarif­ zuschlägen begünstigte Schichtarbeit, verbringen im Durchschnitt weniger Jahre im Beruf und gehen meist früher in Rente als Männer. Die Arbeitslosenquote der Frauen liegt über der der Männer. Bei der Frage nach den Ursachen sind folgende Punkte von Bedeutung: Der techni­ sche Wandel kostete bisher vor allem Arbeitsplätze im gewerblichen Be­ reich, die mit an- beziehungsweise un­ gelernten Frauen besetzt waren. Bei zunehmender Einführung von Informa- tions- und Kommunikationstechniken in Büro und Verwaltung muß auch dort mit einem Abbau von Arbeitsplät­ zen gerechnet werden, für die bisher nur geringe Qualifikationen erforder­ lich waren. Auf diesen Arbeitsplätzen sind zum größten Teil Frauen beschäf­ tigt (Bürogehilfinnen, Schreibkräfte). Hier müssen sich Frauen den Qualifi­ zierungsansprüchen stellen. Unqualifi­ zierte Arbeitsplätze werden maschinell ersetzt. Insofern ist das Problem der Arbeitslosigkeit eine Herausforderung an die Ausbildung der Frauen und Mädchen. Ein weiterer Grund ist darin zu sehen, daß viele Fauen aus familiä­ ren Gründen ihre Berufstätigkeit unter­ brechen. Ihre Berufsrückkehr nach dieser Familienphase ist oft mit gro­ ßen Schwierigkeiten verbunden. Chancengleichheit für Frauen auf dem Arbeitsmarkt ist daher noch nicht erreicht. Hier gilt es, durch ge­ zielte Maßnahmen - soweit als mög­ lich - einzugreifen und Aufklärungsar­ beit zu leisten. Mädchen haben bei gleicher Bildung nur dann dieselben Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wenn sie bereit sind, auch in gewerb­ lich-technischen Berufen tätig zu sein und sich nicht nur auf die begrenzte Auswahl der frauentypischen Berufe zu beschränken. Betriebe müssen den in nicht frauentypischen Berufen ausgebildeten Mädchen eine Be­ schäftigungschance geben, die der der Jungen entspricht. Typische Frau­ enberufe müssen durch Qualifizierung aufgewertet werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darf nicht mehr allein auf Kosten der Anstellungsmög­ lichkeiten und Karrierechancen von Frauen und Mädchen gehen. Viel­ mehr müssen die Rahmenbedingun­ gen so geändert werden, daß Arbeits­ zeit und Arbeitsbedingungen für Männer und Frauen familienfreundlich gestaltet werden. 117 Ministerinnen im Gespräch Gleichberechtigung und Schule heute Die Gründung des ersten deutschen Mädchen-Gymnasiums 1893 war ein Erfolg der damaligen Frauenbewegung; der Verein Frauenbildungsreform war zunächst Träger der Schule, die 1898 von der Stadt Karlsruhe übernommen und damit öffentliche Schule wurde. Wie beurteilen heute die für Schule und Frauen zu­ ständigen Ministerinnen des Landes Baden-Württemberg den Stand des Er­ reichten, wo sehen sie Handlungsbedarf und ihre politischen Möglichkeiten? Mit der Kultusministerin, Dr. Marianne Schultz-Hector, und der Frauenministerin, Brigitte Unger-Soyka, sprachen die Karlsruher Stadthistorikerin Dr. Susanne Asche und die Karlsruher Frauenbeauftragte Annette Niesyto. Asche: Mit der Eröffnung des ersten vollwerti­ gen Gymnasiums für Mädchen im September 1893 in Karlsruhe sollte auch ein Grundstein gelegt werden für die gesellschaftliche - und langfri­ stig auch für die politische - Gleichbe­ rechtigung der Frauen. Anita Augs- purg sprach damals davon, daß erst jetzt Frauen in Deutschland ihr Hei­ matrecht erworben hätten. 100 Jahre später ist die Zeit gekommen für eine Bilanz: Inwiefern ermöglichte die Gleichberechtigung in der Bildung auch die gesamtgesellschaftliche Gleichberechtigung von Frauen? Unger-Soyka: In den Anfängen der Frauenbewe­ gung - und auch der sozialdemokrati­ schen Bewegung - wurde der Bildung eine Schlüsselrolle für die Emanzipati­ on der Frau zugeschrieben: Nur über Bildung und Ausbildung der eigenen Fähigkeiten sei ein Mensch in der Lage, sich erstens selber kennenzuler­ nen und als Person zu begreifen. Zweitens ermögliche erst die Bildung, als wirklich mündiges Mitglied inner­ halb einer Gesellschaft an dieser mit­ zuarbeiten und diese aktiv gestalten zu können. Für mich ist dies nach wie vor ein ganz wichtiger Ausgangspunkt für viele Bereiche. Wenn man die Ge­ schichte der Frauen zuvor betrachtet, dann gelang es zwar einigen, auf Um­ wegen auch zu einer sehr umfassen­ den Bildung zu kommen. Dies waren in der Regel privilegierte Frauen, und sie hatten nicht die Möglichkeit, mit ihrer Bildung und ihrem Wissen in das Berufsleben einzusteigen. Inso­ fern glaube ich, daß damals der rich­ tige Ansatzpunkt gewählt wurde. Zu­ nächst ging es einfach um die gleichen Möglichkeiten der Ausbil­ dung und Bildung, um die Öffnung der Institutionen beziehungsweise die Gründung eigener Institutionen wie der des Mädchen-Gymnasiums. Und später, in der Nachkriegsgeschichte, war die Bildungsoffensive in den 70er Jahren für mich einer der wesentlichen politischen Erfolge. Hier gab es eine wirkliche Debatte. Obwohl ich damals noch recht jung war, kann ich mich gut erinnern, war es etwas Sensationelles. Breit diskutiert wurde, wer von unse­ rem Bildungssystem noch benachtei­ ligt ist. Die schlechtesten Startbedin­ gungen hatten Kinder mit folgenden vier Merkmalen: Mädchen, auf dem Land lebend, in einer Arbeiterfamilie und katholisch. Die öffentliche Diskus­ sion führte zu praktischen Konse­ quenzen, und dies gelingt gerade im Bereich der Politik ja nicht immer. Diese Bildungsoffensive war somit ein weiterer Meilenstein. Anders sieht es dann natürlich im höheren Bildungs­ bereich aus, zum Beispiel an den Uni­ versitäten. Hier sind Frauen nach wie vor entscheidend unterrepräsentiert. Dies können sie in den einschlägigen Statistiken genau erkennen. Schultz-Hector: Für mich stellt sich zunächst die Fra­ ge: Ist die Gleichberechtigung in der Bildung erreicht worden? Wir haben Erfolgszahlen in unserer Bilanz, aber wir haben auch noch ein paar Lük- ken, um die wir uns kümmern müs­ sen. Die Erfolgszahlen sind sicher überzeugend: Noch im Jahr 1970 ha­ ben 83 % der Mädchen den Haupt­ schulabschluß gemacht. Im Jahr 1987 haben erstmals die Mädchen entsprechend dem Anteil der weibli­ chen Personen eines Jahrgangs das Frauen haben den Haushalt, und Männer haben Kraft. Hakan, 5c 118 Kerstin, 6. Klasse, sieht es ganz klar: Vieles hat sich seit 1893 geändert. Heute ist die Frau berufstätig, und dem Mann bleibt die Hausarbeit zwischen Bügelwäsche und quäkenden Kindern überlassen Abitur abgelegt. Insgesamt sieht die Verteilung der Mädchen auf die drei Schularten bei uns so aus, daß wir in den Gymnasien mehr Mädchen als Jungen haben. Dies trifft auch für die Realschule zu. In der Hauptschule sind die Jungen stärker vertreten. Hin­ zu kommt, daß Mädchen wohl fleißiger sind, was oft schon mit einer leichten Geringschätzung konstatiert wird. Mädchen bleiben weniger sitzen und legen ihre schulischen Abschlüsse mit besseren Noten ab, wenn auch nur geringfügig. Lücken gibt es in den naturwissenschaftlichen Fä­ chern. Überall dort, wo gewählt wer­ den kann, neigen die Mädchen dazu, den Naturwissenschaften und Mathe­ matik auszuweichen. Das gilt für die Hauptschule ebenso wie für die Real­ schule, und das gilt auch - aber da nur eingeschränkt - für die gymnasiale Oberstufe. Niesyto: Frau Dr. Schultz-Hector, Sie weisen darauf hin, daß 1987 erstmals Mäd­ chen entsprechend ihrem Anteil an all­ gemeinbildenden Schulen das Abitur abgelegt haben. Frau Unger-Soyka mißt der Bildung eine Schlüsselrolle bei für die Entwicklung von Persönlich­ keiten und für die Herausbildung von Fähigkeiten zur aktiven Gestaltung un­ serer Gesellschaft. Die Frage für mich ist nun, welche Elemente zur Persön­ lichkeitsbildung vermittelt das Gymna­ sium heute den Mädchen, was lernen Mädchen heute im Gymnasium für ih­ ren gesellschaftlichen Standort? Wel­ che Leitbilder vermittelt das Gymna­ sium heute den Mädchen, wo erleben sie Vorbilder, wo erleben sie eine Bestätigung ihrer Fähigkeiten? Ist es so, wie Frau Dr. Asche vorhin zitierte, daß die Frauen heute ein Hei­ matrecht haben - sind Mädchen heute in den Gymnasien tatsächlich in die­ sem inhaltlichen Sinne zu Hause? Schultz-Hector: Davon bin ich überzeugt. Die Koedu­ kation hat mehr Vorteile gebracht als Nachteile. Das Zusammenleben in der Schule ist zu einer Selbstverständ­ lichkeit geworden. In der Pubertäts­ phase kann es hin und wieder zu Spannungen oder auch zu separatisti­ schen Tendenzen zwischen Mädchen und Jungen kommen. Dies ist etwas 119 völlig Natürliches, was am besten durch die Koedukation überwunden werden kann. Ich glaube, darüber braucht man heute nicht mehr zu re­ den. Wichtig erscheint mir vor allen Dingen, daß wir uns bemühen, die Jungen so zu erziehen, daß Partner­ schaft möglich ist. Ich bin davon über­ zeugt, daß wir viele der Probleme, mit denen wir uns abplagen müssen, nicht mehr hätten, wenn alle Aufgaben auf dieser Welt, die unbezahlt getan wer­ den müssen, wie zum Beispiel die Fa­ milientätigkeiten, gleichmäßig zwi­ schen Männern und Frauen verteilt wären. Hierfür scheint mir der erziehe­ rische Ansatz zu einer gelebten Part­ nerschaft in der Schule von zentraler Bedeutung. Ich habe mich viel mit der Frage auseinandergesetzt, ob Schule oder ob Gymnasium nicht pri­ mär nur für Jungen angelegt ist. Diese Frage möchte ich verneinen. Wir ha­ ben noch rollenbedingte Sperren, was den Zugang zu manchen Fä­ chern betrifft. Hier müssen wir uns überlegen, ob wir vielleicht mit vor­ übergehenden Angeboten nur für Mädchen bessere Einstiegschancen bieten können. Dies gilt zum Beispiel für die Informatik. Hier können wir eini­ ges verbessern. Die Arbeitsgemein­ schaften, die wir jetzt in Informatik nur für Mädchen eingerichtet haben, haben dazu geführt, daß sehr konse­ quent und entschieden gefordert wird, Französischangebote nur für Jungen zu entwickeln. Hierzu sehe ich eine gewisse Berechtigung. Der Fächerka­ non als solcher ist eigentlich nicht zu kritisieren. In Wahlbereichen zeigen Mädchen Abneigung gegen be­ stimmte Fächer. Dies pflanzt sich fort in der Berufswahl und in der Entschei­ dung für ein Studienfach. Unger-Soyka: Ich beurteile die Koedukation auch weitgehend positiv. Es wäre ein Rück­ schritt, wieder zu trennen und zu glau­ ben, Mädchen hätten nur dadurch Chancen, daß man sie unter sich läßt. Dies ist an der Realität vorbeige­ dacht. Auf Elternabenden erlebe ich allerdings oft, daß festgestellt wird, die Mädchen seien zurückhaltender und müßten sich eigentlich auch ein bißchen mehr durchsetzen, während die Buben sich ganz schön ihrem Temperament gemäß - und ich möchte mal sagen auch ihrem Rudel­ verhalten gemäß - benehmen. Hier würde ich ein Fragezeichen machen. 55 Ich denke, die Mädchen sind auch immer manchmal rüpelhaft, und daß die Jungs öfters dran kommen wie die Mädchen, das stimmt nicht. Ich denke, Jungen und Mädchen werden gleich behandelt, und in einer Stunde werden vielleicht die Mädchen ein biß­ chen mehr dran kommen oder änderst rum. Und daß Sport getrennt ist, ist gut, denn die Mädchen haben andere Interessen. Die Jungs möchten Fuß­ ball spielen und die Mädchen Völker­ ball oder was anderes. Deswegen denke ich ist das gut, daß wir ge­ trennt sind, denn ich möchte mal sa­ gen, daß die Mädchen nicht unbedingt Fußball spielen wollen. a Sollte es etwa ein Grundgedanke der Koedukation sein, daß Mädchen sich an dieses Verhalten von Jungen an­ passen sollen, oder - und ich glaube das entspricht auch mehr ihrem Sinne, Frau Dr. Schultz-Hector, - muß es nicht eigentlich umgekehrt laufen: Die Zielrichtung muß die Partnerschaft- lichkeit sein. Es dürfen nicht immer nur die einen sein, die sich anpassen müssen, die für sich schauen müssen, wie sie durch diese schwierigen Situa­ tionen durchkommen, während die anderen relativ rücksichtlichslos ihren Weg gehen können, weil im Prinzip zu Hause und auch in der Schule ge­ sagt wird: Na ja, die Buben sind halt so. Ich habe auch schon erlebt, daß die Jungen gewisse Präferenzen hat­ ten, die Mädchen andere und dann einfach mehrheitlich für den Wunsch der Jungen entschieden wurde - auch bei den Eltern. Hiermit müssen wir uns schon auseinandersetzen, und gerade deswegen finde ich es so positiv, daß jetzt bei der Novellierung des Schulgesetzes, was die Frau Kol­ legin im Kabinett vorgestellt hat, vom Kultusministerium auch der Begriff der partnerschaftlichen Erziehung mit ver­ ankert ist. Dies halte ich für einen wirk­ lichen Fortschritt. Subtile Diskriminierung im Unter­ richtsalltag Niesyto: Ich will hier noch einmal nachhaken: Ende der 80er Jahre wurde im Auf­ trag der Hessischen Landesregierung die sogenannte Interaktionsstudie erarbeitet. Ein Ziel war, über die syste­ matische Untersuchung von Alltags­ geschehen in Klassen herauszu­ finden, inwieweit dort Strukturen existieren, die Mädchen benachteili­ gen. Ein Ergebnis war, daß Mädchen weniger Zuwendung, weniger Unter­ stützung erhielten. Die Jungen beka­ men durchschnittlich mehr Redezeit, wurden stärker verbal unterstützt, ka­ men schneller an die Reihe, wenn sie sich meldeten. Geringe Aufmerksam­ keitsverschiebungen zugunsten der Mädchen, die noch nicht einmal an eine Gleichverteilung heranreichten, wurden von allen Beteiligten als eine Bevorzugung der Mädchen wahr­ genommen. Hieraus zogen die Wis­ senschaftlerinnen der Studie die Schlußfolgerung, daß die subtilen Me­ chanismen, mit denen Jungen bevor­ zugt werden, nicht bewußt sind, son­ dern in unserer Wahrnehmung ausgeblendet werden. Da unsere Wahrnehmung daran gewohnt ist, daß Jungen mehr Raum bekommen als Mädchen, nehmen wir Realität meist durch diesen erlernten Filter wahr. Wenn wir dieser Analyse fol­ gen, dann stellt sich die Frage, wo es Ansatzpunkte gibt, diese Strukturen aufzubrechen. Inwieweit gibt es bei Ihnen hierzu Überlegungen, wie sol­ che Erkenntnisse umgesetzt werden können? 120 Schultz-Hector: Wir haben uns sehr intensiv mit den Arbeitsgemeinschaften nur für Mäd­ chen in den Naturwissenschaften be­ faßt. Wir haben die Lehrerinnen und Lehrer befragt: Was ist anders bei den reinen Mädchengruppen? Inwie­ weit ist die Annäherung der Mädchen an die Informatik eine andere? Welche Erkenntnisse gewinnt ihr aus diesem Unterricht, die man auch für den Un­ terricht in gemischten Gruppen um­ setzen kann? Festgestellt wurde, daß Mädchen einen lebensnäheren Ein­ stieg bevorzugen und daß sie mehr ermuntert werden müssen, ihre Mei­ nung zu sagen. Keine Unterschiede wurden beobachtet zwischen dem Unterricht von Lehrerinnen und Leh­ rern - auch nicht von den Schülerin­ nen, merkwürdigerweise. Inzwischen haben wir nicht nur Arbeitsgemein­ schaften. An ein oder zwei Gym­ nasien findet auch in Physik ein ge­ trennter Unterricht statt. Hier hatten die Schulen ein Interesse daran, und die Gruppengrößen ermöglichten diese Trennung. Auch hier versuchen wir, aus dieser Arbeit für uns Erkennt­ nisse zu gewinnen. Inwieweit diese Dinge insgesamt in die Lehrerausbil­ dung und in die Fortbildung einflie­ ßen, kann ich noch nicht sagen. Auf jeden Fall findet hier eine Auseinander­ setzung statt. Ich selbst bin sehr viel in Schulen. Hier kann ich nicht beobachten, daß sich die Mädchen durch die Jungen domi­ nieren lassen. Ich glaube, alles in allem werden den Mädchen gegenüber keine allzu großen Fehler gemacht, weil man in den letzten Jahren viel sensibler geworden ist für dieses The­ ma. Im Gegenteil, es gibt ja schon Ge­ genreaktionen. Es gibt Leute, die mei­ nen, uns darauf aufmerksam machen zu müssen, daß wir nun endlich auch mal die Buben wieder mehr fördern müßten... Daß wir partnerschaftli­ ches Verhalten - auch im äußeren Sinn - ganz gut an die Jungen heran­ tragen, zeigt zum Beispiel das Inter­ esse an Kochkursen. Hier sind die Bu­ ben manchmal sogar in der Überzahl. Kochen ist eine männliche Kunst..., die mit Sorgfalt zelebriert werden will, soll das Ergebnis zur allgemeinen Zufriedenheit ausfallen Asche: Kochen ist auch eine männliche Kunst. Schultz-Hector: Ja, wenn sie so wollen. Ich freue mich über jeden, der Spaghetti kocht - auch ohne großen Anteil von Kunst. Aber es gibt natürlich zu denken, daß dort, wo Kochen hoch bezahlt wird, Männer sitzen. Niesyto: Sicherlich hat in den letzten Jahren eine Sensibilisierung stattgefunden. Vor allem Lehrerinnen, aber auch Leh­ rer bemühen sich, die eigene Praxis kritisch zu beobachten und weiterzu­ entwickeln. Subtile Formen von Be­ nachteiligungen im Alltagsgeschehen, in der Interaktion in der Klasse sind jedoch für uns alle meist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Die Aus­ bildung derer, die heute unterrichten, liegt oft viele Jahre zurück, und die Themen, die wir jetzt ansprechen, spielten damals noch keine Rolle. Und schließlich: Lehrerinnen und Leh- 121 rer stehen in der Regel alleine in der Klasse. Ist es in dieser Situation nicht notwendig, deren Bemühen durch Be­ gleitangebote wie Unterrichtsbeob­ achtung und Auswertung, Fortbil­ dung und anderes zu unterstützen? Wo sehen Sie als Kultusministerin hier Möglichkeiten? Schultz-Hector: Wir sind auf dem Wege, die Fortbil­ dung umzustellen entsprechend den Wünschen der Lehrer und Lehrerin­ nen. Gespräche über Unterricht, ge­ genseitige Unterrichtsbesuche sind ein Weg der schulinternen Fortbil­ dung, den wir außerordentlich propa­ gieren. Lehrerinnen und Lehrer neigen sehr oft zu einem Einzeldasein. Jeder macht seinen Unterricht. Jeder ist sei­ nem Fach verhaftet. Nachdem aber die erzieherischen Probleme zuneh­ men und auch die Schwierigkeiten der Lehrer, hoffe ich, daß es hier sehr viel häufiger den Brückenschlag gibt, daß man sich gegenseitig beobachtet und einander hilft. Gerade Lehrerinnen und Lehrer, die das Thema Mädchen­ bildung wichtig nehmen, sind bereit, sich gegenseitig auszutauschen. Unger-Soyka: Ich würde die Ergebnisse solcher Stu­ dien nicht überinterpretieren - den­ noch haben sie ihre Bedeutung. Wir können nicht vergessen, daß jeder, der in der Erziehung tätig ist, einfach auch eine eigene Sozialisation mitge­ macht hat. Ich glaube, wenn er sich noch so sehr bemüht um eine sensi­ blere Wahrnehmung, kann er doch manche Dinge als Person nicht ein­ fach abstreifen. Ich sehe dies auch bei mir selbst. Als Mutter habe ich mich schon oft genug dabei ertappt, wie ich zum Beispiel manche Dinge automatisch dem etwas kräftigeren Sohn zugemutet habe und den Mäd­ chen dann andere Aufgaben überließ. Ganz wichtig scheint mir, diese Dinge verstärkt in den Ausbildungsbereichen zu thematisieren und zu schulen. Dies betrifft Erzieherinnen und Erzieher, So- zialpädagoginnen und Sozialpädago- Als Mädchen hat man mehr Klamotten als die Jungs und kann schöne Sa­ chen kaufen. Aber man hat auch viele Nachteile: Man kann nicht so einfach alle Sportarten machen, man muß da­ heim rumsitzen und die Spülmaschine ausräumen. Aber das Schlimmste ist, wenn man sich anhören muß, wie die Erwachsenen sagen: Nein, laß das, das ist zu schwer für dich! Yasmin, 5c a gen und auch Lehrerinnen und Leh­ rer. Ich selbst habe an der PH Ausbildung gemacht und eine Son­ derschullehrerausbildung. Dabei bin ich auf keine entsprechenden Ange­ bote gestoßen. Meine Ausbildung liegt sicherlich einige Jahre zurück, aber ich habe nie gehört, daß solche Angebote jetzt wirklich sehr verstärkt entwickelt wurden. Ich glaube, wenn man das Glück hat, in der Ausbildung einen Professor oder eine Professorin zu haben, die sich damit beschäftigt, dann wird man hier sensibilisiert. Hier kann ich mir Ansatzpunkte vorstellen. Wir haben vorhin das Wort Partner- schaftlichkeit hervorgehoben. Mäd­ chen und Frauen sind teilweise an­ ders, nicht bloß durch die Erziehung, sondern auch durch ihre andere Kör­ perlichkeit. Wir sollten uns hüten, den Buben und den Mädchen in ihrer Kin­ der- und Jugendphase aufzuzeigen, daß sie anders werden sollten. Erzie­ hung sollte darauf abzielen, sich ge­ genseitig als wirkliche vollwertige Part­ ner zu akzeptieren. Dann zählt jeder wirklich gleich. Bezogen auf das Er­ wachsenenleben wäre dies dann wirk­ lich die Gleichberechtigung von Män­ nern und Frauen. Asche: Diese Diskussion knüpft im Grunde an die Diskussionen des letzten Jahrhun­ derts an. Die bürgerliche Frauenbewe­ gung, auf die ja auch die Gründung des ersten deutschen Mädchen-Gym­ nasiums zurückgeht, ging davon aus, daß es männliche und weibliche Cha­ raktere gibt. Sie wollte „die Gleichwer­ tigkeit des Ungleichen in der Gesell­ schaft hervorbringen". Sie kritisierte die Koedukation. Mädchen würden den männlichen Normen ganz und gar unterworfen werden und nicht mehr von Lehrerinnen, sondern von Lehrern unterrichtet. Damit sind wir bei der aktuellen Diskussion: Wie kann in der Schule diese Gleichwertig­ keit ermöglicht werden? ... und die Schulbücher? Niesyto: In diesem Zusammenhang muß nach den Identifikationsangeboten gefragt werden, die Mädchen und Jungen heute in der Schule gemacht werden. Es gibt zahlreiche Schulbuchuntersu­ chungen, die teilweise auch von den Ländern in Auftrag gegeben wurden. In allen Untersuchungen wurde und wird immer wieder festgestellt, daß diese Bücher überwiegend traditio­ nelle Rollenbilder vermitteln - die oft der Realität sogar hinterherhinken. Vielleicht ist dies am subtilsten in den Sachbüchern, wie zum Beispiel in Ma­ thematikbüchern, in denen dann - et­ was vereinfacht ausgedrückt - die Männer das Auto tanken und die Frau­ en Eier einkaufen. Ich kenne die Dis­ kussionen seit Mitte der siebziger Jah­ re, und ich frage mich, warum Veränderungen hier so zäh sind, war­ um - nach meiner Einschätzung - bis­ her kein wirklicher Durchbruch zu ver­ zeichnen ist. Welchen Stellenwert messen Sie den Rollenbildern in Schulbüchern bei und wie beurteilen Sie das Erreichte? Schultz-Hector: Ich messe den Schulbüchern einen hohen Stellenwert zu. Allerdings bin ich der Meinung, daß wir die Situa­ tion, die Sie geschildert haben, längst überwunden haben. Für uns gehört seit vielen Jahren zu den Kriterien der Schulbuchbegutachtung die Prüfung, ob hier nicht Klischeebilder im Rollen- 122 verhalten von Männern und Frauen enthalten sind. Ich sage auch immer wieder, ich möchte nicht, daß aus all unseren Schulbüchern eine Mutter mit einem Kind auf dem Arm völlig ver­ schwindet und die Mutter nur noch mit dem Aktenkoffer durch die Landschaft läuft. Wir haben mit den Schulbuch­ verlagen einen engen Kontakt bei die­ sem Thema. Ich bin überzeugt davon, daß wir da keine Schwierigkeiten mehr haben. Wenn Sie mich fragen, wo sind denn die Vorbilder in der Wirklichkeit - wo sind die Frauen, die Karriere ge­ macht haben, wo sind die Frauen, die in den Rundfunkräten sitzen und sich um die ganze Medienbeeinflus­ sung von Kindern kümmern, die ge­ rade auch im Zusammenhang mit un­ serem Thema nicht immer ideal ist - dann muß ich Ihnen sagen, daß dort hohe Defizite sind. Aber ich meine wirklich, bei den Schulbüchern finden wir sie nicht mehr. Schließlich haben wir auch in der Schule einen hohen Anteil von Frauen als Lehrerinnen. In der Grundschule überwiegen sogar die Frauen. Kinder finden heute in der Schule männliche und weibliche Vorbilder. Im Gegenteil, wir müssen heute für die Grundschulen überle­ gen, ob es denn so ideal ist, daß wir fast nur Lehrerinnen haben bei der großen Anzahl Kinder von Alleinerzie­ henden, die mit ihrer Mutter aufwach­ sen. Vielleicht gibt es dann manchmal zu wenig Männer als Bezugsperso­ nen. Asche: Wenn wir im Grundschulbereich hauptsächlich Lehrerinnen finden, im Gymnasium ein stärker durchmisch­ tes Kollegium mit wachsendem Frau­ enanteil und dann in die Universitäten schauen: da wird es dann ganz dünn. Das heißt, dort, wo das Wissen herge­ stellt wird, finden wir noch einen fast rein männlichen Bereich. Dies hat si­ cher etwas mit der gesellschaftlichen Anerkennung zu tun. Ich denke, hier müssen wir auch den Schulbereich verlassen, weil die Schule zwar eine wichtige gesellschaftliche Schnittstel­ le ist, aber andererseits sich an ihr da ein gesamtgesellschaftliches Problem kristallisiert: Es geht hier auch um die Verteilung von Macht. Unger-Soyka: Ja, das stimmt durchaus. Aber ich möchte noch einmal auf die Schulbü­ cher zurückkommen. Hier hat sich Jungen sind wilder als Mädchen, aber Mädchen sind auch wild. Ich finde nicht, daß Mädchen mehr bevorzugt werden als Jungs, und Jungs werden auch nicht mehr bevorzugt als Mäd­ chen. Ich finde es besser, daß Jungs und Mädchen in Sport getrennt wer­ den, denn die meisten Mädchen wol­ len keine Spiele spielen, die Jungs gern spielen (zum Beispiel Fußball), und andersrum ist es genau so. Ich als Junge finde, es wäre langweilig ohne Mädchen, denn man kann die Mädchen gut ärgern, aber manche treten dann. Nach meiner Meinung können viele Mädchen besser malen als Jungen. Manche Jungen können aber auch gut malen. a sehr viel verändert, vor allem im Lese­ buchbereich in den Grundschulen. Manchmal finde ich dies sogar für Grundschulkinder schon schwer zu verkraften, wenn zum Beispiel in ei­ nem Lesebuch eigentlich nur noch Fa­ miliensituationen dargestellt werden, in denen die Mutter traurig ist, weil der Vater sie gerade verlassen hat. Über diese Situationen wird sicher ge­ sprochen, und die Kinder erleben sie ja auch hautnah. Mir ist jedoch aufgefal­ len, daß zum Beispiel in den Sprach­ büchern, in denen es ja vorrangig nicht um den Inhalt, sondern um Grammatik geht, noch Klischees vorhanden sind. Zum Beispiel: Die Mutter kocht. Die Mutter kocht am Herd. - Da lesen sie nirgendwo, daß ein Vater kocht. Ge­ messen an unserer Schulzeit und an unseren Schulbüchern hat sich da dennoch gewaltiges geändert. Sehr viel stärker erlebe ich diese Rollenkli­ schees im Medienbereich, insbeson­ dere im Werbefernsehen, aber auch bei den Spielfilmen. Schultz-Hector: Das ganze Spielfilmprogramm ist viel stärker daraufhin zu untersuchen, ob es kinder- und jugendgerecht ist oder nicht. Unger-Soyka: Dies betrifft auch die Darstellung von Gewalt, die ja in der Regel mit einer männlichen Person verbunden ist. Hier könnte man wirklich ansetzen, um etwas zu verändern. .... zentral ist der erzieherische Ansatz zur gelebten Partnerschaft". Schultz-Hector: Für mich ist in diesem Zusammenhang die Erziehung zur Partnerschaft und zur Gleichberechtigung im Sinne von Familienerziehung und Geschlechts­ erziehung ein ganz wichtiger Bereich in der Schule. Wir brauchen die Fami­ lie. Die Kinder brauchen ihre Eltern dringend. All das, was wir jetzt an Schwierigkeiten im Kinder- und Ju­ gendbereich haben, resultiert zualler­ erst doch aus der Tatsache, daß den Kindern Liebe und Geborgenheit fehlt, daß niemand ihre Fragen beantwortet und niemand ihnen das Gefühl gibt, sie werden gebraucht, sie sind wich­ tig. Die Schule kann da nur in einem gewissen Sinne stellvertretend ein­ springen. Die Schule bemüht sich auch und muß sich bemühen, zu­ künftige Eltern zu erziehen, damit das Thema „Verantwortung im Zusam­ menleben" den Jugendlichen bewußt wird. Ich halte es für ungeheuer wich­ tig, daß wir versuchen, in Richtung Partnerschaft, Verläßlichkeit, Ehe und Familie zu erziehen und dabei auch alle Fragen des Geschlechtlichen in das Thema Verantwortung und Part­ nerschaft einzubinden. Deshalb än­ dern wir jetzt auch den Bereich der Geschlechtserziehung, in dem es ja 123 immer einen freiwilligen und einen ob­ ligatorischen Teil gab. Dafür braucht man sehr verantwortungsbewußte Lehrer und Lehrerinnen. Aber die Fra­ ge, wie leben die Geschlechter mitein­ ander, ist außerordentlich wichtig auch für die Kinder. In diesem Bereich ha­ ben wir Frauen in der Vergangenheit viel Verantwortung übernommen. Es wäre sicher gut für Frauen und Män­ ner, wenn man diese Verantwortung in Zukunft stärker teilen würde. Unger-Soyka: Also da muß ich mal konkret nachfra­ gen. Ich habe mich wirklich gefreut, daß in diesem neuen Passus des no­ vellierten Schulgesetzes das Wort „partnerschaftlich" steht. Aber jetzt kommt es natürlich sehr darauf an, wie das inhaltlich gefüllt wird. Viel­ leicht fehlt es mir da ein wenig an Phantasie, aber ich stelle mir die Fra­ ge: Wie kann man im normalen Schul­ betrieb im 45-Minuten-Rhythmus zur Familie hin erziehen? So wichtig ich die Grundidee finde, so habe ich doch ein bißchen Angst, daß es letzt­ lich nur irgendwo geschrieben steht. Und nicht jeder Lehrer ist ein genialer Pädagoge. Also man bräuchte, um da wirklich etwas auf die Dauer gesehen bewegen zu können, gute Unterrichts­ mittel oder eine hervorragende Weiter­ bildung der Lehrer und Lehrerinnen. Haben Sie da schon irgendwelche An­ sätze? Schultz-Hector: Wir wollen versuchen, die Frage „Wie gehen wir miteinander um?" viel stär­ ker in der Schule in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist übrigens die Frage, mit der ich mein Amt angetreten habe, sie ist für mich bei meiner Arbeit der Leit­ faden. Es hat sich ja nun durch die Gewalt und die Aggressionen bei Ju­ gendlichen auf eine fast schmerzliche Weise bewahrheitet, wie wichtig die­ ses Thema ist. Ich glaube, daß in den Schulen viel darüber reflektiert werden muß, was es heißt, sich zu begegnen, und was es heißt, Bindungen zu knüp­ fen bis hin zu dem größeren Schritt, als Mann und Frau partnerschaftlich zu­ sammenzuleben, und was es heißt, eine Ehe einzugehen und sich zu Kin­ dern zu entschließen. Ich denke, daß wir die Jugendlichen mit solchen Fra­ gen viel zu sehr alleingelassen haben. Da sind dann mehr Fächer einzube- ziehen als vielleicht Religion oder Deutsch oder Ethik. Wir wollen die­ sen Themenkreis zu einer fächer­ übergreifenden Fragestellung ma­ chen und dazu Handreichungen geben und Fortbildungen durchfüh­ ren. Aber Sie haben natürlich recht, Frau Unger-Soyka, wenn Sie sagen, daß wir dafür ganz stark auf die Per­ sönlichkeit der Lehrerinnen und Lehrer angewiesen sind. Es wird auch Fragen geben, warum denn nun der bisher freiwillige Teil in den Unterricht einbe­ zogen wird. Insgesamt aber meine ich, daß gerade in der jetzigen Situation, in der ja immer mehr Lehrer darunter lei­ den, daß es einen Mangel an elterli­ cher Zuwendung für die Kinder gibt, sich immer mehr Lehrer dafür ent­ schieden einsetzen werden. Wir wol­ len dabei auch in manchem aus dem 45-Minuten-Takt aussteigen. Obwohl das schwer ist, besonders im Gymna­ sium, wo sehr fachbezogen gearbeitet wird. Es wird nicht überall glücken, aber das kann kein Grund sein, es nicht zu versuchen. Hindernis: Unterrichtsstruktur? Unger-Soyka: Das stimmt sicher. Die Frage ist aber, ob man, wenn man wirklich etwas so Grundlegendes erreichen will, nicht die Unterrichtsstruktur und das Schul­ leben insgesamt gravierender verän­ dern müßte - unter dem Ansatz einer ganzheitlichen Pädagogik auch im Gymnasium. Daß man sagt, der Mensch besteht nicht nur aus Kopf und Wissen. Nach wie vor gibt es doch wenig Möglichkeiten in den 45 Minuten einer Unterrichtsstunde, Schüler und Lehrer ganzheitlich zu be­ greifen. Das geht bisher doch höch­ stens in den ergänzenden Unterrichts­ bereichen, in den AGs. Aber ich habe Bedenken, ob das, was wir beide wol­ len, also die Erziehung zu Partner- schaftlichkeit, überhaupt möglich ist in dieser Art der Schulstruktur. Schultz-Hector: Wir wollen die Struktur ja auflockern. Es soll mehr in Projekten und fächer­ übergreifend gearbeitet werden, so daß man häufiger aus der Stunden­ tafel aussteigen kann. Wir machen ja auch Jahrgangslehrpläne, um die Fä­ cher mehr in die Frage einzubinden, wie sich der Bildungshorizont eines Kindes je nach Altersstufe verändert. Wir müssen es schaffen, daß Brük- ken zwischen den einzelnen Fächern und Unterrichtsstunden geschlagen werden und daß in großen Zusam­ menhängen gedacht wird. Dazu ist es sicher notwendig, hin und wieder die Stundentafel zu verlassen. Daß man daneben die Inhalte der Fächer solide erarbeiten muß, ist ganz selbst­ verständlich. Es gibt sicher auch gra­ duelle Unterschiede zwischen den SPD- und CDU-Ländern in der Auffas­ sung, wie weit man die Strukturen auf­ weichen kann. Da bin ich eher an einem Punkt, an dem ich sage, bis hierher und nicht weiter. Wir brau­ chen eine Verläßlichkeit und einen ge­ wissen gleichmäßigen Bildungskanon, wir brauchen Chancengerechtigkeit. Darum bin ich ja auch für zentrale Ab­ schlußprüfungen, denn die binden an einen Kanon, der zumindest einen großen Teil des Unterrichts in An­ spruch nimmt. Aber auch ich möchte Freiräume schaffen, in denen dann selbst Ziele gesetzt werden können und in denen aus dem Moment her­ aus das, was als Problem erlebt wird, aufgegriffen wird. ...wo bleibt Frau Rektorin? Niesyto: Die Frage der Partnerschaft und die Frage „Wie erlebe ich Geschlechter­ verhältnisse" hängt doch aber auch mit anderen Erfahrungen in der Schu­ le zusammen. Sie, Frau Dr. Schultz- Hector, haben vorhin gesagt, daß be- 124 sonders im Grundschulbereich sehr viele Lehrerinnen vertreten sind. Ge­ rade hier ist es aber auch so - ich überspitze es mal: Frauen sind Lehre­ rinnen und manchmal Rektorinnen, Männer sind manchmal Lehrer und oft Rektor. Das ist im gymnasialen Be­ reich das gleiche. Wir haben in Karls­ ruhe elf öffentliche allgemeinbildende Gymnasien, nur eines wird von einer Frau geleitet. So etwas vermittelt den Kindern auch ein subtiles Alltagswis­ sen über die gesellschaftliche Bedeu­ tung und die Wichtigkeit der Ge­ schlechter. Wie beurteilen Sie die Situation? Sehen Sie Ansatzpunkte, das zu ändern? Schultz-Hector: Wir tun außerordentlich viel, um Frau­ en zu ermutigen, sich für Schulleitun­ gen zu interessieren. Wir haben vorbe­ reitende Kurse, in denen wir uns immer wieder bemühen, Frauen in gleichem Maße zu aktivieren wie Män­ ner. Wir überlegen zudem, ob Teilzeit­ möglichkeiten geschaffen werden können. So ist es bei der Leitung sehr kleiner Schulen möglich, auf ei­ nen Teil der Unterrichtsverpflichtung zu verzichten. Aber es bleibt eine Tat­ sache, daß das Interesse von Frauen an solchen Positionen, in denen ein erhöhtes Maß an Verantwortung er­ wartet wird, geringer ist. Sehr oft ist die Karriere nicht der Wunsch der Frauen. Ich glaube aber, das liegt nicht nur daran, daß die Frauen sicher­ lich mehr Schwierigkeiten haben auf dem Weg zu einer Karriere, vor allem, wenn sie eine Familie zu versorgen haben. Unger-Soyka: Ich kann Ihre Beobachtung bestäti­ gen, daß sich wesentlich weniger Frauen bewerben, daß Frauen oft in letzter Minute zurückschrecken, selbst dann, wenn sie ein Angebot be­ kommen. Das ist leider eine Tatsache. Aber dafür gibt es Gründe. Sie sagen: Frauen streben oft keine Karriere an. Aber ich frage mal umgekehrt: Was macht es für eine Frau reizvoll, eine Seilschaften und Bündnisse... Männersolidarität im Klassenzimmer Karriere anzustreben? Die Lebensläu­ fe derjenigen, die auf solch ein Ziel hin­ steuern, das sind meist ja Männer, sind nicht ohne weiteres erstrebens­ wert für eine Frau. Und mit Kindern wird es dann sehr kompliziert. Der Kin­ derwunsch geht bei Frauen häufig in die Berufsplanung mit ein. Wenn ein Mann sagt, ich will irgendwann mal heiraten und Kinder haben, dann hin­ dert ihn dieser Wunsch ja gar nicht, schnurstracks irgendwelche andere Ziele zu verfolgen. Aber eine Frau plant oft nach wie vor so, daß sie die Berufswahl an die Möglichkeit bindet, auch Kinder zu haben. Ich muß ehrlich sagen, für mich war das nach dem Abitur auch eine Frage. Da hat mir meine Mutter auch kräftig zugeredet. Sie meinte: Bei dem Lehrerinnenberuf hast du was Sicheres, bist nachmit­ tags überwiegend zu Hause und kannst dann auch mit Kindern noch 125 in deinem Beruf arbeiten. Und das ist ja auch gut möglich. Etwas ganz an­ deres ist es aber, wenn man andere Ziele anstrebt. Die Frauen sehen doch überall, wie schwierig es ist, Be­ ruf und Familie zu vereinbaren, und daß das in der Regel eine Doppel- und Dreifachbelastung für die Frau be­ deutet. Wenn wir schon so weit wären, daß viele Männer und Frauen sagen würden, wir teilen uns einen Teil der Aufgaben in der Familie, dann wür­ den nicht mehr so viele Frauen vor dem Schritt, erhöhte Verantwortung zu übernehmen, zurückschrecken. Niesyto: Aus meinen Gesprächen mit Lehrerin­ nen, die ich gefragt habe, warum sie sich nicht um einen Rektorenposten bewerben, kenne ich zudem das Ar­ gument, daß es ihnen wichtiger ist, was sie jetzt in ihrer Klasse machen, und daß sie meinen, sich als Schullei­ terin für die Kinder nicht mehr so en­ gagieren zu können. Wenn wir nun noch einmal auf den Aspekt der soge­ nannten humanen Schule zurückkom­ men, kann man doch sagen, wir brau­ chen auch eine neue Bestimmung der Rolle der Schulleitung. Diese sollte wesentlich stärker soziale Funktionen wahrnehmen und solche Prozesse in der Schule organisieren, die diesem Verständnis der Frauen sehr entge­ genkommen. Ich schließe daraus: Die humane Schule kommt ohne die Er­ fahrung solch engagierter Lehrerin­ nen, die jahrelang versucht haben, in ihren Klassen etwas neues auszupro­ bieren, nicht aus. Aber diese Lehrerin­ nen haben noch keine Visionen, wie sie Schulleiterin sein könnten. Muß es nicht auch darum gehen, Schullei­ tungsrollen neu zu überdenken? Schultz-Hector: Also Schulleitung heißt sicher auch die Bewältigung von organisatorischen Dingen. Aber die Schulleiterin oder der Schulleiter, von denen wir träu­ men, ist in der Lage, in einem moder­ nen, eher weichen Führungsstil eine Schule zu leiten. Dafür braucht man viele Eigenschaften, die im allgemei­ nen als weiblich bezeichnet werden. Das gilt für die Wirtschaft übrigens ge­ nauso. Und trotzdem lassen sich Frau­ en von dem Anteil an Verwaltungsauf­ gaben oder auch von der Einarbeitung in einfache juristische Sachverhalte abschrecken. Oft ist es mehr die Ge­ samtverantwortung und die damit ver­ bundene Belastung, die sie zurück­ schrecken lassen. Unger-Soyka: Mein ureigenstes Problem in diesem Zusammenhang ist das der Arbeits­ zeit. Die männliche Arbeitswelt und Karriere definiert sich doch darüber, daß man über das normale Maß der Arbeitszeit hinaus tüchtig zu sein und sich mit besonderem Ausmaß einzu­ setzen hat. Die meisten Männer sind so „straight forward" in Richtung Be­ ruf, daß sie sich nur dadurch selber erfahren. Und manchmal kann man ja miterleben, was es für Männer be­ deutet, wenn sie ein bestimmtes Be­ rufsziel nicht erreichen. Dann stürzt ihre ganze Persönlichkeitsstruktur zu­ sammen. Auch erfahren sich viele Männer in der männlich dominierten Berufswelt darüber, in welchen Ge­ haltsgruppierungen sie landen. Das ist dann der Maßstab, den sie an sich selber setzen und von dem sie meinen, er zeige, was sie in dieser Ge­ sellschaft wert sind. Frauen erfahren sich selbst nicht so ausschließlich über ihren Beruf. Das finde ich ausge­ sprochen positiv. Frauen sind dadurch nämlich die Flexibleren und eigentlich auch die Stärkeren und Fähigeren. Ich lebe nicht nur davon, Ministerin zu sein. Das Amt habe ich nie ange­ strebt, und ich glaube, Sie, Frau Dr. Schultz-Hector, auch nicht. Das hat die Situation so ergeben, und wir wa­ ren eben mutig genug in diesem Mo­ ment zu sagen, ja, wir übernehmen jetzt die Verantwortung. Frauen können mehr... Schultz-Hector: Also hin und wieder, wenn ich über­ mütig bin, sage ich, die Frauen kön­ nen mehr. Sie können nur nicht alles gleichzeitig. Ich glaube, das Maß an Flexibilität, auch die Möglichkeiten der Optionen, die Fülle der Lebens­ stile, die wir leben können, das ist eine Stärke. Aber wir neigen dazu, un­ geduldig zu sein, uns hin und wieder zu überfordern, alles gleichzeitig zu wollen. Und das geht nicht, dann bricht alles zusammen, und dieses Mißerfolgserlebnis schreckt dann so viele andere ab, daß diese Welle im­ mer wieder zusammenbricht. Unger-Soyka: Es müßte irgendwann mal gelingen, auch diese Art von Bewußtsein den Frauen selber zu vermitteln. Viele Frauen machen doch, wenn sie sich vornehmen, irgendwie vorwärts zu kommen, immer den Fehler, so wie Männer im Beruf werden zu wollen. Das halte ich wirklich für falsch. Es gibt natürlich den Bereich der sachli­ chen Ebene, und wenn eine Frau Staatsanwältin werden will, dann muß sie juristische Kenntnisse mitbrin­ gen und ihr Handwerkszeug beherr­ schen. Aber das heißt nicht von vorn herein, daß sie nur noch auf dieses Ziel zugeht und alles andere beiseite läßt und dann, wenn sie dieses Ziel er­ reicht hat, vielleicht das nächste an­ strebt. Daß sie sich tatsächlich im be­ rühmten 14-, 15-, 16-Stunden-Tag austobt und keine Möglichkeiten mehr hat, auch andere Qualitäten ih­ res Menschseins noch leben zu kön­ nen. Ich halte es übrigens auch im politischen Bereich für ausgespro­ chen wichtig, daß man erst in die Poli­ tik einsteigt, wenn man schon gelebt hat und Lebenserfahrung hat. Das muß nicht in der Familie sein, das kön­ nen auch andere Bereiche sein. Nur dann ist eine gewisse Selbstdistanz möglich. Neulich bei der Frauenmini- sterinnenkonferenz, die ich hier im No­ vember hatte, ist mit aufgefallen, wie viele imponierende Frauen es in die­ sem Kreis gibt, die nicht nur, um ir­ gendwann Minister zu werden, jahre­ lang in der Partei waren. Sie kommen 126 oft von einem konkreteren und lebens­ praktischeren Ansatz her und sind gleichzeitig genauso wie die Männer in der Lage, theoretisch und intellektu­ ell ein Problem anzupacken. Wir soll­ ten als Frauen einfach mutig sein und dieses Mehr an Möglichkeiten und die­ ses Mehr an Können selbstbewußt und ohne Übertreibung darstellen. Frauensolidarität unter Politikerinnen Asche: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, läßt sich aus Ihrer beider Äußerungen die Aufforderung heraushören, daß Frauen sich untereinander über ihre Möglichkeiten verständigen sollten. Wenn es nämlich so ist, daß Frauen mehr Kompetenzen haben - so über­ nehmen sie, wenn es einen kleinen Bruder gibt, ja zum Beispiel häufig schon im Mädchenalter Verantwor­ tung - , dann haben Frauen auch eine andere Wahrnehmung dessen, was alltäglich läuft. Das wäre eine Grund­ lage für eine Verständigung unter Frauen und zugleich ein Plädoyer für eine Zusammenarbeit unter Politike­ rinnen. Nun ist das erste Mädchen- Gymnasium ja auch entstanden durch eine Verständigung mancher Frauen untereinander. Nun meine Fra­ ge: Gibt es solche Möglichkeiten der Zusammenarbeit auch ganz konkret zwischen Ihnen? Schultz-Hector: Ich wehre mich dagegen, Frauenthe­ men nur mit Frauen zusammen vor­ wärts zu bringen. Wir verändern die Welt nur mit den Männern zusam­ men. Es wäre der falsche Weg, sich zu distanzieren und zu glauben, daß man nur mit Frauen als Verbündeten die Dinge weiter treiben kann. Ich bin mehr dafür, auch die Männer zu ge­ winnen für die Ziele, die die Frauen verfolgen. Sonst erreichen wir nichts. Daß man sich hin und wieder gegen­ seitig stärken kann, was das Selbstbe­ wußtsein betrifft, das sind Dinge, die man vielleicht ab und zu braucht. Aber ich wäre nicht dafür, auch auf der politischen Ebene, daß wir uns nur als Frauen zusammenschließen. Ich kann in meiner Fraktion nur etwas bewegen, wenn ich mit meiner Frak­ tion arbeite, und nicht, wenn ich über Parteigrenzen hinweg nur mit anderen Frauen zusammenarbeite. Dann habe ich einen Mangel an Überzeugungs­ kraft in den eigenen Reihen und brin­ ge nichts weiter. „Frauenpolitik muß auch Männerpolitik werden" Unger-Soyka: Da gibt es unterschiedliche Betrach­ tungsweisen. Prinzipiell ist es ganz si­ cher so, daß Frauenpolitik, wenn sie erfolgreich sein will, auch Männerpoli­ tik werden muß. Das liegt schon an den Mehrheitsverhältnissen in den Gremien. Aber selbst dann, wenn wir alle Parlamente und alle Ausschüsse mit 50 % Frauen und 50 % Männern besetzt hätten, müßten wir versu­ chen, eine Einigung zwischen Män­ nern und Frauen zustande zu brin­ gen. Aber es gibt auch Beispiele, zum Beispiel in meiner eigenen Par­ tei, bei denen es ausgesprochen sinn­ voll war, im Vorfeld einer Entscheidung wirklich gebündelt Frauenargumente und Frauenmacht auszuüben. Wir hätten sonst in der SPD das Thema Quotierung nie durchgebracht, wenn wir uns nicht als SPD-Frauen zusam­ mengetan hätten, um zu zeigen: Es gibt 35 % Frauen in dieser Partei. Es stimmt schon: Das Frauenwahlrecht konnten die Frauen auch nur errei­ chen, weil wichtige Männer die Frau­ en in ihrem Anliegen unterstützt ha­ ben. Aber die Vorarbeit und vor allem das Bewußtsein für diese Forderung, das haben Frauen geschaffen. So gibt es immer wieder Beispiele, die zeigen: Es macht Sinn, sich in gewis­ sen Phasen zusammenzutun. Ich per­ sönlich halte sehr viel von dem Aspekt der Solidarität unter Frauen. Allerdings erlebe ich nur negative Beispiele bei diesem Thema, es ist eher betrüblich. Ich habe den Eindruck, daß Frauen sich schwerer tun mit der Solidarität als Männer. Die haben eine ganz an­ dere Tradition, was zum Beispiel Seil­ schaften und Bündnisse anbelangt. Sie hatten eben bis zum heutigen Tag in vielen Bereichen die Mehrheit und haben immer ihre Nachfolger nachge­ zogen. Frauen dagegen sind sehr oft durch ihre Biographie auch geprägt dadurch, daß sie zu Einzelkämpferin­ nen wurden. Sie werden sehr oft allein gelassen, mit den Kindern, mit der Vereinbarung von Beruf und Familie, und entwicklen auf diese Art enorme Organisationstalente und die Fähig­ keit, vieles allein zu schaffen. Und das wirkt manchmal wie eine Barriere für das Ziel, daß Frauen versuchen sollten, in vielen Bereichen an einem Strang zu ziehen. Mit anderen Wor­ ten: Generell halte ich es für sinnvoll, daß Frauen zusammenarbeiten, wohl­ wissend, daß man viele Dinge ohne die Männer nicht hinbekommt. Aber auch bei uns in der Fraktion gibt es immer wieder Situationen, in denen es sinnvoll ist, daß wir Frauen uns ab­ sprechen. Insofern denke ich, man muß das sehr differenziert sehen. Schultz-Hector: Ich glaube, daß der Begriff der Solida­ rität manchmal auch zur Fessel wird. Man erwartet von uns, daß wir solida­ risch sind, daß Frauen sich unterein­ ander nicht widersprechen. Das ist et­ was, wogegen ich mich wehre. Natürlich gibt es unter Frauen unter­ schiedliche Standpunkte, und die soll­ ten auch ausgetragen werden. Daß wir insgesamt dabei die Ziele der Frau­ en im Auge behalten, hat damit nichts zu tun. Den Vorwurf, den Frauen ge­ macht bekommen, sie seien nicht so­ lidarisch, halte ich für ungerecht. Män­ ner streiten sich, daß die Fetzen fliegen, und das findet man herrlich. Unger-Soyka: Ja, sich streiten, heißt nicht unsolida­ risch sein. Aber unsolidarisch ist es, wenn man sehr gezielt versucht, über männliches Strukturgehabe eine an­ dere Frau auszustechen. Oder wenn eine Frau etwas bewußt blockiert, 127 was eine andere gerne machen möchte. Das empfinde ich schon am Kabinettisch. Ich würde es mir zehn­ mal überlegen, wenn Sie oder Frau Solinger etwas vortragen, hier eine heftige Kritik anzubringen. Wenn ich wirklich mit etwas grundlegend nicht einverstanden wäre, würde ich ganz sicher versuchen, das mit Ihnen oder mit Frau Solinger kurz vorher zu be­ sprechen. Asche: Das hat etwas mit der Politik der Frau­ enbewegung zu tun. Es ist der Ver­ such, Schonräume zu schaffen. Das kann langfristig aber auch dazu füh­ ren, daß es keine Auseinandersetzun­ gen mehr gibt, daß fast ein Redever­ bot besteht. Niesyto: Ich denke, das ist eine Gratwanderung. Es fehlt uns häufig eine entwickelte Streitkultur, die Abgrenzungen stehen läßt und Gemeinsamkeiten dennoch sieht. Dennoch glaube ich, daß es not­ wendig ist, da Frauen in der Politik nach wie vor nicht die Mehrheit haben, „Seilschaften" zu bilden und Plätze zu schaffen und zu reservieren. Schultz-Hector: Es gibt ja auch gute Argumente für uns. Wenn die Parteien Frauen aufge­ stellt haben, sind die Wahlergebnisse gut, oft sogar hervorragend. Bei den Landtagswahlen 1988 war das sehr deutlich, 1992 dann vielleicht nicht in dem Maße. Aber Frauen haben gute Chancen, wenn sie als Kandidatinnen aufgestellt worden sind. Unger-Soyka: Aber das läuft doch oft so, daß eine Partei sehr kurzfristig auf eine Frau zu­ geht. Wenn sie dann Familie hat, wird es schwierig. Diese Struktur, daß Frau­ en immer noch zu 99 % zuständig sind für die Kinder, führt dazu, daß Frauen dann doch sagen, sie wollten es erst später versuchen, wenn die Kinder größer sind. Bei Männern ist diese Hemmschwelle natürlich nicht die Re­ gel; wenn die so ein Angebot bekom­ men, dann greifen sie auch zu. Meine Jüngste war vier Jahre alt, als ich 1988 in den ersten Wahlkampf gegangen bin. Das ging nur, weil ich mich auf meinen Mann hundertprozentig verlas­ sen konnte. Und das war möglich, weil mein Mann als Universitätsprofessor in einer privilegierten Situation ist, daß er nicht von morgens um 8.00 Uhr bis nachmittags um 17.00 Uhr am Fließ­ band stehen muß, sondern seine Ar­ beitszeit einteilen kann. Er ist einfach in der Lage, mittags mal nach Hause zu kommen, um das Mittagessen für die Kinder zu kochen. Sie sehen allein an meinem Beispiel, wie viele Punkte stimmen müssen, damit der Schritt in die Politik möglich ist. Ich verstehe zu­ nehmend, daß sehr viele Frauen sa­ gen, daß ihnen das zu kompliziert ist. Es gibt auch genügend Beispiele, wo die Ehen zerbrochen sind, gerade weil die Frauen den Schritt in die Öffentlich­ keit gewagt haben. Schultz-Hector: Ich glaube, es ist nicht nur die Schwie­ rigkeit auszubalancieren, daß die Frau auf einmal der Mittelpunkt ist und der Ehemann daneben steht, also daß er die Rolle hat, die wir vor Hunderten von Jahren selbstverständlich über­ nommen haben. Es ist auch die Schwierigkeit, daß man ewig unter­ wegs und nie zu Hause ist, und daß das Belastungen sind, die eben dann, wenn es sich um die Frau han­ delt, schwerer ertragen werden als umgekehrt. Niesyto: Ich habe zum Schluß noch eine Frage. Sie haben beide in Ihrem Verständnis von Politik Ansprüche formuliert, die ich schon häufiger von Politikerinnen als von Männern so gehört habe. Was glauben Sie, was sind Ihre Mög­ lichkeiten als Ministerinnen, dazu bei­ zutragen, daß so ein Verständnis von Politik auch lebbar wird? Es ist doch schwierig, solche Ansprüche auch zu leben und umzusetzen. Schultz-Hector: Also wenn es hier um Vorbildfunk­ tionen gehen soll, bin ich ein Negativ­ beispiel. Dieses Ministerium ist ja ein riesiges - 100.000 Lehrer, 4.000 Schulen - und ein sehr lebendiges dazu. Dazu kommt noch die Jugend­ arbeit und der Sport. Ich habe also ein riesiges Arbeitspensum, das ich jeden Tag bewältige. Von den Wochenenden bleibt nicht mehr viel übrig. Ich habe mir das eigentlich ganz anders vorge­ stellt, werde aber überrollt und stelle mich auch der Forderung, die ich an mich selbst richte, meine Arbeit gut zu machen. Unger-Soyka: Ich könnte auch in Arbeit ertrinken, wenn ich es wollte. Aber ich versu­ che, für mich harte Prioritäten zu set­ zen. Ich bin natürlich in einer völlig an­ deren Lebensituation als Sie, Frau Dr. Schultz-Hector. Sie sind ja nach der Familienphase in die Politik eingestie­ gen. Sie haben jetzt ein bißchen Ihr Licht unter den Scheffel gestellt. Ich fand es nämlich damals, als Sie ange­ fangen haben, frauenpolitisch ein er­ mutigendes Zeichen, daß so etwas durchaus möglich ist. Sie haben es sich getraut, und für Frauen in dieser Lebensphase war das auch in Baden- Württemberg ein Signal. Da kommt eine Frau in diesem Alter, macht einen Neuanfang und versucht Dinge auch mit ihrer Lebenserfahrung zu bewe­ gen. Ich fand das sehr positiv. Schultz-Hector: Gerade diese Lebenserfahrung prägt auch meine Ansprüche an die Politik und an die Schule. 128 Punkte statt Noten, Kurse anstelle von Klassen: Abiturjahrgang des Lessing-Gymnasiums 1992 nach der Bildungsreform Impressum: Herausgeber: Stadt Karlsruhe Redaktion: Peter Behringer, Gabriela Zejpert-Haßinger Texte: Gabriela Zejpert-Haßinger, sowie Susanne Asche, Peter Behringer, Margarete Kraft Umschlag: Anne Kup Gesamtherstellung: G. Braun Druckerei GmbH & Co. KG, Karlsruhe Papier: LuxoSatin chlorfrei gebleicht Copyright: 1993 Stadt Karlsruhe und G. Braun (vorm. G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag) GmbH, Karlsruhe Bildnachweis: Archiv der Stadt Karlsruhe: 7, 13 oben, unten, 14 oben, unten, 17, 18, 19, 23 oben, unten, 26, 27, 33, 50 oben rechts, unten, 53, 67 Festschrift 100 Jahre Fichtegymnasium 32, 35 rechts, 74 oben Sammlung Fichte-Gymnasium: 21 oben, 57, 85 Juden in Karlsruhe. Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Band 8, Karlsruhe 1990: 47 Margarete Kraft: 92 links, rechts, 93 links, rechts, 111, 125 Sammlung Lessing-Gymnasium: 8/9, 36, 37 oben, unten, 39 unten, 42, 44/ 45, 59, 79, 88, 97, 99, 101, 102, 103, 104, 112 unten, 119, 121 Lexikon der Frau, Band 1, Zürich 1953: 6 Privatbesitz: 11, oben, unten, 15, 20, 21 unten, 22 links, rechts, 28 oben, unten, 29 oben, unten, 30, 35 links, 39 oben, 41, 50 oben links, 54/55, 58 oben, unten, 60, 61 oben, unten, 63 oben, unten, 64, 65, 68, 71, 72/73, 74 unten, 75, 100, 112 oben, 114/115, 129 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsauf- nahme 100 Jahre Mädchen-Gymnasium in Deutschland / Karlsruhe. - Karlsruhe : Braun, 1993 ISBN 3-7650-0408-1 NE: Hundert Jahre Mädchen-Gymnasium in Deutschland 130 Inhalt Geleitwort 5 Grußwort der Anita Augspurg 6 Ein Jahrhundert gymnasiale Mädchenbildung Eva Hirtler Kaiserzeit und Weimarer Republik 10 Ilse Wegel Eingriff - Umbruch - Neuaufbau 25 Aus der Gründungszeit Rede der Abiturientin Rahel Goitein 46 Erhard Hottenroth Das erste deutsche Mädchen- Gymnasium Stimmen aus der Gründungszeit 49 Abiturientinnen erzählen Hildegard Steppuhn-Glütsch Gedanken zum humanistischen Frauen-Abitur vor 70 Jahren 56 Gertrud Ullmer Zur Jubiläumsfeier 60 Cordula Knobloch Erinnerungen an meine Schulzeit 67 Katarina Zacharias Gedanken und Erinnerungen an meine Zeit in der Lessing-Schule 1952 bis 1959 70 Schule heute Probleme - Konzepte - Meinungen „Namentliches" Über die Umbenennung des Fichte- Gymnasiums in Hedwig-Kettler- Gymnasium 74 Mario Hoff Ein Kneipengespräch 76 Lernen in gemischten Klassen Ingrid Rumpf Ein Diskussionsbeitrag zur Koedukation 77 Margarete Kraft Äpfel mit Birnen Warum die koedukative Schule heute nicht Gleichheit bringt 82 Werner Kimm ig Mädchen in Naturwissenschaften und Technik 84 Ingrid Neuburger-Kappis Umfrage unter den Abiturlahr­ gängen 1964 bis 1968 89 Walter von Kienle 20 Jahre Koedukation Wie denken unsere Schüler darüber? 91 Katharina Herz, Claudia Kolbinger, Judith Nöller Koedukation und Emanzipation 95 Sabine Siebold Koedukation im Schulalltag 96 „Zeitreisen" Anna Rösinger „Das goldene Blatt" 101 Ute Schulte „Das Traumei" 103 Sebastian Gluch „Die Lessing-Zeitmaschine" 104 Paul Popa „2001" 104 Schule und Gleichberechtigung Annette Niesyto Schule und Gleichberechtigung Eine unendliche Geschichte? 105 Und weiter? Politikerinnen nehmen Stellung Angela Merkel Mädchenbildung und Erwerbs­ arbeit 116 Ministerinnen im Gespräch Gleichberechtigung und Schule heute 118 Andreas Ramin Gedanken eines Koeduzierten 98 131 [ !rsl .1 i\ 11 ii 1. n< d 1 [ !rsl MütfchcugymMsiuiii tuivb in flailomljc am 11. <2cpf. t>. 0- «öffnet; Sdjufflrlb L'Üü 2)f. jäljrlid). Sduiiflbunnen ju lirfjlen an bcit Süevcin „Srauui- l)llbimn*.-i)?ffürm" in .faannourv. Don beut nnrfi ber i'elirulan. MütfchcugymMsiuiii tuivb in flailomljc am 11. <2cpf. t>. 0- «öffnet; Sdjufflrlb L'Üü 2)f. jäljrlid). Sduiiflbunnen ju lirfjlen an bcit Süevcin „Srauui- l)llbimn*.-i)?ffürm" in .faannourv. Don beut nnrfi ber i'elirulan. MütfchcugymMsiuiii tuivb in flailomljc am 11. <2cpf. t>. 0- «öffnet; Sdjufflrlb L'Üü 2)f. jäljrlid). Sduiiflbunnen ju lirfjlen an bcit Süevcin „Srauui- l)llbimn*.-i)?ffürm" in .faannourv. Don beut nnrfi ber i'elirulan. MütfchcugymMsiuiii tuivb in flailomljc am 11. <2cpf. t>. 0- «öffnet; Sdjufflrlb L'Üü 2)f. jäljrlid). 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https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/frauengeschichte/maedchengymnasium/HF_sections/content/1329387835042/ZZkpIo94pmFFPk/100_jahre_maedchengymnasium_in_deutschland.pdf
Stadt Karlsruhe Frauenbeauftragte Auf den Spuren Karlsruher Frauen Ein historischer Stadtrundgang Stadt Karlsruhe Frauenbeauftragte Auf den Spuren Karlsruher Frauen Ein historischer Stadtrundgang Auf den Spuren Karlsruher Frauen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hochstrasser, Olivia: Auf den Spuren Karlsruher Frauen : ein historischer Stadtrundgang / Olivia Hochstrasser. [Hrsg.: Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte]. - Karlsruhe : Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte, 1994 ISBN 3-923344-287 Herausgeberin: Text: Bildauswahl: Umschlaggestaltung: Fotos: Stadtplan: Skizzen-Entwurf: Beratung: Foto Umschlag: Stadt Karlsruhe Frauenbeauftragte Olivia Hochstrasser Olivia Hochstrasser Herbert Kaes Bernhard Schmitt Susanne Wolf, Vermessungs- und Liegenschaftsamt Gerhard Kabierske Susanne Asche, Stadtarchiv Karlsruher Marktszene um 1890 ISBN-Nr. 3-923344-28-7 Gesamtherstellung: Druckcooperative Offset und Verlag GmbH Karlsruhe Unkostenbeitrag: 5,- DM Olivia Hochstrasser Auf den Spuren Karlsruher Frauen historischer Stadtrundgang Geleitwort Die sangeskundigen Tulpenmädchen, deren Liebreiz das Herz des Markgrafen Karl Wilhelm betört haben soll, sind aus den Legenden um das Leben des Karlsruher Stadtgründers kaum noch wegzudenken. Historikerinnen haben freilich nachgewie­ sen, daß sich jene Sängerinnen ihre Privilegien am Hofe zu­ meist rechtschaffen durch ihre Kunst verdient haben. Manche mögen solche Aufklärung bedauern. Andere werden es sym­ pathisch finden, daß der badische Fürst sich nicht wie ein "Sonnenkönig" aufgeführt und wie so mancher Kollege seine Untertanen ausgeplündert hat. Stadtgeschichte hat viele Seiten. Als die Frauen des Stadtar­ chivs, unterstützt von den Stadträtinnen aller Fraktionen, vor einigen Jahren begannen, in bislang kaum beachtete Winkel der Karlsruher Vergangenheit hineinzuleuchten, haben sie nicht nur historisches Gerümpel beiseite geräumt, sondern auch Schätze entdeckt. Das Buch und die Ausstellung "Frauen in Karlsruhe" haben viel Wissenswertes zutage gefördert und dabei manche bisher einseitige oder ungerechte Darstellung korrigiert. Der Badische Frauenverein und seine segensreiche Tätigkeit, das erste deutsche Mädchengymnasium, die Arbeit der ersten Frauen in der Kommunalverwaltung, im Gemeinde­ rat und in der badischen Volksvertretung im Ständehaus - das sind nur wenige Stichworte einer Vergangenheit, die der Stadt und dem Land zum Ruhm gereichte. Beim Stadtrundgang lassen sich die "Spuren der Karlsruher Frauen" wiederfinden, wenn eine kundige Historikerin wie Dr. Olivia Hochstrasser, die Mitverfasserin des Buches, darauf 4 aufmerksam macht. Die bisherigen Stadtführungen haben so großen Ankiang gefunden - nicht nur bei den Frauen, auch bei Männern -, daß bald der Wunsch auftauchte, das Erlebte nachlesen zu können und noch weitere Einzelheiten zu erfah­ ren. Jetzt liegt die Broschüre vor. Ich danke allen, die ihr Erschei­ nen gefördert und begleitet haben: der Autorin, aber auch dem Karlsruher Stadtarchiv und der Frauenbeauftragten. Möge der Stadtführer dazu beitragen, daß viele Bürgerinnen und Bürger auch die weniger bekannten Seiten der Fächer­ stadt entdecken. Professor Dr. Gerhard Seiler Oberbürgermeister 5 "Die Geschichte aller Zeiten ... lehrt: Daß diejenigen auch vergessen wurden, welche an sich selbst zu denken vergaßen." Luise Otto-Peters, 1849 Mitte der 80er Jahre schlugen in Karlsruhe Frauen vor, ihre Geschichte in der Stadt aufzuarbeiten und einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Um dies zu ermöglichen, regten 1988 alle Karlsruher Stadträtinnen an, an die Geschichte Karlsruher Frauen mit einer Ausstellung zu erinnern. Dieses Anliegen fand die Unterstützung des Gemeinderats. Das Stadtarchiv wurde beauftragt, die Geschichte Karlsruher Frauen zu erforschen. Susanne Asche, Barbara Guttmann, Olivia Hochstrasser, Sigrid Schambach und Lisa Sterr über­ nahmen diese Aufgabe. Ihre Frgebnisse sind als 15. Band der Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs unter dem Titel "Karlsruher Frauen. 1715 -1945" erschienen. Wieder waren es vor allem Frauen, Einzelpersönlichkeiten und Vertreterinnen von Frauenverbänden, die die Forschungsarbei­ ten durch zahlreiche Hinweise und Materialien aktiv unterstütz­ ten. Anläßlich der Ausstellung "Karlsruher Frauen", die im Winter 1992/1993 die Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit präsentierte, entwickelten Frauen aus Karlsruher Frauenverbänden und Institutionen ein begleitendes Rahmen­ programm, das die historischen Erkenntnisse ergänzte und für heute aktualisierte. In diesem Rahmen führte Olivia Hoch­ strasser einen ersten Stadtrundgang "Auf den Spuren der Geschichte Karlsruher Frauen" durch, der auf große Resonanz stieß. 6 Hinter diesem starken Engagement stand der Wunsch, endlich die vergessenen Seiten Karlsruher Geschichte an das Licht zu holen und die Leistungen der Frauen unserer Stadt öffentlich anzuerkennen und zu würdigen. Ein Blick auf unsere Stadt zeigt, daß das öffentliche Bild, die Benennung von Straßen, Plätzen, Denkmälern und Gebäuden vor allem an Männer erinnert, während Frauen nur am Rande benannt sind. Wir hoffen, daß die jetzt vorgelegte Broschüre den Blick schärft für die Leistungen Karlsruher Frauen, daß sie Frauen anregt und ermutigt, sich auch weiterhin öffentlich für die Gestaltung unserer Stadt zu engagieren und daß sie bei Frauen und Männern den Wunsch weckt oder verstärkt, die vergangene und gegenwärtige Arbeit von Frauen für unser Zusammenleben öffentlich darzustellen und angemessen anzuerkennen. Annette Niesyto Frauenbeauftragte Dr. Michael Heck Kulturreferent Hinweis: Stadtführungen zur Geschichte Karlsruher Frauen vermittelt der Verkehrsverein Karlsruhe, Tel. 1 33-35 53. 7 Stationen, Standorte und Themen Station 1 a: Pfandleihe, Markgrafenstrasse 29 Unterschichtsfrauen im ehemaligen "Dörfle" 16 Station 1 b: Spinnhaus, Markgrafenstrasse 31 Armenfürsorge und Disziplinierung 19 Station 1 c: Luisenhaus, Markgrafen/Adlerstrasse Anfänge weiblicher Wohltätigkeit Kasernierung der Prostitution 22 Station 2: Marktfrauenstatue, Zähringer/Kreuzstrasse Frauenarbeit im vorbürgerlichen Karlsruhe 27 Station 3: Schloss, Karl-Friedrich-Strasse Tulpenmädchenlegende Markgräfinnen und Großherzoginnen 31 Station 4: Rathaus, Vorraum des Rathauses Der Weg in die Kommunalverwaltung 36 Station 5: Ständehaus, Friedrichsplatz/Ritterstrasse Frauenstimmrechtsbewegung und politische Partizipation bis 1933 42 Abstecher 1: Amalienschlößchen, Nymphengarten/Ritterstrasse Frauenvereine und Frauenaktivitäten in den 20er Jahren 48 Station 6: Stephanienbrunnen, Heinrich-von-Stephan-Platz Frauendarstellungen um die Jahrhundertwende 51 Station 7: Gesundheitsamt, Karlstrasse 36/38 Nationalsozialistische Erb- und Rassepolitik 56 10 Station 8: Mädchengymansium, Sophienstrasse 14 Frauen- und Mädchenbildung 60 Abstecher 2a: Richtstätte, Gutenbergplatz Kindsmord im 18. Jahrhundert 66 Abstecher 2b: Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus, Kaiserallee/Kochstrasse Krankenpflege und Rotes Kreuz 69 Station 9: Sitz des Badischen Frauenvereins, Garten-/Otto-Sachs-Strasse Der Badische Frauenverein während des Kaiserreiches 74 Station 10: Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik, Brauerstrasse oder Gartenstrasse Frauenarbeit in der Rüstungsindustrie 80 Station 11: Südweststadt, Roon/Bürkstrasse Frauenorganisationen im Nationalsozialismus 88 Abstecher 3: Dammerstocksiedlung, Spaziergang durch die Siedlung Die Rationalisierung der Hausarbeit in den 20er Jahren 94 11 Auf den Spuren Karlsruher Frauen - ein historischer Stadtrundgang Die Wanderung vorbei an den städtebaulichen Spuren Karlsru­ her Frauenlebens vergangener Zeiten beginnt im ehemaligen "Dörfle" und führt über insgesamt elf Stationen durch die Innen­ stadt in die Südweststadt. Wer noch darüber hinaus Zeit und Interesse aufbringt, hat die Möglichkeit, den Rundgang um die vorgeschlagenen Abstecher auszudehnen - am besten unter Zuhilfenahme des Fahrrades oder der öffentlichen Verkehrsmit­ tel. Selbstverständlich kann dieser kurze Rundgang nicht alle Spuren ansteuern, die die Karlsruher Frauengeschichte im Stadt­ bild hinterlassen hat. Die Lektüre des 1992 erschienenen Bu­ ches "Karlsruher Frauen 1715 - 1945. Eine Stadtgeschichte" kann die hier getroffene Auswahl vervollständigen und den Blick schärfen für viele weitere frauengeschichtlich "sehenswürdige" Objekte aus dem alltäglichen Umfeld. Da der Spaziergang nicht immer der Chronologie der Stadtge­ schichte folgen kann, sei hier ein kurzer Überblick über die wichtigsten Entwicklungen und Ereignisse vorangestellt. 12 1715 -1806: Die traditionale Stadtgesellschaft Karlsruhe wurde 1715 von Karl Wilhelm, Markgraf von Baden- Durlach, gegründet und blieb in den nächsten hundert Jahren eine kleine, eher provinzielle Residenzstadt. Zwar war in den ersten beiden Jahrzehnten eine große Schar von Frauen bei Hofe als Sängerinnen angestellt (Station 3: Schloß), doch der Großteil der Karlsruherinnen gehörte im 18. Jahrhundert der Schicht des Handwerker- und Gewerbebürgertums oder den Unterschichten an. Das Karlsruher Frauenleben dieser Zeit un­ terschied sich durch die Form der weiblichen Arbeit und durch die Rolle der Frauen im wirtschaftlichen Leben der Stadt deut­ lich von den späteren weiblichen Lebensentwürfen. (Station 2: Marktfrau). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging die abso­ lutistische Obrigkeit mit einer Vielzahl von sozialpolitischen und polizeilichen Maßnahmen gegen den angeblich unsittlichen Le­ benswandel der Unterschichtsfrauen in der Siedlung Klein-Karls- ruhe vor den Toren der Residenzstadt vor (Station 1: "Dörfle", Abstecher 2: Richtstätte). 1806 - 1914: Weibliche Tugend und Sittsamkeit - die Frauen des Bürgertums Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Beamten in der Residenzstadt Karlsruhe, das ab 1809 die Hauptstadt des Großherzogtums Baden war. Die Schicht des Beamten- und Bildungsbürgertums, die nun das städtische Leben prägte, ent- 13 wickelte und lebte eine neue Vorstellung über das Wesen der Frauen. Sie erklärte die Arbeitsteilung zwischen den Geschlech­ tern zu einer naturgegebenen, die im "Geschlechtscharakter" der Männer und der Frauen begründet sei. Die Bereiche der Erwerbsarbeit und der politischen Öffentlichkeit wurden zu männ­ lichen, die des Privaten und der Familie zu weiblichen Sphären erklärt. Das bürgerliche Frauenbild, das diese neue gesell­ schaftliche Gruppe gleichzeitig entwarf, wurde bald zur gesamt­ gesellschaftlich verbindlichen Norm. Die Frauen hatten kein po­ litisches Wahlrecht, ihre Erwerbsarbeit war keine Selbstverständ­ lichkeit mehr, sondern wurde vielmehr verpönt, die Mädchen­ bildung war dementsprechend schlecht. Die Frauen des Beamten- und Bildungsbürgertums, also der neu­ en städtischen Oberschicht, suchten und fanden jedoch im Ver­ lauf des 19. Jahrhunderts Mittel und Wege, um aus der Beschrän­ kung auf Heim und Herd auszubrechen. Sie gründeten, unter­ stützt von den jeweiligen Großherzoginnen, mehrere Frauen­ vereine und errichteten zahlreiche wohltätige Einrichtungen wie z. B. Kinderhorte für Armenkinder, Suppenküchen und Mädchen­ schulen. Dadurch erreichten sie schneller als in anderen Städ­ ten Einfluß auf die Kommunalverwaltung und erschlossen zu­ gleich den Frauen neue Berufsfelder wie die der Kindergärtne­ rin, der Krankenschwester oder der Fürsorgerin (Station 1: "Dörfle", Station 4: Rathaus, Station 10: Badischer Frauen­ verein, Abstecher 2: Ludwig Wilhelm Krankenhaus). 14 Die Eröffnung des ersten deutschen Mädchengymnasiums in Karlsruhe im Jahr 1893 markierte einen wesentlichen Schritt zur wissenschaftlichen Emanzipation der Frauen, die ab 1900 an badischen Universitäten studieren durften (Station 8: Mädchengymnasium). Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich Karlsruhe zur Großstadt, Industrieansiedlungen veränder­ ten den Charakter der Stadt und die Arbeitswelt der Frauen (Sta­ tion 9: Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik). Auch das Erscheinungsbild der Stadt wandelte sich, in zahlreichen öffent­ lichen Kunstwerken fanden zeittypische Frauenbilder ihre - nicht unumstrittene - künstlerische Umsetzung (Station 6: Stepha­ nienbrunnen). 1914 -1945: Zwischen Gleichberechtigung und Unterdrückung -Aufbrüche und Einbrüche Nach dem Ende des ersten Weltkrieges, der viele Frauen in die Rüstungsproduktion trieb (Station 9: DWM), und nach der Novemberrevolution 1918 erhielten Frauen endlich die politische Gleichberechtigung. Die Beteiligung von Frauen am politischen und öffentlich-kulturellen Leben wurde in der Weimarer Zeit fast selbstverständlich (Station 4: Rathaus, Station 5: Ständehaus, Abstecher 1: Amalienschlößchen). Hand in Hand mit dem neu­ en Frauenbild gingen auch neue Vorstellungen über die Hausar­ beit, die etwa in der Architekturkonzeption der Dammerstock­ siedlung umgesetzt wurden (Abstecher 3: Dammerstock). 15 Die vielfältigen Aufbrüche der Karlsruher Frauen während der Kaiserzeit und der Weimarer Republik fanden 1933 ein abrup­ tes Ende. Die Nationalsozialisten verdrängten die Frauen wie­ der aus den politischen Gremien (Station 4: Rathaus, Station 5: Ständehaus, Station 10: Badischer Frauenverein). Die Frauen sollten sich wieder vorrangig als Mütter begreifen. Die Zwangssterilisationspolitik in der Hauptstadt des "Mustergaus Baden" zeigte die Schattenseite der vorgeblichen Mütter- und Familienfreundlichkeit des NS-Staates. (Station 7: Gesundheits­ amt). Viele Karlsruherinnen waren von den Zwangsmaßnahmen des neuen Staates betroffen, viele ließen sich aber auch als Wählerinnen und über die NS-Frauenorganisationen für die Inter­ essen dieses Staates aktivieren. Der Zweite Weltkrieg verlang­ te den Frauen wiederum auch infolge der Luftangriffe große Leistungen und Leiden ab und brachte zudem viele Zwangsar­ beiterinnen in die Stadt. (Station 11: Südweststadt). Station 1 a: Ehemalige Pfandleihe im "Dörfle" (Standort: Im Hof des Stadtarchivs, Markgrafenstraße 29) Am Rande der Gesellschaft: Unterschichtsfrauen im "Dörfle" Das Gebäude des Stadtarchivs wurde 1905 als Pfandleihe er­ baut, heute liegt es wie ein Relikt inmitten der sanierten Fläche 16 um die Fritz-Erler-Straße, mit der die Stadtplaner der 60er Jahre eines der ältesten Karlsruher Stadtviertel dem Erdboden gleich­ machten: Die Siedlung, Kleinkarlsruhe oder kurz das "Dörfle" genannt, lag ursprünglich ein ganzes Stück außerhalb der Stadt­ grenzen und gehörte bis zu ihrer Eingemeindung 1812 auch rechtlich nicht zu Karlsruhe. Hier ließen sich seit der Stadt­ gründung 1715 all diejenigen nieder, denen zum Erwerb des Bürgerrechts in der Stadtgemeinde das nötige Vermögen fehl­ te: Tagelöhner und Wäscherinnen, Knechte und Mägde, ärmere Um 1840 endeten die Hinterhöfe des "Dörfle" am Landgraben, der heutigen Steinstrasse. Links im Hintergrund das städtische Krankenhaus am Lidellplatz, vorne eine arbeitende Frau 17 Handwerker und Hofbedienstete, Soldaten und Hausierhänd­ lerinnen. Kleinkarlsruhe wurde zum sozialen Auffangbecken und zum Armenviertel der neuen Residenzstadt. Als sozialer Brenn­ punkt der Stadt wurde es zum Gegenstand vielfältiger armen­ polizeilicher Maßnahmen, die in besonderer Weise zu Lasten der hier lebenden Frauen gingen. Zieht man die Bevölkerung von Karlsruhe und dem noch nicht eingemeindeten "Dörfle" zusammen, so lebte im 18. Jahrhun­ dert fast ein Drittel der Stadtbewohner in "Klein-Karlsruhe". Der Anteil der Frauen war überdurchschnittlich hoch. Sie ernährten oft als Witwen oder unverheiratete Mütter alleine mehrere Kin­ der und arbeiteten als Tagelöhnerinnen auf dem herrschaftli­ chen Gut in Gottesaue oder als Obstverkäuferinnen, Wäscherin­ nen und Spinnerinnen. Das Anwachsen der Unterschichten wur­ de der Obrigkeit zunehmend zum Problem - immer wieder muß­ ten die Armen aus der herrschaftlichen Kasse mit Brennholz oder Almosen unterstützt werden. Sozialpolitisches Ziel gegen­ über dem "Dörfle" war es, die Zahl von Armen nicht weiter an­ wachsen zu lassen. Vielen Männern, vor allem den zahlreichen Soldaten, die fast alle zur Miete im "Dörfle" lebten, wurde die Erlaubnis zu heiraten, verweigert. Die Frauen, die deswegen uneheliche Kinder zur Welt brachten, wurden mit harten Strafen belegt (Abstecher 2a: Richtstätte). Die Anzahl von ledigen Müt­ tern, unehelichen Kindern und "wilden Ehen" in Kleinkarlsruhe 18 war hoch und stieg weiter an. Die Beamtenschaft des absoluti­ stischen Staates sah die Ursache der Armut in der Unmoral und Arbeitsscheu der Armen - für diese Unmoral machte sie nun zunehmend die Frauen im "Dörfle" verantwortlich und erklärte deren Verhaltensweisen zur "Liederlichkeit". Zum Weiteriesen: Karlsruher Frauen, S. 60 ff. Station 1 b: Ehemaliges Spinnhaus (Standort: Markgrafenstraße gegenüber Hofeinfahrt Stadtarchiv) Polizeimaßnahmen gegen Liederlichkeit Die Markgrafenstraße trug früher den Namen Spitalstraße - nach dem städtischen Krankenhaus am Lidellplatz, an der Stelle der Carl-Hofer-Schule. 1877 mußte dem neuen Flügel dieses Gebäudes eine der wichtigsten Einrichtungen des alten "Dörfle" weichen: Das Spinnhaus wurde 1785 im Zuge der Neuorganisa­ tion von Armenfürsorge und Polizeiwesen erbaut. Armenfürsor­ ge meinte damals vor allem auch Disziplinierung der angeblich faulen und arbeitsscheuen Armen, deren Unmoral als Ursache der Armut angesehen wurde. Ganz im Sinne dieser Vorstellun­ gen sollten im Spinnhaus die Armen Kleinkarlsruhes arbeiten und zu "industriösem Fleiß" erzogen werden. Erfaßt wurden da­ bei vor allem die Frauen, die jedoch schon bald der strengen 19 1111' 1 'p i i 1 1 1 1 1 1 p 1 p • IP 1 p I 1 1 1 1 1 20 Anstaltsdisziplin fernblieben. Das Spinnhaus wurde zu einer rei­ nen Kinderarbeitsstätte, die Frauen dagegen holten sich die Ma­ terialien - Baumwolle, Wolle, Flachs und Hasenhaar - dort ab und verarbeiteten sie in Heimarbeit. Das Spinnen war für fast alle Frauen im "Dörfle" eine sichere Einkommensquelle, auf die spä­ testens in Notzeiten zurückgegriffen wurde. Erfassung, Kontrolle und Erziehung waren zentrale Momente der armenpolitischen Konzepte der Zeit. Nach einer Volkszäh­ lung 1795 wurden alle noch nicht arbeitenden Kinder ins Spinn­ haus eingewiesen und allen Mädchen über 15 Jahren ohne ge­ regelte Tätigkeit befohlen, als Magd in einen Stadthaushalt die­ nen zu gehen. Im Jahr 1800 wurde das Arbeitshaus in "Gewerbehaus" umge­ tauft und veränderte sich entsprechend der neuen Formen der Armenfürsorge: 1804 wurde ihm eine Färberei, die Militärschu­ le sowie eine Suppenküche angegliedert, in der die Almosen­ empfangenden eine billige und nahrhafte Suppe erhielten. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden eine Vielzahl weibli­ cher Wohltätigkeitsvereine. Mehr und mehr wurden die fürsor- Abbildung gegenüber: Ansicht und Grundriß des in Gewerbehaus umgetauften Spinnhauses um 1810: Arbeitssäle und "Strafzimmer" befanden sich im ersten Stock, die Kleinkarlsruher Schule, Färberei, Suppenküche und Laden im Erdgeschoß 21 gerischen Maßnahmen im "Dörfle" nun nicht mehr von der reform­ freudigen Beamtenschaft des absolutistischen Staates getra­ gen, sondern von den Frauen der bürgerlichen Oberschicht. Nachdem 1819 die Markgrafenwitwe Karoline Luise das Gewerbehaus organisatorisch wieder in Schwung gebracht hat­ te, übernahm in den 1830er Jahren der größte der damaligen Frauenvereine, der später nach seiner Gründerin, der Großher­ zogin Sophie, "Sophienverein" genannt wurde, zuerst die Sup­ penküche, danach die Armenspinnerei, die sich nun zur Nähschu­ le für arme Mädchen entwickelte und 1840 in "Sophienschule" umbenannt wurde. Gleichzeitig organisierte er den Verkauf der in Heimarbeit angefertigten Spinn-, Web- oder sonstigen Hand­ arbeiten. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 73 ff., 149 ff., 206 ff. Station 1 c: Ehemaliges Luisenhaus (Standort: Ecke Markgrafen/Adlerstraße) Die Anfänge der weiblichen Wohltätigkeit Etwa zur selben Zeit entstand schräg gegenüber von Suppen­ haus und Sophienschule ein zweiter Stützpunkt dieser privaten Wohltätigkeit: 1837 gründete der "Verein zur Rettung sittlich verwahrloster Kinder" in der damaligen Spitalstraße 48, dem heutigen Eckhaus zwischen Markgrafen- und Adlerstraße, die 22 erste "Kleinkinderbewahranstalt" Karlsruhes. Bis gegen Ende des Jahrhunderts sollten aus dieser Initiative eine Vielzahl von Kinder­ gärten in der ganzen Stadt entstehen. Der erste dieser Kindergär­ ten nahm sich vor allem der Kinder im "Dörfle" an, die oft unbe­ aufsichtigt waren und von "Verwahrlosung" bedroht erschienen. Die Wohltätigkeit der Frauen des Karlsruher Bürgertums, die ab 1859 mit dem Badischen Frauenverein in einem der größten Frauenverbände des Kaiserreichs zusammengefaßt werden soll­ te, nahm also ihren Ausgang in den elenden Lebensbedingun­ gen des "Dörfles". Das Gebäude der Kleinkinderanstalt wurde in Vor der Sanierung: Die Häuser Nr. 9 und 11 der ehemaligen Spital-, heuti­ gen Markgrafenstrasse 23 den 1860er Jahren zum ersten Haus des Badischen Frauen­ vereins, erhielt den Namen "Luisenhaus" und beherbergte die ersten vom Verein ausgebildeten Krankenschwestern, eine An­ stalt zur Pflege mutterloser Kinder, eine Schule für Kinderwärte­ rinnen und Räume für die Weiterbildung schulentlassener Mäd­ chen. In den folgenden Jahrzehnten errichtete der Badische Frauenverein zahlreiche weitere Schulen und Institutionen, so daß er 1915 über 20 Adressen allein in Karlsruhe hatte. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 149 ff., 206 ff. Die Kasernierung der Prostitution Von der Ecke Markgrafenstraße/Adlerstraße aus erkennt man in Richtung Lidellplatz und Adlerstraße einige der für das "Dörfle" ebenfalls charakteristischen Nachtbars, die auch die Sanierung nicht völlig zum Verschwinden brachte. Daß sich während des 19. Jahrhunderts das "Dörfle" zum Bordellviertel Karlsruhes ent­ wickelte, war jedoch kein zwangsläufiges Ergebnis aus den so­ zialen Problemen des Viertels. Im 18. Jahrhundert hatte sich die "gewerbsmäßige Unzucht" noch relativ offen auf die ganze Stadt verteilt. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts nun versuchte die Polizei, die "Dirnen" zu kontrollieren, ihr öffentliches Auftre­ ten zu beschränken und "Kuppelei" zu verbieten. Hier im städti­ schen Krankenhaus, an der Stelle der heutigen Carl-Hofer- Schule, wurden die offiziell eingeschriebenen Prostituierten jede 24 Das Bürgerspital, das zwischen 1788 und 1912 an der Stelle der späteren Gewerbeschule am Lidellplatz, am Rande des "Dörfles" stand Woche auf Geschlechtskrankheiten hin untersucht. Im Zuge der zahlreichen Verordnungen gegen die Prostitution konzentrierte sich diese immer mehr in Kleinkarlsruhe: Ab 1875 durften offizi­ ell eingeschriebene Prostituierte nur noch in der Querstraße (= Fasanenstraße), der Brunnenstraße oder hier in der Spitalstraße wohnen, die schließlich bis 1897 zur reinen Bordellgasse ge­ worden war: In den 16 Wohnhäusern lebten und arbeiteten über fünfzig Prostituierte. 1927 wurde reichsweit die Straßenprosti­ tution auf Sperrbezirke begrenzt, in Karlsruhe auf einen Abschnitt 25 der Brunnenstraße. Wie im 18. Jahrhundert die "Liederlichkeit" der Frauen im "Dörfle", so war seit dem 19. Jahrhundert auch die Kasernierung der Prostitution in diesem Viertel Ergebnis ge­ zielter Politik. Zum Weiterlesen: Karlsruher Frauen, S.147 ff., 198 ff. 26 Station 2: Marktfrau (Standort: Zähringerstraße hinter der kleinen Kirche) Frauenarbeit im alten Karlsruhe Die Marktfrauenstatue wurde 1928 im Auftrag der Stadt angefer­ tigt, um dem städtischen Wochenmarkt ein Standbild zu set­ zen, der damals nach immerhin 200 Jahren wegen des stärke­ ren Verkehrsaufkommens an das Ettlinger Tor verlegt wurde. Bezeichnenderweise war das Objekt heftig umstritten - eine ge­ wöhnliche Marktfrau direkt neben der Kirche erschien anstößig oder zumindest unpassend. Am Ende jedoch realisierte der be­ auftragte Bildhauer Hermann Föry keine der als Alternative vor­ geschlagenen Heiligenfiguren, sondern diese höchst lebensna­ he Marktfrau. Auch wenn dies vermutlich nicht in der Absicht der Verantwortli­ chen der Stadt lag: Mit diesem Bildnis haben sie der traditionel­ len Form der Frauenarbeit ein Denkmal gesetzt, die im Gewerbe­ bürgertum des frühen Karlsruhes selbstverständlich und alltäg­ lich war und die in bestimmten Schichten bis ins 19. Jahrhun­ dert hinein die Norm blieb. Die Marktfrau verkörpert die typi­ sche Karlsruherin dieser erste Epoche der Stadtgeschichte: Eine Frau, die in der Regel verheiratet war - mit einem Handwerker, Wirt, Händler oder Tagelöhner -, die zahlreiche Kinder hatte und 27 deren Arbeit sich bei weitem nicht auf Hausarbeit im moder­ nen Sinne beschränkte. Haus­ halt und Erwerbsarbeit waren in der traditionellen Familien­ wirtschaft nicht zu trennen, die Hausarbeit umfaßte auch in der neugegründeten Residenz­ stadt immer noch landwirt­ schaftliche Produktion. Aufga­ be der Frauen war die Arbeit auf den Äckern auf der Mühl­ burger Gemarkung, die Versor­ gung der Obstbäume und Gär- D/e Marktfrau hinter der kleinen Kirche: Eines der wenigen Frauendenkmäler ten, die Haltung von Hühnern, in Karlsruhe Enten, Ziegen oder Schweinen oder sogar Pferden und Kühen. In den Handwerksbetrieben arbeiteten die Frauen in der Produktion oder im Verkauf, beim Tod des Mannes übernahmen sie als Meisterswitwen die Be­ triebsleitung. In den ärmeren Familien - und dazu gehörten die meisten - brachten sie mit Tagelohn, Nähen und Waschen das nötige Bargeld ins Haus. Durch die wirtschaftlichen Freiheiten, mit denen der Stadtgründer Markgraf Karl Wilhelm Gewerbetrei­ bende und Handwerker in seine neue Residenz ziehen wollte, war die rechtliche Situation für bestimmte Formen weiblicher 28 Erwerbsarbeit günstiger als in anderen Städten. Bis 1752 be­ durfte beispielsweise die Eröffnung einer Gastwirtschaft keiner Konzession, und ein Großteil der zahlreichen Schankwirtschaf­ ten Karlsruhes wurde von Frauen betrieben. Was die Arbeit der Handwerkerfrau des 18. von der der Beamten­ gattin des 19. Jahrhunderts unterschied, war weniger die Tatsa­ che, daß diese Frauen arbeiteten, sondern vielmehr die Öffent­ lichkeit und die gesellschaftliche Anerkennung dieser Arbeit. Wirtschaftliches Zentrum der Stadt war der Marktplatz, und das Geschehen auf diesem Hauptumschlagplatz vieler wirtschaft­ licher Güter war im wesentlichen von den Frauen bestimmt. Hier verkauften die Bäuerinnen aus den umliegenden Dörfern Lebens­ mittel, hatten die Frauen der Handwerksmeister ihre Buden und vertrieben Brot und Fleisch, irdene Töpfe und Glaswaren, Mes­ ser und Nägel, Körbe und Tuche. Außerhalb der Markttage wur­ den auf den Plätzen und Straßen von den sogenannten "Vor­ käuferinnen" Obst und Backwaren angeboten. Die Arbeit der Frauen in fast allen Wirtschaftszweigen war unerläßlicher Be­ standteil der Stadtwirtschaft des 18. Jahrhunderts. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe S. 19 ff., 40 ff., 125 ff. 29 30 Station 3: Schloß (Standort: Karl-Friedrich-Straße zwischen Pyramide und Schloß, mit ausrei­ chender Distanz zum Straßenbahnlärm) Die Legende von den "Tulpenmädchen" Die heutige Bebauung des Marktplatzes gestaltete der Karlsru­ her Stadtplaner Friedrich Weinbrenner erst Anfang des 19. Jahrhunderts und ließ dabei auch die Pyramide über das Grab des Markgrafen Karl Wilhelm bauen, der 1715 das Schloß er­ richtete und die Stadt Karlsruhe gründete. Das Schloß in seiner jetzigen Gestalt ersetzte zwischen 1750 und 1770 den ursprüng­ lichen Holzbau, verwendete allerdings die alten Grundmauern, so daß der optische Eindruck nicht wesentlich verändert wurde. Die Anlage brannte im Zweiten Weltkrieg infolge eines Luftan­ griffes aus, der Wiederaufbau ließ nur die äußeren Mauern ste­ hen. Erhalten ist vom ursprünglichen Gebäude noch der Schloß­ turm, der hinter dem Schloß aufsteigt. Zu den zahlreichen Geschichten, die sich um die Stadtgründung Karl Wilhelms ranken, gehört auch die von den "Tulpenmädchen". Mit ein Motiv für die Stadtgründung sei, so heißt es, der große Harem gewesen, den sich der sinnenfrohe Markgraf hier, fern Abbildung gegenüber: Marktgeschehen vor dem Karlsruher Rathaus um 1886 31 von seiner Gemahlin in Durlach, gehalten habe. Angeblich wa­ ren die mindestens 60 "Tulpenmädchen" in dem Schloßturm untergebracht und standen Karl Wilhelm mittels direkter Klingel­ leitungen, die ihre Kammern mit seinem Schlafgemach verban­ den, jederzeit zur Verfügung. Recht unkritisch reichten seit dem 19. Jahrhundert sowohl die Stadtgeschichte wie der "Volksmund" diese Legende weiter und die "Tulpengarde" der Karnevalsge- Das Karlsruher Schloß in seinen ersten Jahren. Der Theatersaal betand sich im östlichen Seitenflügel links im Bild Seilschaft Badenia erinnert heute noch an sie. Zu weiten Teilen ist die Geschichte der "Tulpenmädchen" allerdings ein Produkt der Phantasie. 32 Wahr ist, daß Karl Wilhelm an seinem Hofe rund 60 Hofsängerin­ nen beschäftigte. Die meisten stammten aus dem Durlacher Bürgertum oder aus dem Schwäbischen, einzelne dienten fast 20 Jahre bei Hof. Tatsächlich hatten von diesen insgesamt 150 Hofsängerinnen elf uneheliche Kinder, deren Vater offensicht­ lich Karl Wilhelm war. Von einem Harem kann dennoch keine Rede sein - die Frauen wurden von namhaften Gesangs- und Tanzlehrern ausgebildet und bestritten sämtliche Chor- und Solo­ partien der zahlreichen Opernaufführungen im neuen Schloß­ theater. Die künstlerische Qualität ihrer Darbietungen ließen die­ se zwei Jahrzehnte am Karlsruher Hof als "erste Blütezeit der deutschen Oper" in die Musikgeschichte eingehen. Die meisten der Hofsängerinnen lebten mit einem Stab von rund 25 Mägden, Kindermädchen, Wäscherinnen und Köchinnen im Schloß. Einigen von ihnen gelang es, Häuser in der Stadt zu erwerben. In der Herrenstraße befand sich in den 1720er Jah­ ren eine ganze Siedlung von rund zehn Häusern, die meist von zwei oder drei Hofsängerinnen gemeinsam bewohnt wurden. Daß die Hofsängerinnen die zahlreichen Tulpen im Schloßgar­ ten gepflegt und die wunderschönen, heute noch erhaltenen Tulpenmalereien angefertigt hätten, ist mit Sicherheit eine Erfin­ dung, dafür gab es Gärtner und Zeichner. Die extravagant gro­ ße Schar von 60 Hofsängerinnen wie die noch extravagantere 33 Pflege der 5000 Tulpensorten im Hofgarten sind Elemente des barocken Prachtaufwandes, mit dem die Herrscher des 18. Jahr­ hunderts ihren absolutistischen Machtanspruch zu inszenieren pflegten. Damit aber erschöpft sich der Zusammenhang zwi­ schen den Tulpen und den Mädchen auch schon - "Tulpenmäd­ chen" gab es keine im Karlsruher Schloß. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 23 ff. Markgräfinnen und Großherzoginnen: Vorbild für die bürgerliche Weiblichkeit 1733 flüchtete sich Karl Wilhelm vor den Wirren des polnischen Erbfolgekrieges nach Basel und überließ die Regierungsgeschäf­ te seiner Gattin in Durlach. Das rege Musikleben am Hofe ende­ te abrupt, die Sängerinnen wurden von einem Tag auf den ande­ ren entlassen. Der Hof blieb dennoch das ganze 18. Jahrhun­ dert hindurch das intellektuelle und kulturelle Zentrum der Stadt. Mittelpunkte dieser aufklärerischen Hofgesellschaft bildeten die Frauen der markgräflichen Familie. Für adelige Frauen dieser Zeit war die Beteiligung am gesellschaftspolitischen, philoso­ phischen und künstlerischen Diskurs noch üblich - die bürgerli­ chen Frauen der Karlsruher Oberschicht dagegen wurden eine Generation später von den Lesegesellschaften ihrer Männer ausgeschlossen. Die Besucher des Karlsruher Hofes - unter ih- 34 nen der junge Johann Wolf­ gang von Goethe - erwähnen jedenfalls sehr beeindruckt die Intelligenz und Bildung der Prinzessinnen und der Mark­ gräfin Caroline Luise von Hes­ sen-Darmstadt (1723-1783). Im 19. Jahrhundert wirkten die Herrscherinnen, die seit 1806 den Titel Großherzogin trugen, vor allem auf dem Feld der Wohltätigkeit. Gemeinsam mit den Frauen der Karlsruher Oberschicht initiierte jede von ihnen einen Frauenverein, dem sie als Schirmherrin vorstand: Stephanie Beauharnais gründete im Jahr 1816 den "Allgemeinen Wohltätigkeitsverein", Sophie Wilhelmine von Schweden 1831 den "Sophienverein" (Station 1: "Dörfle") und Luise von Preußen schließlich 1859 den bedeutendsten, den "Badischen Frauen­ verein" (Station 10: Badischer Frauenverein). Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 97, 150 ff., 213 ff. Caroline Luise von Baden (1723 • 1783): Markgräfin, Malerin, Naturfor­ schern, Kunstsammlerin 35 Station 4: Rathaus (Standort: Vorraum des Rathauses oder Marktplatz) Der Weg der Frauen in die Kommunalverwaltung Im Jahr 1825 wurde das neue Karlsruher Rathaus eingeweiht - keine 40 Jahre nach der Französischen Revolution. Schnell war auch in Karlsruhe offenkundig, daß deren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nur die männliche Hälfte der neuen bürgerlichen Gesellschaft meinten - Gemeinderat und Bürgerausschuß sahen lange Zeit keine einzige Frau in ihren Reihen. Der Weg der Frauen in das Karlsruher Rathaus und in die politi­ sche Verantwortung führte über die Wohltätigkeit. Die Armenfür­ sorge war der einzige öffentliche Bereich, in dem die Frauen des gehobenen Bürgertums tätig werden konnten, ohne mit dem Frauenbild ihrer Schicht in Konflikt zu geraten - galt doch der Dienst an den Armen und Schwachen durchaus als der "weibli­ chen Bestimmung" entsprechend. (Station 10: Badischer Frauen­ verein). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sah sich die Karlsruher Stadt­ verwaltung mit steigenden Anforderungen an ein kommunales Armen- und Fürsorgewesen konfrontiert und zunehmend genö- 36 tigt, auf die Erfahrungen und die Kompetenz des Badischen Frauenvereins in diesen Fragen zurückzugreifen. Schon seit 1874 arbeiteten die "Vereinsdamen" mit der städtischen Armen­ kommission bei der Sorge für Armen- und Haltekinder zusam­ men. Mit dem Ortsstatut von 1906 stand auch das neu einge­ führte Amt des städtischen Armenpflegers den Frauen offen, schon 1908 gab es in Karlsruhe 105 weibliche und nur noch 75 männliche Armenpfleger. 1908 wurden zudem Sophie Sautier vom Badischen Frauenverein und Marie von Teuffei vom Vincen- tiusverein stimmberechtigt in den Armen- und Waisenrat aufge­ nommen. Der Karlsruher Stadtrat von 1926, inzwischen mit Frauen: links Luise Mül­ ler, rechts Maria Matheis 37 Mit dieser frühen Beteiligung der Frauen an der Kommunalverwal­ tung nahm Karlsruhe eine Vorreiterrolle ein - noch in den 1890er Jahren löste in Berlin allein der Gedanke an eine Beteiligung von Frauen unter den männlichen Armenpflegern einen Sturm des Protestes aus. Als einziger deutscher Staat schrieb Baden 1910 eine solche Mitarbeit von Frauen gesetzmäßig und verpflichtend vor. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren 19 Frauen in den verschiedenen Kommissionen der Karlsruher Stadtverwal­ tung vertreten. Nach Kriegsende 1919 entwickelten sich aus der ehrenamtlichen Arbeit die Berufe der Wohlfahrtspflegerin, Fürsorgerin oder Sozialbeamtin. Die Sozialarbeit war von einer aus dem "weiblichen Wesen" erwachsenden "Liebestätigkeit" zu einem Beruf geworden. Wenn die Wohltätigkeit den Frauen in Karlsruhe gewissermaßen eine Hintertür zur Kommunalverwaltung eröffnete, so betraten sie nach der Revolution von 1918 das Rathaus auch durch den Haupteingang - als gewählte Politikerinnen. 13 Frauen zogen 1919 in den 109köpfigen Bürgerausschuß ein, drei Stadträtin­ nen in den Gemeinderat: Maria Matheis (Zentrum) kam aus der katholischen Frauenbewegung, Anna Richter (Deutsche Demo­ kratische Partei = DDP) arbeitete im Verein für Verbesserung Abbildung gegenüber: Die ersten Karlsruher Stadträtinnen: Marie Matheis (Zentrum), Kunigunde Fischer (SPD), Anna Richter (DDP), Luise Müller (SPD) 38 39 der Frauenkleidung und war die Vorsitzende des Nationalen Frauendienstes, Kunigunde Fi­ scher (Sozialdemokratische Partei Deutschland = SPD) entstammte der proletari­ schen Frauenbewegung und wurde 1965 als erste Frau Ehrenbürgerin der Stadt. Sie alle hatten bereits vor dem Ersten Weltkrieg politische Er­ fahrung in den kommunalen er u ^ a m o o i > Wohlfahrtskommissionen ge- Elisabeth Großwendt, bis 1933 Leite- b rin des Städtischen Jugendamtes sammelt. In der Reihe derer, die so aus dem Bereich der Wohltätigkeit in die Politik wechselten, fehlten die Vertreterin­ nen des Badischen Frauenvereins - sie blieben bei einer eher konservativen Ausrichtung, die die gesellschaftliche Wirksam­ keit der Frau nicht unbedingt auf das Feld der politischen Gleich­ berechtigung ausgeweitet sehen wollte. Während der Weimarer Zeit schwankte der Frauenanteil in den Gemeindeorganen zwischen acht und zwölf Prozent. Gleichzei­ tig stand als erste weibliche Amtsleiterin Elisabeth Großwendt dem städtische Jugendamt vor. 40 Die nationalsozialistische "Machtergreifung" bedeutete das Ende dieser Beteiligung der Frauen an den politischen Vertretungs­ organen und an Führungspositionen der Verwaltung: Bis Ende 1933 waren die insgesamt neun Kommunalpolitikerinnen ihrer Ämter enthoben und Elisabeth Großwendt zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden. Heute ist die Präsenz von Frauen im Rathaus zur Selbstverständlichkeit geworden. Die reinen Zah­ len, die einen Anteil von ungefähr 49 % Frauen im städtischen Dienst ausweisen, trügen allerdings. Von den 50 städtischen Ämtern werden erst vier von einer Frau geleitet: das Badische Konservatorium, das Finanzreferat, die Kunstsammlungen und der Zoologische Garten. Die Forderung nach gleichgewichtiger Repräsentanz von Frauen im Rathaus hat zu ersten Konsequen­ zen geführt: Seit 1986 arbeitet hier eine städtische Frauenbe­ auftragte, der Karlsruher Gemeinderat beschloß konkrete Maß­ nahmen zur Frauenförderung in der Verwaltung. Auch im Karls­ ruher Stadtrat stieg der Frauenanteil zwischen 1980 und 1994 von 22 % auf 33 %. Seit 1992 gibt es zwei weitere Ehrenbürge­ rinnen, die sich beide als Stadträtinnen oder auch im Landtag politisch engagiert haben. Bald werden neben dem Porträt von Kunigunde Fischer auch die von Hanne Landgraf (SPD) und Toni Menzinger (CDU) das Rathaus schmücken. Zum Weiterlesen: Karlsruher Frauen, S. 19 ff., 157 ff., 249 ff., 325 ff. 41 Station 5: Ständehaus (Standort: Ecke Friedrichsplatz/Ritterstraße) Der Kampf um das Frauenstimmrecht Im Süden wird der Friedrichsplatz dominiert vom Naturkundli­ chen Museum. Seine Sammlung geht auf das Naturalienkabi­ nett der Markgräfin Caroline Luise (1723 -1783) zurück, deren Interesse an Wissenschaft und Kunst selbst für ihre Zeit und Das alte S t ä n d e h a u s 42 Ständesaal des Badischen Landtags 1845 mit Beobachterinnen auf der Gaierie ihre Schicht außergewöhnlich groß war und deren umfangrei­ che Sammlungen neben dem naturkundlichen Museum auch die staatliche Kunsthalle begründeten. Schräg gegenüber steht der 1993 eröffnete Neubau der Stadt­ bibliothek. Er erinnert an das alte, im Zweiten Weltkrieg ausge­ brannte und 1961 abgerissene Ständehaus, das hier 1822 er­ öffnet wurde und das aufgrund der liberalen Verfassung des Großherzogtum Badens von 1818 und wegen der vielen demo­ kratisch engagierten Abgeordneten als Wiege der Demokratie in Deutschland galt. Die Karlsruherinnen konnten das politische Geschehen dieser Zeit lediglich als Zuhörerinnen von der Gale­ rie aus verfolgen. 43 Die Forderung nach der politi­ schen Gleichberechtigung der Frauen ertönte in Karlsruhe zu­ nächst nicht sehr laut. Zu mächtig war hier der konser­ vative Badische Frauenverein, der sich nicht dem 1894 ge­ gründeten Bund Deutscher Für die berufliche und politische Eman- Frauenvereine (BDF) anschloß zipation der Frauen: Anzeige des Ver- und s i cn ausdrücklich von des- eins Frauenbildung-Frauenstudium von 1906 sen politischer Zielsetzung abgrenzte. Mit der Gründung des ersten deutschen Mädchen­ gymnasiums 1893 (Station 8: Mädchengymnasium) wurden die Kontakte der Karlsruherinnen zur emanzipativ-politischen Frau­ enbewegung intensiver. Der Verein Frauenbildungsreform, spä­ ter Frauenbildung-Frauenstudium, der das Gymnasium trug, en­ gagierte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch für das Frauenstimmrecht, unterstützt von der 1903 gegründeten Rechtsauskunftsstelle für Frauen und Mädchen. Diese bot wie in vielen anderen Städten in Deutschland als Reaktion auf das 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch Frauen Beistand in Fragen des Ehe-, Arbeits- und Vormundschaftsrechts an. Im Jahr 1908 entstand eine Karlsruher Ortsgruppe des Verbandes für Frauenstimmrecht, die bis 1912 an die hundert Mitglieder hatte. Die drei Initiativen arbeiteten eng zusammen und organi- Franenüilflung—FrauenstnfliRm K. V. Samstag, den 24. Februar, abends 6 Uhr im grossen Bathanssnale Monats-Versammlung. = V o r t r a g " = von Frl. M a r i e v . He l ldor f f -Weimar : „Frauen-BeroiFe" Beratung über die Einrichtung einer Auskunfta-StcIIe. Dm »«Ureiohea Besttoh, auch Ton N ic lUt t . i t - C t l e d e r n , wird gebeten. Der Vorstand. 44 http://NiclUtt.it- sierten Veranstaltungen und Vorträge, zu denen die bekannte­ sten Vertreterinnen der Frauenstimmrechtsbewegung wie Ma­ rie Stritt oder Lida Gustava Heimann nach Karlsruhe eingeladen wurden. Die Auseinandersetzungen um die politische Gleichberechtigung verlagerte sich zunehmend in die politischen Parteien, nachdem 1908 reichsweit den Frauen der Zutritt in diese ermöglicht wur­ de. Viele Aktive der politischen Frauenbewegung Karlsruhes - etwa Marie Schloß und Sonja Kronstein - standen den Parteien des linksliberalen Spektrums nahe und manche traten der Fortschrittlichen Volkspartei bei. Um die gleiche Zeit gründeten Kunigunde Fischer, Else Rückert und Dora Trinks die Karlsruher Frauensektion der SPD, die u. a. zum ersten in­ ternationalen Frauentag, der am 19. März 1911 stattfand, eine gut besuchte Versamm­ lung zum Frauenstimmrecht veranstaltete. Trotz program­ matischer Abgrenzungen zwi­ schen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbe­ wegung arbeiteten in Karlsru- a m D o n n e r s t a g , ö c n 19 . 2 )e3cmbet , a b e n d s 8 Ut)t, im S a a l e ber „ < E i n t r a d ) t " , fiarl gfr iebridj f t t . gs (predjen: grau SDlcta Cxuarif'£>ammer[cijla(j übet: Sftraenniiijjlreiljt ». eoplöeioftnitie. §etr SRedjiSanraalt mi> Staitrai Dr. S)ic<} über: Sflaial&eiiiofiMie & 3latlonolmaljleir. SßMr erfitdjeti insbefonbere bie grauen unb 3!?abdien um it)r ©rfdiemen. ^rcie 2ln3fprarf)e für Qebermann nadj ben Vorträgen, ©ie 9?ötionaQibecaIeit getoäfjreii befanutlid) in iEjrcn ^rnnetiüetfammüingcii beu Sozial- bemofratett feine 2Iu3!prad)e. 6̂ 9? 9er foäittiiieniototî e 3Bal)teft§i|), Auch die SPD warb im Dezember 1918 besonders um die Stimmen der Frau­ en 45 he die Politikerinnen beider Richtungen auch zusammen. Im Juni 1918 beantragte der freisinnige Abgeordnete Oskar Muser, neben seiner Partei, der Fortschrittlichen Volkspartei, noch von SPD und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) unterstützt, hier im Ständehaus die Einführung des Frauenstimmrechtes. Die Nationalliberalen und die Zentrumspartei lehnten den Antrag ab, der damit keine Mehr­ heit fand. Nur wenige Monate später jedoch brachte die Novem­ berrevolution den Frauen in Deutschland und damit auch den Badenerinnen die vollen Bür­ gerrechte. Alle Parteien in Karlsruhe bemühten sich nun um die schwer einzuschätzen­ den neuen Wählerinnen. Die erste Wahl in Deutschland, an der Frauen teilnahmen, fand am 5. Januar 1919 statt und galt der Besetzung der Badi­ schen Nationalversammlung, die hier im Ständehaus tagte. Unter den neun Frauen, die schließlich in die verfassungs- ?n?n S- e b^V eT t1 a s? n tTnlol gebende Nationalversamm-1919 im badischen Landtag, 1932/ 33 im Reichstag lung einzogen, waren die mm 46 Karlsruherinnen Clara Siebert (Zentrumspartei) und Kunigunde Fischer (SPD). Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die noch jungen demokratischen Strukturen des Landtages zerschlagen, der Zweite Weltkrieg zerstörte sein Gebäude. Der badische Land­ tag wurde nach Kriegsende mit dem württembergischen zusam­ men- und 1952 endgültig nach Stuttgart verlegt. In der jetzigen Stadtbibliothek, die im Baustil an das alte Ständehaus erinnert, dokumentieren eine kleine Ausstellung und ein Informationszen­ trum die Geschichte des badischen Parlamentes und unter an­ derem auch die Biographien seiner Politikerinnen. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 157, S. 240 ff., S. 295 ff. 47 Abstecher 1 (oder direkt nach Station 6): Überreste des Amalienschlößchens (Standort: Ritterstraße, am Rand des Nymphengartens) Das Heim der weiblichen Vereine: Kulturelle und politische Akti­ vitäten während der Weimarer Republik Bereits im 19. Jahrhundert stellte Großherzogin Luise einige Gebäude der Ritterstraße und das Gartenschlößchen auf dem heutigen Gelände des Bundesgerichtshofs für Aktivitäten der Frauenvereine zur Verfügung. Eine besondere Bedeutung für die Karlsruher Frauenbewegung gewann jedoch das Amalienschlößchen im Erbprinzengarten. Heute steht nur noch der Sockel dieses Gebäudes, das 1802 von Friedrich Weinbrenner für die verwitwete Markgräfin Amalie von Baden erbaut wurde. Sie pflegte hier in einer kunstvollen pseudogotischen Kapelle einen romantischen Totenkult für ih­ ren verstorbenen Gemahl, den Erbprinzen Karl Ludwig. Im Okto­ ber 1919 mietete dann der zu Beginn des Ersten Weltkrieges gegründete Nationale Frauendienst das Amalienschlößchen, das sich nun "Heim der weiblichen Vereine" nannte und das bis 1923 das Zentrum der kulturellen und politischen Aktivitäten der Karls­ ruher Frauenvereine bildete. Im "Heim der weiblichen Vereine" erhielt jeder der Vereine ein Zimmer, der Saal und Versammlungs- 48 Das inzwischen zerstörte Amalienschlößchen im Erbprinzen- oder Nymphen­ garten diente nach 1919 als "Heim der weiblichen Vereine" räum wurde gemeinsam genutzt. Zwar lösten sich die alten Kampforganisationen wie der Frauenstimmrechtsverein und die Rechtsauskunftsstelle 1919 auf (Station 5: Ständehaus), der Verein Frauenbildung-Frauenstudium dagegen blieb bestehen und zog in das neue "Frauenzentrum" ein. Traditionsreich war auch der hier vertretene Karlsruher "Verband für Deutsche'Frauenklei- dung und Frauenkultur". Er bestand schon seit 1901 unter dem Namen "Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung" und nahm sich eines der zentralen Themen der Frauenbewegung an, der 49 Bekämpfung des Korsetts und der einengenden und gesundheits­ schädlichen Frauenmoden. Aktive Mitglieder waren etwa eine der prominentesten Vertreterinnen der Reformbewegung, die Reformkleidschneiderin Emmy Schoch, die in Karlsruhe in der Herrenstraße ihr Atelier hatte, und der Frauenarzt Dr. Hermann Paul. An seinen Schriften und deren Neuauflagen während des dritten Reiches wird jedoch deutlich, daß in den emanzipativen Bemühungen um die Befreiung des weiblichen Körpers eine Sicht­ weise angelegt sein konnte, die diesen Körper und seine Gebär­ funktion in den Dienst eines rassepolitischen und nationalen Größenwahns stellen wollte (Station 7: Gesundheitsamt). Weiter waren im Vereinsheim neben dem "Nationalen Frauendienst" noch der Karlsruher Hausfrauenbund vertreten, der Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten und der Malerinnen­ verein. Lange bestand dieses erste Karlsruher "Frauenzentrum" allerdings nicht: Infolge der Inflation konnten die Vereine die Miete nicht mehr tragen und zogen aus - lediglich der Saal wurde wei­ terhin für ihre Veranstaltungen angemietet. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 303 ff. 50 Station 6: Brunnen auf dem Stephanplatz (Standort: Heinrich-von-Stephan-Platz) Frauendarstellungen im Stadtbild der Jahrhundertwende Der Brunnen auf dem Stephanplatz, fälschlicherweise auch "Stephanienbrunnen" genannt, entstand zwischen 1903 und 1905, also in der Zeit, als die Stadt Karlsruhe im Streben nach großstädtischem Flair zahlreiche solcher öffentlicher Kunstwer­ ke in Auftrag gab. Er ist ein besonders markantes Beispiel für die Art der Präsentation von Frauen- und Weiblichkeitsbildern, die nun das Stadtbild verschönten. Deutlicher als andere zeigt die Brunnenanlage die Zweideutigkeit, die vielen dieser Frauen­ darstellungen anhaftet: Eine nackte weibliche Bronzefigur wird von 14 fratzenhaften Männerköpfen umringt und angespuckt, die Anlage des Brunnens zwingt die Betrachtenden fast zwangs­ läufig in eine voyeuristische Rolle, da diese sich im einzigen direkten Zugang in den Rund der spuckenden Fratzen einreihen. Ursprünglich hatten der Architekt Hermann Billing und der Bild­ hauer Hermann Binz eine ganz andere Anlage mit einem allein­ stehenden weiblichen Bronzeakt geplant. Nachdem kurz zuvor die nackten Brunnenfiguren im Nymphengarten schon ziemli­ chen Aufruhr in der Stadt verursacht hatten, äußerten einzelne Stadtverordnete nun sittliche Bedenken gegen den Billingschen Entwurf. Die Künstler verliehen daraufhin nicht etwa ihrer Figur 51 Eine zeitgenössische Postkarte versieht die Fratzen des Stephansbrunnens mit den Namen ihrer Vorbilder eine Bekleidung, sondern umgaben sie mit 14 Steinpfeilern, die die Gesichtszüge stadtbekannter Persönlichkeiten trugen: Schaut man vom Zugang aus auf die Figur in der Mitte, dann zeigt der zweite Kopf rechts den damaligen Oberbürgermeister Karl Schnetzler. Professor Reinhard Baumeister, einer der Haupt­ gegner des Erstentwurfes, prangt auf der vierten Säule links, zusätzlich verspottet von einer kleinen Nixe, die ihn am Bart zupft. Der jetzige Brunnen läßt sich so als eine Art künstlerischen Ra­ cheaktes an den Stadtverordneten und als Teil einer Auseinan­ dersetzung um die neuen künstlerischen Bestrebungen im Jugendstil erklären und bis zu einem bestimmten Grad verste- 52 hen. Wer durch die kontrastierte Darstellung von häßlichen, spuk- kenden und glotzenden Männergesichtern und der ästhetisierten Frauenfigur nun herabgewürdigt wird - die Frau oder die Männer - sei dahingestellt. Generell jedoch werden im Erscheinungsbild der Stadt Frauen wie hier als abstraktes Ideal einer zeitlosen Weiblichkeit dargestellt, Männer dagegen durchweg als indivi­ duelle Persönlichkeiten. Die Aufnahme in das Rund des "Stepha­ nienbrunnens" bedeutete für die betroffenen Männer letztend­ lich eine Würdigung ihrer Bedeutung im städtischen Leben und wurde sichtlich nicht als Abwertung aufgefaßt, verewigten sich doch die beiden Künstler selbst in der Männerrunde auf den Pfosten links und rechts vom Zugang. Wie kein anderes öffentliches Kunstwerk je vor oder nach ihm löste die Enthüllung des Brunnens im August 1905 Auseinander­ setzungen in der Karlsruher Bevölkerung und in der lokalen und überregionalen Presse aus. Thema war in erster Linie die Nackt­ heit der Figur, die als anstössig und der Jugend verderblich empfunden wurde. Der Ruf nach mehr Sittlichkeit in der Kunst wurde vor allem von der Zentrumspartei erhoben und im gera­ de stattfindenden Landtagswahlkampf gegen Sozialdemokraten und Nationalliberale eingesetzt. Auch überregional fand die Karlsruher Kunst- und Sittlichkeitsdebatte Beachtung, etwa in der Münchner Zeitschrift "Jugend", von der später der Jugend­ stil seinen Namen erhielt. Sie schlug vor, die Seitenbögen des Brunnens zu schließen und nur "moralisch gefestigten" Perso- 53 Die Zeitschrift "Jugend" mokierte sich über die Auseinandersetzung um den "anstössigen" Brunnen nen gegen Entgeld den Einblick zu gestatten, den Erlös dann für badische Männerklöster oder für den Ankauf von Baumwoll­ höschen für antike und moderne Statuen zu verwenden. Schließlich wurde im November 1905 dem Stadtrat eine Protest­ schrift gegen den Brunnen übergeben, die von 3468 "Frauen 54 und Jungfrauen der Stadt Karlsruhe" unterzeichnet war. In ihr wurde nicht nur mit der vielzitierten Sittenverderbnis der Jugend, sondern vor allem mit der Verletzung des "weiblichen Anstandsge­ fühls" und "Ehrgefühls" argumentiert und die "Zusammenstellung der Männerporträte mit der unbekleideten Frauengestalt" als "cynisch" bezeichnet. Entschieden verlangten die Frauen, der Stadtrat möge doch "unserem Ehrgefühl bei Aufstellung monu­ mentaler Bauten jetzt und künftig gebührende Rücksicht" entgegenbringen. Ob die fast 90 Jahre, die seither vergangen sind, ausgereicht haben, um den Eindruck von Verachtung zu verwischen, den die spuckende und glotzende Männerrunde der stoischen Frauenfigur bereits so lange entgegenbringt, sei da­ hingestellt. Es ist zu vermuten, daß sich auch noch heute viele Frauen den Forderungen ihrer Vorgängerinnen anschließen wür­ den. Übrigens stellt die Figur keine bestimmte Frau, gar die großher­ zogliche Stephanie dar - die Bezeichnung "Stephanienbrunnen" leitete der Volksmund aus dem Platz ab, der nach dem Generalpostmeister Heinrich von Stephan benannt ist. Dieser sprach sich 1872 gegen die Anstellung von Frauen in Postäm­ tern aus - "aus Gründen der Delicatesse" wollte er "der Weiblich­ keit" den alltäglichen Kontakt mit den vorwiegend männlichen Kollegen und mit der Postkundschaft erspart wissen. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 194; Brandenburger, G./Großkinsky, M./ Kabierske, G. u.a.: Denkmäler, Brunnen und Freiplastiken in Karlsruhe 1715-1945, Karlsruhe 1989, S.437 ff. 55 Station 7: Ehemaliges Staatliches Gesundheitsamt (Standort: Hinterhof der Gebäude Karlstraße 36/38) Zwangssterilisationen in der NS-Zeit In diesem Gebäudekomplex in der Karlstraße 36/38 wurde am 1. April 1935 eine neue Behörde eingerichtet, das staatliche Gesundheitsamt Karlsruhe; ihm folgten viele solcher Einrichtun­ gen in ganz Baden. Zweck dieser Gründung war nicht nur die längst fällige Neuorganisation des öffentlichen Gesundheitswe­ sens. Primäre Aufgabe der neuen Gesundheitsämter war die "Erb- und Rassenpflege", mit ihnen schuf sich die nationalsozia­ listische Administration das Instrumentarium zur Erfassung und Kontrolle all derjenigen, deren Fortpflanzung nicht im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie lag: Behinderung, psy­ chische Krankheit, Alkoholismus und soziale Auffälligkeit galten als "minderwertige" und als vererbbare Eigenschaften. Schon im Sommer 1933 war das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft getreten, das es erlaubte, als "erbkrank" eingestufte Menschen auch gegen ihren Willen zu sterilisieren, um deren Fortpflanzung zu verhindern und den "Volkskörper" von "minderwertigen" Elementen zu befreien. Aufgrund dieses Gesetzes erlitten bis 1945 rund 400.000 Menschen Zwangs­ sterilisationen. 56 Bei der Durchführung des Gesetzes spielten die staatlichen Gesundheitsämter eine wichtige Rolle. Eine ihrer zentralen Auf­ gaben war die Anlage einer "erbbiologischen Kartei", in der die Bevölkerung der insgesamt 52 Gemeinden des Stadt- und Land­ bezirks Karlsruhe erfaßt werden sollte. Diese sogenannte "Erbbe­ standsaufnahme" betrieb die "Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege" des Gesundheitsamtes in Zusammenarbeit mit zahllosen anderen Behörden und Einrichtungen des Gesundheits­ und Fürsorgewesens: Niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Heil- und Pflegeeinrichtungen, Psychiatrische Kliniken und Erzie­ hungsheime, Behinderten- und Blindenanstalten meldeten die Daten der bei ihnen behandelten Menschen an das Gesundheits­ amt, das daraufhin eine Untersuchung veranlaßte. 80.000 Per­ sonen wurden so bis 1945 in der "erbbiologischen Kartei" des Karlsruher Gesundheitsamtes erfaßt und auf ihre Fortpflanzungs­ würdigkeit hin untersucht - rund ein Viertel der Gesamtbevölke­ rung. Angeordnet wurde die Zwangsterilisation vom Erbgesund- heitsgericht in der Bismarckstraße, eventuelle Widersprüche der Betroffenen wurden beim Erbgesundheitsobergericht in der Hofstraße verhandelt, allerdings in den meisten Fällen abgelehnt. Baden war nationalsozialistischer Mustergau, und neben Ham­ burg, Berlin und Dresden war auch Karlsruhe in der Sterilisations­ politik "vorbildlich". In der Landesfrauenklinik in der Kaiserallee, im städtischen Krankenhaus in der Moltkestraße und im Diakonis- 57 senkrankenhaus in Rüppurr gehörten die Zwangsterilisationen in diesen Jahren zum alltäglichen Klinikgeschäft (Abstecher 2 b: Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus). Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 wurden 149 Frauen und 65 Männer zwangssteri­ lisiert. Die Frauen waren zwischen 1935 und 1939 bei rund 600 vollzogenen Unfruchtbarmachungen mit einem Anteil von 53 % nur gering überrepräsentiert. Die medizinischen Risiken des Eingriffs waren bei Frauen wesentlich höher, und die lebens­ lange Unfruchtbarkeit wog schwerer unter einem ideologischen Weltbild, das den Wert der Frau allein über ihre Gebärfähigkeit und über Mutterschaft definierte. Schließlich lauteten die mei­ sten Diagnosen auf den sehr dehnbaren Begriff "Schwachsinn", und der folgte ganz deutlich geschlechtspezifischen Kriterien. Bewertet wurde bei Frauen etwa der "sittliche Halt" oder die "hauswirtschaftlichen Vorstellungen", d. h. die Übereinstimmung mit geltenden Weiblichkeitsnormen. Aus einem abweichenden Rollenverhalten oder "asozialen" Lebensverhältnissen, aus Un­ ordentlichkeit oder "Unverschämtheit" konnte bereits die Not­ wendigkeit einer Zwangssterilisation abgeleitet werden. Gleichzeitig wirft diese Form der Bevölkerungpolitik ein anderes Licht auf den Mutter- und Familienkult, den die nationalsoziali­ stische Propaganda verbreitete. Ehestandsdarlehen und Mutter­ kreuz begünstigten lediglich die "erbgesunden", "rassisch ein­ wandfreien" und arischen Frauen. "Fremdvölkischen" oder wie 58 es im NS-Jargon hieß "minderwertigen" Frauen dagegen sprach der Staat das Recht auf Mutterschaft ab. Die scheinbare Kinder- und Mütterfreundlichkeit der nationalsozialistischen Politik täuscht. Bestimmung der Frau war in der nationalsozialistischen Ideologie nicht die Sorge für Heim und Familie, sondern letzt­ endlich die Aufzucht eines "erbgesunden Volkskörpers". Hinter der Idealisierung der blonden Mutter steckte die Reduktion der Frau auf ihre Gebärfunktion. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 358 ff. 59 Station 8: Erstes deutsches Mädchengymnasium (Standort: Sophienstraße 14, wenn möglich im Hof des Fichtegymnasiums) Der Weg zum Mädchenabitur Das Gebäude Sophienstraße 14 wurde 1877/78 von der Stadt Karlsruhe für die sogenannte "Höhere Mädchenschule" erbaut. Diese Schule war eine typische Institution für die Mädchenbil­ dung der bürgerlichen Gesellschaft. Wie die zahlreichen priva­ ten Lehranstalten und das exklusive Viktoriapensionat sollte die Höhere Mädchenschule die Töchter des Bürgertums nicht auf eine Berufsausbildung, sondern auf ihre Aufgaben als Damen und auf die Führung eines bürgerlichen Haushaltes vorbereiten, nicht jedoch auf eine wissenschaftliche Ausbildung. Gymnasien und Universitäten dagegen waren den Frauen verschlossen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt Karlsruhe in zweifacher Hinsicht zur Schrittmacherin für die wissenschaftli­ che Emanzipation der Frauen. Schräg gegenüber, in der Sophien­ straße Nr. 31/33, im heutigen staatlichen Schulamt, befand sich ab 1884 die von Fanny Trier gegründete Lehrerinnen­ bildungsanstalt, die seit 1878 Prinzessin-Wilhelm-Stift hieß und die weit über Karlsruhe hinaus bekannt war. Der Lehrerinnen­ beruf war die einzige Möglichkeit für Frauen, weiterführende Bildung zu erwerben, und das Karlsruher Seminar bot einen für die Zeit ungewöhnlich qualifizierten Ausbildungsgang. 60 Der zweite und wichtigere Schritt auf diesem Wege war die Einführung der Gymnasi­ albildung für Mädchen mit or­ dentlichem Abiturabschluß, die den Frauen den Zugang zu den Hochschulen eröffne­ te. Daß 1893 in Karlsruhe das erste deutsche Mädchen­ gymnasium seinen Betrieb aufnahm, ging auf die Initiati­ ve der emanzipativen Frauen­ bewegung außerhalb Karlsru­ hes zurück, auf die sogenann­ ten "Radikalen" der Frauenbe­ wegung: 1888 nämlich gründete Hedwig Johanna Kettler in Wei­ mar den "Verein Frauenbildungsreform". Anders als das von der Forschung bisher mehr wahrgenommene Konzept von Helene Lange in Berlin, nach dem die Mädchen nach der Höheren Töchterbildung mit dreijährigen Kursen auf das Abitur hingeführt wurden, forderte Hedwig Kettler die Einrichtung des Voll­ gymnasiums für Mädchen. Der Verein wandte sich reichsweit mit seinem Anliegen an die Regierungen und stieß im badischen Landtag, im Ständehaus, bei der badischen Regierung und bei den städtischen Behörden Karlsruhes auf eine nicht ganz ableh- Hedwig Johanna Kettler, Gründerin des "Vereins Frauenbildungsreform" und Initiatorin des ersten deutschen Mäd­ chengymnasiums 61 nende Resonanz. Daraufhin errichtete er hier - zunächst als private Institu­ tion - das erste deutsche Mädchengymnasium in den Räumen, die die Höhere Mädchenschule zur Verfü­ gung stellte. In der Aula/Turnhalle, die heute noch links hinten im Schulhof steht, wurde am 16. September 1893 unter großer Anteilnahme der Öf­ fentlichkeit und mit Festre­ den von Hedwig Johanna Kettler und Anita Augspurg das Mädchengymnasium eröffnet. Die Schule nahm mit zunächst 28 Schülerinnen ihren Lehrbe­ trieb in dem Gebäude hinter der Turnhalle auf, dem Hinterhaus der Waldstraße 83. Noch war unklar, ob sie das Recht zur Abiturs­ prüfung tatsächlich erhalten sollte. Die endgültig letzte Hürde nahm das Schulprojekt, als es 1898 die Stadt in seine Verwal­ tung nahm, mit der Höheren Mädchenschule organisatorisch verband und damit zur öffentlich-städtischen Institution machte. Ein Jahr später, 1899 legten hier die ersten vier Schülerinnen Rachel Straus, geb. Goithein, eine der vier ersten Abiturientinnen der Schule und spätere Ärztin 62 Die Oberprima des Mädchengymnasiums im Schuljahr 1905/06 das Abitur ab. Zwei von ihnen, darunter Rachel Goithein, studier­ ten an der medizinischen Fakultät in Heidelberg, Magdalena Meub wurde zur ersten immatrikulierten Studentin an der technischen Hochschule Karlsruhe. Das erste Examen legte dort 1913 die Chemikerin Else Reinfurth ab, die erste Promotion 1915 die Chemikerin Irene Rosenberg, beides Karlsruherinnen und Schü­ lerinnen des Mädchengymnasiums. Daß das Ansehen der Schule und die Schülerinnenzahlen von Jahr zu Jahr anstiegen, führte schließlich dazu, daß das Gymna- 63 sium 1911 aus diesem Gebäude in einen Neubau in der Sophien­ straße 147 am Gutenbergplatz zog. (Abstecher 2) Das Mädchen­ gymnasium erhielt den Namen Lessing-Gymnasium, die Höhere Mädchenschule hieß ab nun Fichte-Schule. Diese wurde 1926 ebenfalls zu einem Gymnasium. Beide Gymnasien bestehen bis heute - seit der Einführung der Koedukation 1972 werden sie auch von Jungen besucht. Das Mädchenabitur ist heute eine Selbstverständlichkeit: Im Jahre 1990, also fast hundert Jahre nach der Eröffnung des ersten deutschen Mädchengymnasium, legten in Karlsruhe 348 Mädchen das Abitur ab - genausoviele wie Jungen. Im Jahr der Feier des hundertjährigen Bestehens des ersten Mädchengymnasiums gab es im Fichte-Gymnasium Überlegungen und Diskussionen, ob die Schule nicht nach ihrer Gründerin Hedwig Kettler umbenannt werden sollte. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 103 ff., 200 ff. Abbildung gegenüber. Der Leistungskurs Kunst schuf diesen Beitrag zur Diskussionen um eine Umbenennung des Gymnasiums 64 65 Abstecher 2 a (oder direkt nach Station 9): Ehemalige Richtstätte (Standort: Gutenbergplatz) Hingerichtet wegen Kindsmordes 1911 wurde an der südöstlichen Seite des Gutenbergplatzes das neue Gebäude des Mädchengymnasiums, das Lessing­ gymnasium, errichtet (Station 8: Mädchengymnasium). Am ge­ genüberliegenden Ende des Platzes überbaute man gleichzei­ tig das offene Gelände, das der Stadt bis ins 19. Jahrhundert hinein als Richtstätte gedient hatte. Hier wurde am 17. Januar 1772 zum letzten Mal in Baden eine Frau wegen Kindsmordes hingerichtet. Ihr Name war Catharina Würbs, sie war 21 Jahre alt, lebte als Tagelöhnerin in Klein-Karlsruhe, also im "Dörfle", und ihre Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die problematische Situation vieler Unterschichtsfrauen dort (Station 1: Dörfle). Catharina Würbs begann eine Beziehung mit dem Soldaten Si­ mon Wehringer, der als Kostgänger bei ihrer Familie verkehrte, wurde schwanger und wollte heiraten. Da ihr Verlobter als Sol­ dat keine Heiratserlaubnis erhielt, wurde aus der von den Be­ troffenen beabsichtigten Eheschließung das strafrechtliche De­ likt der "Unzucht". Catharina erhielt ihre "Hurenstrafe", das Kind jedoch starb kurz nach der Geburt. Als rund ein Jahr später eine zweite Schwangerschaft zu befürchten war, drängte Wehringers 66 Major ihn, die "illegale" Beziehung zu beenden. Der Soldat droh­ te nun seiner Verlobten, sie zu verlassen und brachte sie damit in eine sehr kritische Situation. War bei einem Unzuchtsvergehen der Partner ein Soldat, so konnte die ledige Mutter keine der üblichen Alimentationsansprüche erheben und hatte keinerlei rechtliche Handhabe gegen ihn. Catharina Würbs wußte dies genau, und die harten strafrechtlichen Maßnahmen gegen ledi­ ge Mütter hatte sie bei ihrer ersten unehelichen Schwanger­ schaft kennengelernt. Hohe Geldstrafen und Gefängnis mit Zwangsarbeit waren noch das wenigste, bei einem zweiten Unzuchtvergehen drohte ihr die entehrende Strafe des "Huren­ karrens" und unter Umständen die Landesverweisung. Neben ihrer eigenen Angst vor Strafe sah sie sich von Familie und Nachbarschaft unter Druck gesetzt, die ebenfalls Strafen wegen Mitwisserschaft bei einer verheimlichten Schwangerschaft fürchteten. Hartnäckig leugnete Catharina Würbs nun die Tatsa­ che dieser Schwangerschaft - sogar vor sich selbst. Völlig un­ vorbereitet wurde sie so eines Tages im Keller von den Wehen überrascht, und schlug in dem tranceartigen Zustand nach der Geburt dem Neugeborenen mit einer Rübe auf den Kopf, um so noch in letzter Minute eine verzweifelt geleugnete Realität abzu­ wenden. Natürlich wurde die Tat entdeckt und die Obrigkeit ein­ geschaltet. 67 Normalerweise wurde zu dieser Zeit in Baden die Todesstrafe für Kindsmörderinnen bereits in eine Zuchthausstrafe umgewan­ delt. Das Schauspiel von Catharina Würbs Hinrichtung bildete eine Ausnahme, von der man sich eine abschreckende Wirkung auf die vielen anderen "liederlichen Weibsbilder" in Kleinkarlsruhe erhoffte. Daß diese nicht eintrat, belegen die weiterhin steigen­ den Zahlen von ledigen Mütter, unehelichen Kinder und wilden Ehen im "Dörfle". Der jahrzehntelange Kampf der absolutistischen Obrigkeit gegen die vorgebliche "Unsittlichkeit" der Unterschich­ ten, bei dem immer ausschließlicher die Frauen dieser Schicht verfolgt wurden, erreichte mit dem Tod von Catharina Würbs seinen Höhepunkt - und seinen Wendepunkt. Allmählich führte der aufklärerische Diskurs um den Kindsmord zu einer Humani­ sierung des Strafrechtes und zu einer Reform des Militärwe­ sens. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 78 ff. 68 Das Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus des Badischen Frauenvereins kurz nach seiner Erbauung 1890 Abstecher 2 b: Ehemaliges Ludwig Wilhelm Krankenhaus (Standort: Ecke Kaiserallee/Kochstraße) Krankenpflege im Dienste des Vaterlandes: Das Rote Kreuz Der Badische Frauenverein ließ hier zwischen 1887 und 1890 das Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus erbauen. Das war damals der Höhepunkt seiner Karlsruher Tätigkeit im Bereich der Kranken­ pflege: Schon seit 1860 bildete der Badische Frauenverein zivi­ le Krankenschwestern aus (Station 1 c: Luisenhaus) und mach- 69 Karlsruher Lazarett im Krieg 1870/71 mit den Rot-Kreuz-Schwestern des Badischen Frauenvereins te so die Krankenpflege zu einem weiblichen Ausbildungsberuf. Bisher lag die öffentliche Krankenpflege - die meisten Kranken allerdings wurden in der Familie versorgt - in den Händen der Diakonissen oder der "Barmherzigen Schwestern". Das Ziel, eine organisierte Krankenpflege zumindest für den Kriegsfall aufzubauen, verfolgte das Internationale Rote Kreuz, das unter der Führung von Henri Dunant 1863 zur "Verbesse­ rung des Loses verwundeter oder kranker Krieger" gegründet wurde. 1866 schloß sich ihm die Krankenpflegeabteilung des Frauenvereins an. Sie übernahm im Kriegsfalle die Versorgung 70 von Kriegsverletzten, d. h. die Entsendung von Schwestern an die Front, die Organisation und Ausrüstung von Lazaretten, von Sammlungen und anderen Unterstützungsleistungen. Ab 1866 wurden diese Aktivitäten von dem Gartenschlößchen in der Herrenstraße, auf dem heutigen Bundesgerichtshof­ gelände, aus organisiert. Ein Seitenflügel des Gebäudes beher­ bergte die erste Vereinsklinik des Badischen Frauenvereins, die anfangs gerade sieben Betten umfaßte. Als im Jahr 1890 die Vereinsklinik und das Mutterhaus des Roten Kreuzes hierher in das neue Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus umzogen, standen 79 Betten für den alltäglichen Klinikbetrieb zur Verfügung. Die Kli­ nik umfaßte eine chirurgische, eine gynäkologische und die Arbeit in der Wäscherei des Krankenhauses um 1900. Im schwarzen Kleid Sophie Roller, die Generaloberin des Roten Kreuzes 71 Augenabteilung. Später wurde ihr noch ein "Wöchnerinnen-Asyl" für mittellose Frauen angeschlossen. 1904 kam ein weiteres Gebäude hinzu, der Vorläufer des in der Kochstraße gelegenen "Luisenheims", heute noch Altersheim für ehemalige Schwe­ stern des Roten Kreuzes. Das Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus blieb in der Trägerschaft des Badischen Frauenvereins, bis es 1923 vom badischen Staat gepachtet wurde, der die Landesfrauenklinik und die Landes­ hebammenanstalt in ihm unterbrachte. Während des Dritten Reiches wurden in diesem Krankenhaus an mindestens 350 Frau­ en die Zwangssterilisation vorgenommen (Station 7: Staatliches Gesundheitsamt). Den Zweiten Weltkrieg überstand das große Gebäude nur teilweise - heute beherbergt der Neubau die Psychi­ atrische Abteilung des Städtischen Klinikums. Zum Weiterlesen: Karlsruher Frauen, S. 214 ff. Abbildung gegenüber: Lageplan des Badischen Frauenvereins um 1912 72 Nach einem Lageplan von 1912 Station 9: Sitz des Badischen Frauenvereins (Standort: Ecke Garten-/Otto-Sachs-Straße) Frauen des Bürgertums organisieren das badische Sozial- und Gesundheitswesen Wenn sich im ehemaligen Luisenhaus im "Dörfle" die organisatori­ schen Anfänge des Badischen Frauenvereins verorten ließen, so haben wir mit diese 13 Gebäuden zwischen Garten-, Otto- Sachs- und Mathystraße, die er zwischen 1880 und 1888 er­ bauen ließ, seine "Residenz" auf der Höhe seiner Wirksamkeit vor uns. Die repräsentativen und aufwendigen Bauten demon­ strieren die Bedeutung des 1859 gegründeten Vereins: Er war der größte der deutschen vaterländischen Frauenvereine und gleichzeitig die größte Organisation Badens während des Kai­ serreiches. So hatte er im Jahr 1908 über 75.000 Mitglieder in 385 Zweigvereinen in ganz Baden. In ihm gelangte die traditio­ nelle, aber zunächst vereinzelt, meist privat geübte Wohltätig­ keit der Frauen des städtischen Bürgertums zu einem immen­ sen Institutionalisierungs- und Organsiationsgrad. Mit dem Badi­ schen Frauenverein bauten die Frauen ein ganzes Netz von Wohlfahrts- und Fürsorgeinstitutionen auf, die später dann von den Kommunen oder vom badischen Staat übernommen wur­ den. Von den Gebäuden der Gartenstraße 45, 47, 49 und 51 aus wurde der landesweit organisierte Verband geleitet und ver- 74 waltet. Einen eigenen Karlsru­ her Ortsverein gab es nur theoretisch, in der Realität war er personell wie institutionell untrennbar mit dem Landes­ verein verflochten. De facto wurde der landesweit organisierte Badische Frauen­ verein so von den Frauen der Karlsruher Oberschicht be­ stimmt und geleitet. Von zen­ traler Bedeutung war die Groß­ herzogin Luise, die den Verein 1859 mit ins Leben gerufen hatte, ihm als Protektorin vor­ stand und seine konservativ­ protestantische Haltung mit geprägt hat. Einen ersten Eindruck von den breitangelegten Aktivitäten des Frauenvereins bietet bereits ein Blick auf die Nutzung der übri­ gen Gebäude: Um 1915 befanden sich im Vorderhaus der Garten­ straße 47 zwei Stellenvermittlungsbüros, eines für Gesellschafte­ rinnen, Wirtschafterinnen, Erzieherinnen und Lehrerinnen, ein zweites für Köchinnen, Zimmermädchen und Kindermädchen. Im Hinterhaus befand sich eine Handelsschule, ferner die Frauenarbeitsschule, an der Karlsruherinnen in Handarbeiten und 1915 widmete Großherzogin Luise dem Badischen Frauenverein diese Postkarte 75 Textilverarbeitung unterrichtet wurden, sowie ein Oberseminar zur Ausbildung von Handarbeitslehrerinnen. Das "hauswirtschaft­ liche" Pendant dazu befand sich in der Otto-Sachs-Straße: Die Nr. 1 beherbergte ein Seminar zur Ausbildung von Haushaltungs­ lehrerinnen und die Nr. 5, das Eckhaus zur Mathystraße, die 1873 gegründete Luisenschule, eine Haushaltungsschule mit angegliedertem Internat. Dazwischen lag in den Gebäuden 2 bis 4 das noch heute bestehende Friedrichstift für alleinstehen­ de Damen, die von den Schülerinnen der Luisenschule bedient wurden. Die heutige Baulücke um die Ecke in der Mathystraße wurde von einer Turnhalle eingenommen. Die Luisenschule wurde während des ersten Weltkrieges als Lazarett ge­ nutzt 76 Nähunterricht in der Frauenarbeitsschule 1911 Vertreten waren in diesen Gebäuden des Frauenvereins vor al­ lem Einrichtungen, die der "Förderung weiblicher Bildung und Erwerbstätigkeit" dienten. Damit reagierte der Verein auf ein viel diskutiertes Problem des 19. Jahrhunderts - die mangelnden Erwerbsmöglichkeiten für nicht familiär versorgte Frauen aus dem Bürgertum. Mit diesen Einrichtungen erreichte er eine Auf­ wertung und Professionalisierung von bestimmten traditionell als weiblich geltenden Arbeitsbereichen. Handarbeit und Haus­ wirtschaft, genauso wie Kindererziehung und Krankenpflege wurden nun zu anerkannten Berufen mit klaren Ausbildungsver­ hältnissen und verloren ihren Charakter als unbezahlte weibli- 77 che Liebestätigkeit. Die anderen Institutionen des Frauenvereins in Karlsruhe, die Einrichtungen zur Kinderpflege, Krankenpflege und Armenversorgung verteilten sich mit mehr als 20 Adressen über die ganze Stadt. Zwar waren es die Frauen, die die Arbeit des Badischen Frauen­ vereins trugen und bestimmten, da Frauen jedoch immer noch nicht voll rechts- und geschäftsfähig waren, lag die Geschäfts­ führung bis 1928 in männlicher Hand. Nach einem dieser Ge­ schäftsführer, dem Geheimrat Otto Sachs, wurde 1912 dieser Teil der Leopoldstraße umbe­ nannt. Keine der vielen Karls­ ruher Straßen dagegen trägt den Namen einer der Präsiden­ tinnen des Badischen Frauen­ vereins, etwa den von Anna Lauter oder von Sophie Roller oder von der 1928 zur ersten weiblichen Geschäftsführerin gewählten Luise Nessler. Nach der Revolution von 1918 übernahmen Stadt und Staat viele der Einrichtungen des Badischen Frauenvereins, des­ Anna Lauter, ab 1899 Präsidentin der Krankenpflegeabteilung des Badischen Frauenvereins 78 sen Bedeutung im öffentlichen Leben der Stadt jedoch bis in die Zeit des Nationalsozialismus erhalten blieb. Der nationalsoziali­ stische Staat sah in der Größe des Vereins eine untragbare Kon­ kurrenz zu seinem eigenen Anspruch auf vollständige Erfassung der Gesellschaft und benötigte seine Einrichtungen, vor allem die des Roten Kreuzes, für seine Kriegspläne. Im Juni 1934 wurde der "Badische Frauenverein vom Roten Kreuz" dem natio­ nalsozialistischen "Reichsfrauenbund vom roten Kreuz" einge­ gliedert, im Dezember 1937 wurde der Frauenverein aufgelöst und sein Besitz der NS-Frauenschaft übertragen. In der Luisenschule befand sich nun die Haushaltungsschule des Bun­ des Deutscher Mädel (BDM), im "Luisenhaus" in der Baumeister­ straße die NS-Frauenschaftsschule. Im heutigen Stadtgebiet waren insgesamt fast 5000 Frauen von diesem Ende einer Organsiation betroffen, in der teilweise schon ihre Mütter und Großmütter mitgewirkt hatten. Es gibt Hinweise, daß eine nicht geringe Zahl von Frauen nun aus dem "gleichgeschalteten" Ro­ ten Kreuz austraten. Zum Weiterlesen: Karlsruher Frauen, S.205 ff. und S. 328 ff. 79 Station 10: Ehemalige Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik (Standort: Entlang der Brauerstraße) Industriearbeiterinnen in der Rüstungsindustrie Auf dem weiten Gelände zwischen Lorenz-, Garten- und Brauer­ straße ist mit dem langgestreckten Hallenbau A ein Überrest des Gebäudes der "Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik", spä­ ter IWKA, erhalten geblieben, die lange der größte Arbeitgeber für Frauen in Karlsruhe war. Während der Hochphase der Indu­ strialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor die Stadt allmählich ihren Charakter einer reinen Beamten- und Verwal­ tungsstadt, und das Erwerbsleben der Frauen wurde zunehmend auch von der Industriearbeit geprägt. 1872 nahm hier an der Gartenstraße die Patronenhülsenfabrik Lorenz ihre Produktion auf, 1896 wurde sie von der "Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik" (DWM) übernommen und erweitert. Die DWM arbeitete zwar anders als etwa die Lumpenfabrik Vo­ gel und Schnurmann oder die Parfümeriefabrik Wolff und Sohn, die überwiegend weibliche Arbeiterinnen beschäftigten, mit zu­ Abbildung gegenüber: Die Arbeiterinnnen der DWM beim Besuch des Großherzogs Friedrich I. im Mai 1895 80 Expansion während des Ersten Weltkriegs: Die neuen Gebäude der DWM, überragt von dem heute noch erhaltenen Hallenbau A nächst nur 40 % weiblicher Belegschaft. Dennoch war sie der mit Abstand größte Arbeitgeber für Frauen in Karlsruhe und be­ schäftigte z. B. 1911 1200 Arbeiterinnnen. Die Rüstungspro­ duktion, vor allem die Patronenherstellung, bot eine Vielzahl der bis heute für die weibliche Industriearbeit typischen Arbeitsplät­ ze: Frauen stellten bei der DWM die ungelernten und am schlech­ testen bezahlten Arbeitskräfte. 1,49 Mark pro Tag verdiente eine Arbeiterin im Jahr 1903, knapp die Hälfte des Verdienstes ihrer männlichen Kollegen. Die Mehrzahl der Karlsruherinnen erachteten die neue Form der Fabrikarbeit als nicht standesgemäß und arbeitete lieber als An­ gestellte in Kontoren, Ladengeschäften und Behörden. Die In- 82 dustriearbeiterinnen dagegen stammten zu zwei Dritteln aus den umliegenden Landgemeinden. Meist waren sie noch jung, unver­ heiratet und übten die Fabrikarbeit lediglich in der Übergangs­ zeit bis zur Heirat aus. Das erklärte für Dr. Marie Baum, die sich als Fabrikinspektorin des Landes Baden mit der Lebenssituati­ on der Industriearbeiterinnen beschäftigte, die geringen Ansprü­ che der Frauen an ihren Arbeitsplatz und ihren Lohn und gleich­ zeitig ihre angesichts dieser Bedingungen erstaunlich geringe gewerkschaftliche Organisiertheit. Die proletarische Frauenbe­ wegung in Karlsruhe (Station 5: Ständehaus) wurde dagegen von mit Facharbeitern und Sozialdemokraten verheirateten Frau­ en wie Kunigunde Fischer getragen. 83 Die DWM stellte bei guter Auftragslage oft hunderte von Frauen auf einen Schlag ein, um sie anschließend wieder zu entlassen. Der Erste Weltkrieg, der viele andere Industriezweige in die Kri­ se stürzte, brachte dem Rüstungsbetrieb einen immensen Auf­ schwung. Innerhalb weniger Jahre überbaute er - bei gleichzei­ tigem Baustopp für alle zivilen Objekte - südlich der Gartenstra­ ße ein großes Gelände und errichtete unter anderem den heute als einzigen erhaltenen Hallenbau A - angeblich das größte Ge­ bäude Badens - und das Kantinengebäude an der Brauerstraße, in dem 4500 Menschen gleichzeitig essen konnten. Je mehr Männer an die Front abkommandiert wurden, desto unentbehrli­ cher wurden die Frauen auch in den "männlichen" Produktions­ bereichen, etwa in der Granatenherstellung. Planmäßig wurden die arbeitsfähigen Karlsruherinnen in der DWM eingesetzt. In allen metallverarbeitenden Betrieben Karlsruhes stieg die An­ zahl der Arbeiterinnen während des Krieges auf fast das Dop­ pelte. Gegen Ende des Krieges kam es in der DWM vereinzelt zu Pro­ testen dieser Frauen: 1917 verweigerten zunächst 400 Arbei­ terinnen in der Geschoßabteilung, dann die Belegschaft der Ge­ schützhülsenabteilung die Arbeit. Beidesmal ging es um Lohn­ forderungen und nicht um Proteste gegen den Krieg, dennoch waren solche "unpolitischen" Streiks Steinchen im Getriebe der Kriegsrüstung. 84 BERKA BERLIN-KARLSRUHER INDUSTRIE WERKE AG. Im Zuge der Demobilma- chung wurden 1919 die Frau­ en massenweise wieder ent­ lassen, um für die männlichen Kriegsheimkehrer Platz zu schaffen. Aufgrund der Ab­ rüstungsvereinbarungen des Versailler Vertrages mußte die DWM ihre Produktion umstel­ len, der Betrieb nannte sich nun "Berlin-Karlsruher In­ dustriewerke", blieb jedoch größter Arbeitgeber der Stadt. Die nationalsozialisti­ sche Machtergreifung setzte seit 1933 die Rüstungsspirale wieder in Bewegung, die DWM nahm ihren alten Namen wieder an, und mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden wieder verstärkt Frauen beschäftigt. Die Einbeziehung der arbeitsfähi­ gen Frauen in die Kriegsproduktion wurde nun jedoch effektiver aufgezogen. Seit 1941 war der freiwillige "Kriegshilfsdienst" üb­ lich, seit Januar 1943 galt eine allgemeine Meldepflicht für Frau­ en unter 45 für "Aufgaben der Reichsverteidigung". Rund 6000 einsatzfähige Frauen wurden vom Arbeitsamt Karlsruhe erfaßt, von denen dann die Hälfte tageweise in der Rüstungsindustrie Abrüstung nach 1918: Die umbenann­ te DWM produziert nun Nähmaschinen 85 Eine DWM-Arbeiterin an ihrer Presse, aufgenommen 1939 für eine Firmen­ broschüre arbeitete. Eine generelle Dienstverpflichtung dieser Frauen wi­ dersprach dem nationalsozialistischen Frauenbild, das die Frau gerade aus dem Arbeitsleben wieder zu Herd und Familie zurück­ beordert hatte. So wurde der Dienst in der Rüstung zum "Ehren­ dienst der deutschen Frau" erklärt und mit Parolen wie "Deut­ sche Frauen helfen siegen" propagandistisch aufgewertet. Gleich­ zeitig beschäftigte die DWM zahlreiche Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, für die sie eigene große Lager unterhielt. Im März etwa arbeiteten in dem Rüstungsbetrieb neben der 6000köpfigen regulären Belegschaft zusätzlich 1200 Hausfrauen im Ehren- 86 dienst und 3000 Frauen und Männer, die überwiegend aus Po­ len stammten. Mit Kriegsende kam es wiederum zu Entlassungen der Frauen. Wieder nahm die Firma einen neuen Namen an. Die "Industrie­ werke Karlsruhe Augsburg" (IWKA), wie sie nun hieß, zogen in den 70er Jahren nach Blankenloch um. Seit 1985 wurden die Gebäude der alten IWKA trotz Protesten der Denkmalschützer sukzessive abgerissen. Einzige Ausnahme ist der Hallenbau A, der in Zukunft das "Zentrum für Kunst- und Medientechnologie" (ZKM) und die Städtische Galerie beherbergen wird. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 179 ff., 188 ff., 270 ff., 310 ff., 342 ff. 87 Station 11: Südweststadt (Standort: Ecke Roorv/Boeckhstraße) Frauenorganisationen im Nationalsozialismus Die Straßenzüge zwischen der Hirsch-, Brauer-, Jolly- und Weifen­ straße waren während der Zeit des Nationalsozialismus das "Ho­ heitsgebiet" der NSDAP-Ortsgruppe Südwest IV, das war eine der 41 Ortsgruppen des Stadtgebietes. Im Mikrokosmos die­ ses einen Stadtviertels mit seiner mittel- und kleinbürgerlichen Bevölkerungsstruktur spiegelt sich der Makrokosmos des natio­ nalsozialistischen Staates, werden die Organisationsformen und der Alltag von Frauen nach 1933 sichtbar. l i! ir ir Ii I Eine Skizze aus dem Jahr 1939 zeigt die Zuständigkeitsbereiche der Zellen- und Blockleiterinnen der NS-Frauenschaft in diesem Teil der Südweststadt 88 Der Aufbau der NS - Frauenorganisationen hatte in Karlsruhe schon sehr früh begonnen, nicht zuletzt Dank der Aktivitäten der späteren Reichsfrauenschaftsführerin Gertrud Scholz-Klink, die bis Januar 1934 in Karlsruhe war. Sie war bis zu ihrer Beru­ fung nach Berlin als Reichsfrauenführerin badische Gauleiterin der NS-Frauenschaft. Im Juni 1932 hielt sie z. B. in der Südwest­ stadt einen Vortrag über "Die Frau im Nationalsozialistischen Staat". Eine der ersten Ortsgruppen der NS-Frauenschaft war die der Südweststadt, aus der bei einer Aufteilung 1938 unter anderem die Ortsgruppe "Südwest IV" hervorging. Eine Auflistung vom März 1941 zeigt, welch hoher Prozentsatz der Bevölkerung dieses Viertels den verschiedenen Unterglie­ derungen oder angeschlossenen Verbänden der NSDAP ange­ hörte - die Frauenschaft war nur eine unter ihnen. Über 400, fast ein Drittel aller erwachsenen Frauen des Stadtteils waren damals bereits in die NS-Frauenorganisationen eingebunden - die meisten davon ins Deutsche Frauenwerk, ein Drittel in die "Eliteorganisation" der NS-Frauenschaft. Eine strenge Hierarchie prägte den organisatorischen Aufbau der NS-Frauenschaft von der Reichsfrauenschaftsführerin in Ber­ lin über die Gauleiterinnen und Kreisamtsleiterinnen bis hinunter in die einzelnen Stadtviertel. Der Ortsgruppenleiterin von "Süd­ west IV" unterstanden acht Zellenleiterinnen, diesen wiederum 89 je vier Blockleiterinnen. Dazu kamen dann noch eine Propaganda­ leiterin, eine Kassenwalterin, sowie je eine Sachbearbeiterin für den Hilfsdienst, für die Volks- und Hauswirtschaft, für die Institu­ tion Mutter und Kind, für die weibliche Jugendhilfe, für die Berei­ che Kultur und Presse, Gesang und Musik, für Handarbeiten, für Haushaltshilfen usw., so daß sich 1940 allein die Amtsinhabe­ rinnen der NS-Frauenschaftsortsgruppe "Südwest IV" aus der stattlichen Anzahl von 54 Frauen zusammensetzte. Das Beispiel dieses Karlsruher Stadtteils zeigt, wie weit die or­ ganisatorische Erfassung der Gesellschaft unter der national­ sozialistischen Herrschaft ging und wie stark sich dieser Zugriff Eine Ausgabestelle des Winterhilfswerkes 90 auch auf die Frauen ausdehnte. Der NS-Staat, für dessen Interes­ sen sich die Frauen so vielfach mobilisieren ließen, verdrängte sie gleichzeitig aus allen Positionen in Politik und Arbeitswelt, die echte Einflußmöglichkeiten boten (Station 4: Rathaus, Stati­ on 5: Ständehaus). Bei der faktischen Entmachtung der Frauen übte die NS-Frauenschaft offensichtlich eine starke Faszination aus, ihre Posten und Funktionen gaben den Frauen das - wenn auch trügerische - Gefühl, dennoch an gesellschaftlicher Macht teilzuhaben. Wie überall war auch in der Ortsgruppe "Südwest IV" die politi­ sche Propagandaarbeit anfangs die wichtigste Aufgabe der NS- Frauenschaft. Auch in ihren sozialen Aktivitäten erfüllte die NS- Frauenschaft diese Funktion als "scharf geschliffenes Instrument der Partei zur Eroberung der Familie", indem sie etwa Säuglings­ pflegekurse und Kinderbetreuung anbot, die Wäsche von arbeits­ losen SA- und SS-Männern versorgte oder Feiern zur Mütter­ ehrung organisierte. Mit Ausbruch und Fortdauer des Krieges und dem massenhaf­ ten Einzug der Männer an die Front wurden solche Aktivitäten lebensnotwendig für die Aufrechterhaltung eines geordneten Alltags im Stadtviertel. Die Frauen in "Südwest IV" organisierten den Abtransport von Evakuierten und die Bergungsarbeiten nach Luftangriffen, leisteten Bahnhofsdienste und boten Nachbar- 91 schaftshilfe für die Männer evakuierter Frauen, halfen in Gemein­ schaftsküchen und bei Erntearbeiten, versorgten Soldaten mit Paketen, führten die jährlich bis zu fünfzig Sammlungen, etwa für das Winterhilfswerk durch, und organisierten den Luftschutz. Diese allgegenwärtigen Aktivitäten der NS-Frauenschaft bedeu­ teten für diejenigen Frauen, die der nationalsozialistischen Ideo­ logie distanzierter gegenüberstanden, eine fast lückenlose Kon­ trolle. Sehr schwer war es beispielsweise, sich den Werbemaß­ nahmen der NS-Frauenschaft für den angeblich freiwilligen "Eh­ rendienst der deutschen Frau" in der Rüstungsindustrie zu ent­ ziehen (Station 10: DWM). Allein im Juni 1942 wurden im Viertel vier Versammlungen abgehalten, Hausbesuche verstärkten noch den nachbarschaftlichen Druck und schließlich rühmte sich die Frauenschaft, insgesamt 250 Frauen "dem totalen Kriegsein­ satz zugeführt" zu haben. Neben dem rund einen Drittel aktiver Nationalsozialistinnen leb­ ten im Viertel sicherlich manche Frauen, die indirekte und ver­ borgene Formen von Widerstand gegen das Regime entwickel­ ten - sie jedoch sind weitgehend anonym geblieben. Bekannt ist jedoch, daß das katholische Vincentiuskrankenhaus in der Südendstraße eine Mitarbeit bei der Zwangssterilisationspolitik des Gesundheitsamtes verweigerte (Station 7: Gesundheitsamt). 92 Neben dem Diakonissenkrankenhaus in Rüppur ist es das zwei­ te große konfessionelle Krankenhaus Karlsruhes und geht wie viele Kliniken der Stadt auf eine Organisation bürgerlicher Frau­ en zurück. 1851 gründete die damals 27jährige Amalie Bader den Vincentiusverein, dessen erste Vereinsklinik ab 1861 an der Ecke Kriegs/Karlstraße stand. Daß er sich anders als die meisten dieser frühen Wohltätigkeitsvereine nie dem Badischen Frauenverein anschloß, verdeutlicht die Eigenständigkeit der katholischen Frauenbewegung in Karlsruhe. Sie brachte zahlrei­ che bedeutende Politikerinnen wie Marie Matheis und Clara Sie­ bert hervor und entwickelte - wie das Beispiel zeigt - ein Widerstandspotential gegenüber der nationalsozialistischen Herrschaft. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 319 ff. 93 Abstecher 3: Dammerstock (Standort: Spaziergang durch die Siedlung) Hausarbeit und Architektur: Die neuen Ideen der 20er Jahre Die ab 1929 errichtete Dammerstocksiedlung wurde im Auf­ trag der Stadt Karlsruhe nach Plänen des Bauhausgründers Walter Gropius, einem der bekanntesten Vertreter des soge­ nannten "Neuen Bauens" der 20er Jahre, erbaut. Die Architek­ tur der Anlage spiegelt nicht nur damals hochmoderne wohnungs­ politische Entwicklungen, sondern auch die neuen Überlegun­ gen der 20er Jahre über die geschlechtsspezifische Rollenver- 1 m •• m i' 11 > 1 ll'JI 1 m •• m i' 1 iuM 1 : i i m im • mwM ., , ,. ... . , Blick in die Dammerstocksiedlung kurz nach ihrer Erbauung 1929 94 teilung und über die Hausarbeit wider. Das Konzept der Damm­ erstocksiedlung, die 400 Wohnungen in zweigeschossigen und 350 Wohnungen in viergeschossigen Häusern umfassen sollte, wollte einerseits die Enge und Dunkelheit des proletarischen Wohnens, andererseits die Überladenheit des auf Repräsentati­ on ausgerichteten bürgerlichen Wohnens vermeiden. Ziel waren funktionelle, auf die Bedürfnisse der modernen Familie ausge­ richtete, helle Wohnungen, die auch für Arbeiterfamilien er­ schwinglich waren. Wichtiges Element dieser funktionalen Wohnraumgestaltung war unter anderem eine völlig neue Form der Küche. Die "Frankfur­ ter Küche", der Prototyp der später in den 50er Jahren zur Norm werdenden modernen Einbauküche, war u. a. von der Architek­ tin Grete Schütte-Lihotzky entwickelt worden und sollte der Haus­ frau die Verrichtung ihrer Hausarbeiten auf kleinstem Raum mit geringstmöglichem Bewegungsaufwand ermöglichen. Gleichzei­ tig entwickelte die Industrie die uns heute selbstverständlichen Haushaltsgeräte, von der Waschmaschine bis zum Staubsau­ ger. Die Erleichterung der Hausarbeit, die diese Rationalsierungsbe- mühungen mit neuen Haushaltsgeräten und den "Küchen­ laboratorien" der Dammerstocksiedlung mit sich brachten, hat­ ten jedoch eine Kehrseite. Immer mehr erschien die so rationa- 95 Eine der neuen Einbauküchen in der Dammerstocksiedlung lisierte Hausarbeit als leichte Tätigkeit, die scheinbar ohne gro­ ßen Aufwand nebenher zu erledigen war, immer weniger wurde sie als Arbeit wahrgenommen. Gleichzeitig verbannte die Raum­ aufteilung der Dammerstockwohnungen die Hausfrau und ihre Arbeit in den kleinsten, überdies nach Norden gelegenen Raum und isolierte sie vom Familienleben. Die kleinen Wohneinheiten boten außerdem nur wenig Raum und schrieben so die Lebens­ form der Kleinfamilie verbindlich fest. Zu bedenken ist bei der Kritik an den Ideen des "Neuen Bauens" und der Konzeptionen von Gropius und Schütte-Lihotzky jedoch, 96 daß diese zunächst von anderen gesellschaftlichen Vorrausset­ zungen ausgingen. Das Dammerstockwohnkonzept war geplant für Familien mit zwei berufstätigen Elternteilen und ging davon aus, daß die Eltern an ihrer Arbeitsstätte, die Kinder in Kinder­ garten und Schule zu Mittag aßen. Die kleine Küche war ursprüng­ lich nicht als Arbeitsstätte für die Vollzeithausfrau gedacht. Die­ selbe Grundidee lag auch dem Konzept des "Ein-Küchen-Hau- ses" zugrunde, in dem eine bezahlte Kraft die Küchenarbeit für alle dort lebenden Familien übernehmen, und in dem das ge­ meinsame Kochen und Essen die Aufgaben für die einzelne Wohneinheit reduzieren sollte. Wie auch in der Dammmerstock- siedlung hatte sich jedoch in der Realität bald der Entwurf von­ einander abgesondert wohnender Kleinfamilien durchgesetzt. Unter diesen Bedingungen trugen die modernen Architektur- und Küchenkonzeptionen letztlich dazu bei, die patriarchalisch-bür­ gerliche Lebensform zu zementieren, in der Hausarbeit Frauen­ arbeit blieb. Zum Weiterlesen: Frauen in Karlsruhe, S. 313 ff. 97 Abbildungsnachweise Titel: SAK 8 PBS/Xlllb 32 Stadtplan: Stadtplanungsamt Karlsruhe S. 17 Stadtarchiv Karlsruhe (SAK) 8/PBS Xlllb 54 S. 20 SAK 8 PBS/XV 961 S. 23 SAK 8 PBS/XIVe 198 S. 25 SAK 8 PBS/oXIVa 464 S. 28 Foto Bernhard Schmitt S. 30 SAK 8 PBS/Xlllb 27 S. 32 SAK 8 PBS/XVI 45 S. 35 SAK 8 PBS/ol 91 S. 37 SAK 8 PBS/olV 52 S. 39 SAK 8 PBS/Alben 12, S. 54 SAK 8 PBS/Alben 12, S. 57 SAK 8 PBS/Alben 12, S. 55 SAK 8 PBS/Alben 12, S. 66 S. 40 Luise-Riegger-Haus S. 42 SAK 8 PBS/oXIVa 1253 S. 43 SAK 8 PBS/oXIVa 1254 S. 44 "Badischer Landesbote" vom 23. Februar 1906 S. 45 "Der Volksfreund" vom 12. Dezember 1918 S. 46 Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) N/Siebert 11 98 S. 49 SAK 8 PBS/oXIVa 134 S. 52 SAK 8 PBS/oXIVb 425 S. 54 SAK 8 PBS/oXIVb 761 S. 61 SAK 8 PBS/olll 1575 S. 62 Leo Baek Institute New York, Repro SAK S. 63 Archiv Lessinggymnasium Karlsruhe S. 64 Foto Bernhard Schmitt S. 69 SAK 8 PBS/oXIVa 518 S. 70 SAK8PBS/olV152 S. 71 SAK 8 PBS/oXIVa 517 S. 72 Gerd Kabierske nach Lageplan vom 21.6.1912 S. 75 SAK 8 PBS/ol 219 S. 76 SAK 8 PBS/oXIVa 126 S. 77 SAK 8 PBS/Alben 109 S. 78 SAK 8 PBS/olll 1576 S. 81 SAK 8 PBS/XI 194 S. 82 50 Jahre Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken Akti­ engesellschaft. Berlin 1939. S. 85 SAK 8 PBS/X 1749 S. 86 50 Jahre Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken Akti­ engesellschaft. Berlin 1939. S. 88 GLA465 c/776 S. 90 SAK 8 PBS/Alben 5 Bd. 1, S. 71 S. 94 SAK 8 PBS/oXIVe 425 S. 96 SAK 8 PBS/oXIlla 295 99 Stadtarchiv Karlsruhe Markgrafenstraße 29 76124 Karlsruhe Telefon 07 21 / 133 - 42 23, 42 24 und 42 25 Öffnungszeiten: Montag-Mittwoch 8.30 - 15.30 Uhr Donnerstag 8.30 - 18.00 Uhr Freitag nach Vereinbarung Jeder, der Interesse an der Stadtgeschichte hat, ist willkommen und kann die Archivalien einsehen. Für Gruppen können Führungstermine vereinbart werden. Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs: Band 10 Alltag in Karlsruhe - Vom Lebenswandel einer Stadt in drei Jahrhun­ derten, 1990, 304 Seiten Band 14 Manfred Koch, Karlsruher Chronik. Stadtgeschichte in Daten, Bil­ dern, Analysen, 1992, 356 Seiten Weitere Publikationen des Stadtarchivs sind im Buchhandel oder im Stadtar­ chiv einsehbar und erhältlich. Weitere Veröffentlichungen der Stadt Karlsruhe: 100 Jahre Mädchen-Gymnasium in Deutschland, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Braun-Verlag, 1993, 131 Seiten Straßennamen in Karlsruhe, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Karlsruher Beiträge Nr. 7, Januar 1994, Braun-Verlag, 216 Seiten Frauenbeauftragte der Stadt Karlsruhe Rathaus am Marktplatz 76124 Karlsruhe Telefon 07 21 / 133 - 30 60, 30 61, 30 62 Termine nach Vereinbarung Jede Frau kann sich über Benachteiligungen beschweren, bei der Durchset­ zung ihrer Rechte Unterstützung suchen, Informationen und Auskünfte er­ halten, Anregungen zur Verbesserung der Situation von Frauen in Karlsruhe geben. Veröffentlichungen der Frauenbeauftragten der Stadt Karlsruhe: "Doppelt so mutig! Neue Bilder von Mädchen (und Jungen)", Ratgeberin für mädchenfreundliche Bilderbücher, 2. Auflage 1992, 55 Seiten "Nun sei (k)ein liebes Mädchen...", Ratgeberin für mädchenfreundliche Kin­ der- und Jugendbücher, 2. Auflage 1993, 71 Seiten Karlsruher Frauenhandbuch "Wer - Wo - Was", Frauengruppen, Frauen­ verbände, Beratungsstellen, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte, 1990, 294 Seiten Weitere Veröffentlichungen sind im Büro der Frauenbeauftragten erhältlich. frajußo Stadt karlsruhe frauenbeauftragte Auch im Stadtbild Karlsruhes hat die Geschichte der Frauen ihre Spuren hinterlassen - die allerdings meist nicht als solche wahrgenommen werden. Daß das Schloß auch Ausgangspunkt der Tulpenmädchenlegende war, ist noch allgemein bekannt. Daß das Lessinggymnasium am Gutenbergplatz das erste Mädchengymnasium Deutschlands beherbergte, das seine Anfänge im heutigen Fichtegymnasium in der Sophienstraße erlebte, wissen schon weniger Menschen. Und ist Ihnen be­ wußt, welche der städtischen Krankenhäuser auf Wohltätigkeitsinitiativen bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhun­ dert gehen, wo im 18. Jahrhundert zum letzten Mal in Baden eine Frau als Kindsmörderin hingerichtet wurde oder welche Institution während des Nationalsozialismus zahlreiche Frau­ en zur Zwangssterilisation verurteilte? Die von Olivia Hochstrasser erarbeitete Stadtführung zeigt an Gebäuden und Plätzen solche Zusammenhänge mit den zen­ tralen Entwicklungen der lokalen Frauengeschichte auf. Der Rundgang führt in elf Stationen vom Spinnhaus im Dorfle bis zum Verwaltungssitz des Badischen Frauenvereins in der Südweststadt. Karlsruhe
https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/frauengeschichte/spuren/HF_sections/content/1329470395379/ZZkpIo94pmFFPk/auf_den_spuren_karlsruher_frauen.pdf
" Zwischen Trümmern ̂ "jj und Träumen" Karlsruherinnen in Politik und Gesell­ schaft der Nach­ kriegs zeit „Zwischen Trümmern und Träumen" - Karlsruherinnen in Politik und Gesellschaft der Nachkriegszeit Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme Guttmann, Barbara: „Zwischen Trümmern und Träumen": Karlsruherinnen in Politik und Gesellschaft der Nachkriegszeit; Portraits/Barbara Guttmann. [Hrsg.: Stadt Karlsruhe]. - Karlsruhe: Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte und Stadtarchiv, 1997 ISBN 3-923344-39-2 Herausgeberin: Bearbeitung: Text: Fotos: Stadt Karlsruhe Frauenbeauftragte und Stadtarchiv Dr. Barbara Guttmann Kunigunde Fischer, Stadtarchiv Karls­ ruhe (StAK) 8/Alben 12 • Ruth Grimm, Privatbesitz • Elisabeth Großwendt, StAK8/PBS olll 1693 • Gertrud Hammann, Privatbesitz • Kathinka Himmelheber, StAK 8/PBS olll 1727 • Hanne Landgraf, Privatbesitz • Hertha Nachmann, StAK 8/ Bildarchiv Schlesiger A30/39/2/30A • Luise Naumann, StAK 8/ZGS • Toni Menzinger, Privatbesitz • Luise Riegger, StAK 8/Bildarchiv Schlesiger A29/13/6/42 Dr. Erna Scheffler, BNN • Anna Walch, StAK 8/Bildarchiv Schlesiger A4/104/2/32 Gisela Walter, Privatbesitz Umschlaggestaltung: Herbert Kaes ISBN 3-923344-39-2 Gesamtherstellung: Engelhardt & Bauer, Druck- und Verlagsgesellschaft mbH Karlsruhe Schutzgebühr: 5 - DM Barbara Guttmann „Zwischen Trümmern und Träumen" - Karlsruherinnen in Politik und Gesellschaft der Nachkriegszeit Portraits Inhaltsverzeichnis Geleitwort des Oberbürgermeisters 6 Vorwort 8 Einleitung Barbara Guttmann 11 Kunigunde Fischer 16 Wir Frauen geben den Ausschlag, wie sich das Rad der Geschichte für die Zukunft drehen wird Ruth Grimm 22 Mein Herz hat immer links geschlagen... Elisabeth Großwendt 32 Eine große Macht ist den Frauen in die Hand gegeben Gertrud Hammann 44 Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit den Menschen, die man als 'Höhepunkte des Lebens' bezeichnen kann Kathinka Himmelheber 57 Vorwärtsgehen in die schwere Zukunft Hanne Landgraf 64 Man ist einfach gebraucht worden... Toni Menzinger 74 Mut und Hilfe für einen neuen Anfang geben Hertha Nachmann 82 Für sie war es selbstverständlich, wieder zurückzukommen Luise Naumann 89 Ihre besondere Neigung gehörte dem Krankenhaus- und Schulwesen Luise Riegger 93 Wir Frauen müssen Politik machen, sonst wird mit uns Politik gemacht Erna Schettler 105 ... unsere Erfolge sind durchaus geeignet, uns mit uns selbst zu imponieren Anna Walch 112 ... geradezu in die CDU hineingeboren Gisela Walter 116 Mit Freude und großem Wir-Gefühl den Wiederaufbau der katholischen Jugendarbeit gestaltet 5 Geleitwort „Frauen konnten in der Gesellschaft immer nur den Raum ein­ nehmen, den ihnen die Männer einräumten". So heißt es zuweilen - und auch bei dem am 17. November 1946 vom Radio Stuttgart veranstalteten und dem damaligen Oberbürger­ meister Hermann Veit geleiteten Forum zur Rolle der Frau im öffentlichen Leben schien sich dieser Eindruck zu bestätigen. Die Frau sei, so meinten die beiden männlichen Diskussions­ teilnehmer im Karlsruher Konzerthaus, „in den ihr spezifischen Gebieten, etwa sozialen Angelegenheiten, einzureihen". Dem hielten die Frauen postwendend die Forderung entgegen, daß ihre Geschlechtsgenossinnen „Verwendung in der Politik" fin­ den sollten. Wie aktiv Frauen damals waren, hat die Historikerin Dr. Barbara Guttmann mit ihrem Forschungsprojekt „Städtisches Leben von Frauen in der Nachkriegszeit (1945 bis 1955) am Beispiel Karlsruhes" aufgespürt. Sie hat über 150 Frauen ermittelt, die sich öffentlich oder im stillen engagierten. Wie sah die Partizipation von Frauen nach Kriegsende aus? Wo lagen deren Prioritäten oder welche gemeinsamen biographischen Voraussetzungen hatten die Frauen, die sich engagierten? Fragen, die ihr Buch beantworten möchte. Voraussichtlich erst 1999 wird es erscheinen. Solange hat die Stadt nicht warten wollen und sich entschlossen, die Portraits einiger Karls­ ruherinnen vorab zu veröffentlichen. Die Broschüre halten Sie nun in den Händen. Es ging darum, Frauen aus unterschiedlichen Funktionen exem­ plarisch vor- und darzustellen: Stadträtinnen und Parteipolitike- 6 rinnen, Frauen in caritativen Organisationen und konfessionel­ len Frauengruppen bis hin zu Vertreterinnen unterschiedlicher Fachverbände. Vielen von ihnen ist gemeinsam, daß die Schwerpunkte ihrer Arbeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Wiederaufbau und in der Bewältigung des Alltags lagen, was angesichts zerstörter Städte, der schlechten Versorgungslage sowie Wohnraumproblemen nicht verwun­ dert. Was trieb sie um, wie definierten sie sich und ihre Arbeit? All dies können Sie in dem Bändchen nachlesen. Eine spannende Lektüre, wie ich meine. Professor Dr. Gerhard Seiler Oberbürgermeister 7 Vorwort Das Jahr 1945 bedeutete für Frauen wie Männer das Ende des Krieges, den Zusammenbruch des Nationalsozialismus und die Befreiung von der Gewaltherrschaft. Es folgten Aufbaujahre und Aufbruchszeiten, vieles schien möglich, das Neue war greifbar. Und doch war diese sogenannte „Erste Stunde" nicht der völli­ ge Neubeginn, es war auch die Rückbesinnung auf die Werte und Normen, welche die Nationalsozialisten außer Kraft gesetzt hatten. Neben den ganz Jungen meldeten sich die wieder, die schon vor 1933 für Demokratie und soziale Gerechtigkeit gestanden hatten, unter ihnen viele Frauen - die „Mütter des Grundgesetzes", die Vertreterinnen der Frauenbewegung, wel­ che der NS aufgelöst hatte, die Anhängerinnen der 1933 aufge­ lösten demokratischen Parteien, die Mitstreiterinnen der Sozialarbeit und der religiösen Frauenbewegung. Auch in Karlsruhe, das eine lange Tradition weiblicher Mitwirkung im politischen und gesellschaftlichen Leben kannte, wirkten Frauen aller demokratischen politischen Richtungen maßgeblich am Aufbau einer humanen Stadtgesellschaft mit. Einige der „Karlsruherinnen der ersten Stunde" werden hier porträtiert, stellvertretend für ihre ganze Generation, deren Leistungen in einer 1999 erscheinenden, ebenfalls von Barbara Guttmann verfaßten Publikation des Karlsruher Stadtarchivs vorgestellt werden. 8 Geschichte prägt die gegenwärtige Identität. Historische Bildungsarbeit ist ein Grundstein für die Schaffung des politi­ schen Bewußtseins und des kulturellen Selbstverständnisses. Die traditionelle Geschichtsschreibung vergaß sehr lange Zeit die Leistungen der Frauen und verweigerte ihnen damit die Herausbildung einer im Wissen über die eigene Geschichte gewachsenen Ideniät. Die Geschichte der Frauen zu erforschen und zu schreiben, ist daher bis heute zugleich ein Beitrag zu ihrer sozialen und poli­ tischen Gleichberechtigung. Die in Karlsruhe seit Jahren erfolg­ reiche Zusammenarbeit der Frauenbeauftragten und des Stadtarchivs, die mit dem vorliegenden Band fortgesetzt wird, gebietet sich darum gleichsam von selbst. Dabei profitieren beide Einrichtungen in jeweils unterschiedlicherweise: Durch die Unterstützung von Karlsruher Frauenorganisationen und von einzelnen Vertreterinnen aus Politik, Recht, Kirchen und Gesellschaft, die Barbara Guttmann erfahren hat, erreich­ ten das Stadtarchiv als Gedächtnis der Stadt Materialien wie Lebenserinnerungen, Fotos, Briefe u. ä.. Dieser machen es mög­ lich, eine lebendige Erinnerung an die historischen Frauen in Karlsruhe zu schaffen. Das Wissen darüber, daß die Frauen der Nachkriegszeit wie ihre Großmütter und Mütter über die Partei- und Konfessions­ grenzen hinweg zusammengearbeitet haben, kann auch als Entwurf für heutiges frauenpolitisches Engagement gelten, las­ sen sich doch so Handlungsspielräume erweitern und im Interesse von Frauen nutzen. 9 Wir wünschen uns, daß die Erinnerung und Rückbesinnung auf das Engagement Karlsruher Frauen Anregung und Ansporn für eine aktive Gestaltung des Zusammenlebens in unserer Stadt ermöglichen. Annette Niesyto Dr. Susanne Asche Frauen beauftragte Stadthistorikerin 10 Einleitung Wenn wir an die Situation von Frauen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 denken, taucht sofort der Begriff Trümmerfrauen auf. Wer kennt nicht die Fotos von Ber­ linerinnen in Kopftuch und Schürze, die in langen Ketten Eimer und Steine von Hand zu Hand weiterreichten oder Steine klopf­ ten. Unbestritten sind die Leistungen dieser Frauen bei der Enttrümmerung ihrer Stadt. Die Bezeichnung Trümmerfrau jedoch undifferenziert auf eine ganze Generation von Frauen zu übertragen, reduziert die Leistungen von Frauen beim Wieder­ aufbau: Die Hausfrauen räumen auf, was Männer in Unordnung gebracht haben - die Männer bauen den Staat auf, stellen die Weichen der Politik. Eine solche Betrachtungsweise gerät in Gefahr, die Beteiligung von Frauen beim Wiederaufbau des Gemeinwesens, der Verwaltung, der politischen Parteien und Gremien, der Verbände und Interessenorganisationen zu über­ sehen. In Karlsruhe gab es die Trümmerfrau nicht. Sicher halfen Frauen unmittelbar nach Kriegsende hier und da bei Auf­ räumungsarbeiten am eigenen Haus oder bei Nachbarn mit, die organisierte Trümmerbeseitigung wurde jedoch ausschließlich mit männlichen Arbeitskräften durchgeführt.1 Das heißt aber keineswegs, daß Frauen nicht einen immensen Anteil am Wiederaufbau der Stadt geleistet hätten. Die Versorgung der Familien wäre ohne sie zusammengebrochen. Zahlreiche Karls­ ruherinnen waren zur Stelle, errichteten Wärme- und Näh­ stuben oder organisierten Suppenküchen. Die Beschaffung von Wohnraum, Nahrungsmitteln und sämtlichen Dingen des täg­ lichen Bedarfs, die Sicherung des Überlebens waren die vor- 11 rangigen Aufgaben der Kommunalpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit. Hier fielen Alltagsbewältigung und Politik zusammen, hier trugen Frauen ihren Anteil zur Errichtung des städtischen Gemeinwesens bei. Den Schritt in die wiederaufzu­ bauenden politischen Entscheidungsgremien vollzogen jedoch nur die wenigsten der eher im Hintergrund Wirkenden. Der vorliegende Band will einige der Frauen vorstellen, die nach 1945 politisch aktiv wurden und einen beachtlichen Beitrag zum Neuaufbau eines demokratischen Gemeinwesens leisteten. Als politisches Handeln werden dabei nicht alleine Parteimitgliedschaften, Wahlbeteiligung, Teilnahme an politi­ schen Versammlungen oder die Wahrnehmung partei- und kommunalpolitischer Ämter, sondern vielmehr ein umfassen­ des Engagement der Bürgerinnen an sozialen Prozessen ver­ standen.2 D. h., die Arbeit in Verbänden, Wohlfahrtsorgani­ sationen und Frauengruppen ist ebenso wie die in Parteien, im Gemeinderat oder in städtischen Ausschüssen hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit für den demokratischen Neuaufbau zu betrach­ ten. Die Lebensverhältnisse bei Kriegsende waren geprägt durch Wohnungsnot und Nahrungsmangel. Frauen hatten unvorstellbare Mehrfachbelastungen zu tragen, vor allem dann, wenn sie alleine für sich und ihre Kinder zu sorgen hatten, weil der Mann gefallen, noch in Kriegsgefangenschaft oder als Invalide zurückgekehrt war. Ein darüber hinausgehendes gesell­ schaftliches Engagement erschien vielen Frauen unmöglich. Hinzu kam, daß das Wirken in der Öffentlichkeit traditionell den Männern zugeschrieben wurde. So war es sicher nicht die Mehrheit der weiblichen Bevölkerung Karlsruhes, die nach Kriegsende in politischen oder karitativen Organisationen und Gremien tätig wurde. Dennoch ist der Eindruck, den bislang die 12 Geschichtsschreibung über jene Zeit vermittelt und der die Rede von den „Männern der ersten S tunde" geprägt hat, so nicht richtig. Für die ersten zehn J ahre nach Kriegsende konn­ ten in Karlsruhe über 150 Frauen namentl ich erfaßt werden, die durch ihre (gesellschafts)polit ischen Aktivitäten - sei es daß sie für eine Partei kandidierten, einen Vortrag hielten, im Vorstand einer Organisation, in e inem städtischen A u s s c h u ß oder im Gemeinderat saßen - in der Presse oder in städtischen Akten Erwähnung fanden. Dabei handelt es sich nur um die „Spitze eines Eisberges", die Zahl derer, die an der Basis aktiv waren, dürfte ein Vielfaches betragen haben. Es ist an dieser Stelle nicht mög l i ch , ihr Wirken u m f a s s e n d zu beschre iben. 3 Stellvertretend für sie alle werden hier 13 Frauen porträtiert, die in unterschied l ichen Bereichen tätig waren : die ersten Stadträtinnen der J ah re 1946 bis 1956 sowie Parteipolitike­ rinnen von CDU, F. D. P, KPD und SPD; desweiteren Grün­ dungsmi tg l i eder der überpartei l ichen Karlsruher Frauen­ gruppe, einer Organisation, die, anknüpfend an die Traditionen der alten Frauenbewegung, versuchte, neue W e g e zu gehen. Darüber hinaus werden Frauen vorgestellt , die im Bereich kon­ fessioneller Organisat ionen, sei es die katholische J u g e n d , die evangel ische Frauenarbeit oder die Jüd i sche Gemeinde , aktiv waren. Schließlich wirkte mit der ersten Bundesver fassungs - richterin in Karlsruhe eine Frau an maßgebl icher Stelle für die Durchsetzung der Gleichberechtigung. Es wird deutlich, daß die meisten dieser Frauen in mehreren politischen und karitativen Organisat ionen tätig waren, und interessanterweise lassen sich zwischen fast allen Quer­ verb indungen nachweisen. S o deuten sich - bei allen Grenzen, die eine solch biographische Darstellung setzt - die Netze an, 13 die Karlsruher Frauen nach dem Ende des Nationalsozialismus knüpften und die teilweise bis heute weiterbestehen. Diese Netze mußten 1945 nicht ganz neu erstellt werden, vielmehr konnte an die Zeit vor 1933 angeknüpft werden. Viele der nach Kriegsende gesellschaftlich engagierten Frauen waren bereits im Kaiserreich und der Weimarer Republik aktiv gewesen. Das Dritte Reich hatten sie meist in mehr oder weniger offener Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime, im aktiven oder passiven Widerstand überlebt. Einige mußten ins Ausland emigrieren, einige gingen in die „innere Emigration", andere hatten unter Bespitzelung und Verfolgung zu leiden. Das Kriegsende war für diese Frauen keine „Stunde Null". Sie hat­ ten reiche (politische) Erfahrungen, aus denen sich der Wille ableitete, im neu aufzubauenden Gemeinwesen aktiv zu wer­ den und ihre Ideale und Vorstellungen einzubringen. Um dies zu verdeutlichen, konzentriert sich die Darstellung des Wirkens dieser Frauen nicht alleine auf die Nachkriegszeit. In einem bio­ graphischen Abriß soll ihr Lebensweg verdeutlicht und somit die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Lebens­ geschichte und politischem Engagement aufgeworfen werden.4 Die einzelnen, in alphabetischer Reihenfolge präsentierten Porträts sind sowohl in Umfang als auch Gehalt sehr unter­ schiedlich, ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Dies liegt daran, daß die Informationen, die mir zu den einzelnen Persönlichkeiten vorlagen, sehr unterschiedlich waren. Offensichtlich wurde das Leben und Wirken dieser Frauen nicht unbedingt für dokumentierungswürdig befunden. Dies hat sich in den letzten Jahren glücklicherweise verändert. Für zwei der frühen Stadträtinnen z. B. waren jedoch nur sehr wenige Daten und Informationen über ihre Person und ihren 14 Lebensweg zu ermitteln. Die aus den einschlägigen Quellen des Stadtarchivs Karlsruhe sowie des badischen Generallandes­ archivs gewonnenen Erkenntnisse fanden eine unverzichtbare Ergänzung durch eine Vielzahl von Materialien, die die Verbände, denen die Frauen angehörten oder deren Nachkommen zur Verfügung stellten. In einigen Fällen konnten mit den Porträtierten selbst Gespräche geführt werden. Ihnen allen, die im Folgenden an betreffender Stelle einzeln Erwäh­ nung finden, sei hiermit nochmals ganz herzlich gedankt. Dan­ ken möchte ich des weiteren der Frauenbeauftragten Annette Niesyto sowie den Kolleginnen und Kollegen des Stadtarchivs Karlsruhe - insbesondere Susanne Asche, die die Endredaktion besorgte -, ohne deren Unterstützung das vorliegende Bändchen nicht hätte entstehen können. Barbara Guttmann 1 Vgl. Stadtarchiv Karlsruhe (im Folgenden StAK) 1 /H.-Reg./852, 1 /H.Reg./2932, 1/Bez.Verw.Amt/94 und Josef Werner: Karlsruhe 1945. Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternenbanner. Hrsg. v. d. Stadt Karlsruhe, Stadtarchiv. 2. Aufl. 1986, S. 217-225. 2 Vgl. Barbara Guttmann: Frauen in der Kommunalpolitik der Nachkriegszeit (1945 bis 1955). Das Beispiel Karlsruhe, in: Geschlecht. Macht. Arbeit. Kategorien in der historischen Frauenforschung. Hrsg. v. Frauen & Geschichte Baden-Württemberg. Tübingen 1995 (= Frauenstudien Baden-Württemberg. Bd. 8), S. 77-88, hier bes. S. 81. 3 Die Ergebnisse eines am Stadtarchiv Karlsruhe angesiedelten, durch das Förderprogramm Frauenforschung des Landes Baden-Württemberg unterstützten Forschungsprojektes zur (kommunal)politischen Partizipation von Frauen in Karlsruhe 1945-1955 werden voraussichtlich 1999 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe veröffentlicht werden. 4 Für eine umfassende Auswertung ist an dieser Stelle kein Platz. Sie wird im Rahmen der in Bearbeitung befindlichen Studie (s. Anm. 3) erfolgen. 15 16 Kunigunde Fischer Wir Frauen geben den Ausschlag, wie sich das Rad der Geschichte für die Zukunft drehen wird. Als Kunigunde Fischer im Mai 1946 als einzige Frau in den nach 12 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft erstmals wieder demokratisch gewählten Karlsruher Stadtrat einzog, konnte sie auf mindestens ebenso reiche politische Erfahrungen zurück­ blicken wie ihre 23 männlichen Kollegen. Sie war bereits 1919 als eine der drei ersten Frauen in das Karlsruher Stadt­ parlament gewählt worden. Die Anfänge ihres politischen Engagements reichen bis in die Zeit um die Jahrhundertwende zurück. Kunigunde Bachmeyer wurde am 10. November 1882 als Tochter eines Mühlenbesitzers und Landwirtes und dessen Ehefrau im mittelfränkischen Speikern geboren. 1904 heiratete sie den Schriftsetzer Kaspar Fischer, der bei der sozialdemokra­ tischen Zeitung Der Volksfreund tätig war. Das junge Paar bezog eine Wohnung in der Karlsruher Südstadt, unweit vom soge­ nannten Volksfreundhaus in der Schützenstraße. Kunigunde Fischer wurde SPD-Mitglied und unter ihrer Leitung konstituier­ te sich im Frühsommer 1909 die Frauensektion der sozialdemo­ kratischen Partei in Karlsruhe.1 Kunigunde Fischers politisches Engagement war in erster Linie sozial begründet und so wurde die Kinder- und Jugendfürsorge bald zu einem ihrer vorrangigen Betätigungsfeldern. Ab 1912 saß sie im Armen- und Waisenrat der Stadt und hatte somit 17 Mitwirkungsmöglichkeiten bei kommunalpolitischen Entschei­ dungen, obwohl Frauen im Kaiserreich kein Wahlrecht hatten. Diese Mitarbeit von Frauen war durch die Neuregelung des Armenwesens in Karlsruhe 1906 möglich geworden. Die badi­ sche Gemeindeordnung von 1910 legte dann eine Teilnahme von Frauen mit Sitz und Stimme in den städtischen Sozial­ kommissionen verbindlich fest.2 Als im Zuge der November­ revolution 1918 endlich die Einführung des aktiven und passi­ ven Frauenwahlrechts erfolgte, war es nur folgerichtig, daß die bereits kommunalpolitisch erfahrene Kunigunde Fischer zu den Gemeinderatswahlen im Mai 1919 für die SPD kandidierte und auch gewählt wurde. Stadträtin war sie bis 1922. Sie widmete sich nun auch der Landespolitik. Im Januar 1919 wurde sie eine der insgesamt neun weiblichen Abgeordneten der badischen verfassungsgebenden Nationalversammlung. Bis zur Macht­ übernahme der Nationalsozialisten übte sie ihr Mandat als Landtagsabgeordnete aus. Am 18. März 1933 wurde Kunigunde Fischer, wie alle SPD- und KPD-Abgeordneten des badischen Landtags, verhaftet und bis zum 31. März 1933 in der Rief­ stahlstraße eingesperrt. Eine erneute Inhaftierung erfolgte nach dem mißglückten Hitler-Attentat 1944. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft gehörte Kunigunde Fischer zu den „Frauen der ersten Stunde". Es war der Sozialpolitikerin vor allem ein Bedürfnis, die Not der ersten Nachkriegsmonate zu lindern. So wurde sie, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblich an der Gründung der Arbeiterwohlfahrt in Karlsruhe beteiligt gewesen war, nun aktiv, um diese sozialdemokratische Wohlfahrtsorganisation wieder zu beleben. Anfang Dezember 1945 fand zu diesem Zweck ein Zusammentreffen von vor 1933 in der Arbeiterwohlfahrt 18 Aktiven statt. Neben Kunigunde Fischer nahmen Marta Weiler, Marie Konz, E m m a Trinks, Lina Coblenz und als einziger Mann Otto Riesterer daran teil.3 Die offizielle Gründung erfolgte im Februar 1946, zunächst, entsprechend dem Verlangen der Militärregierung, unter dem Namen Sozialistische Volkswohl­ fahrt. Den Vorsitz übernahm Karl Siebert, Fischer wurde zweite Vorsitzende. Die soziale Arbeit nahm sie offensichtlich so in Anspruch , daß sie eine Mitarbeit im A u s s c h u ß der politischen Parteien zur Entnazifizierung ablehnte.4 Eine Haltung, die sich bei den meisten der insgesamt wen igen politisch aktiven Frauen jener J ah re feststellen läßt. Die Überlebensarbeit hatte Vorrang vor der Vergangenheitsbewält igung. Kun igunde Fischer war sich der Chance bewußt , die die Nachkriegssituation für eine politische Beteiligung der Frauen bot. „Wir Frauen sind gegenwärtig bevölkerungsmäßig in der Mehrzahl und geben durch unser Wahlrecht im Wahljahr 1946 den Ausschlag, wie sich das Rad der Geschichte für die Zukunft drehen wird.", sagte sie bei der ersten Frauenversammlung der Sozialdemokrat ischen Partei nach dem Ende der national­ sozialistischen Herrschaft in Karlsruhe am 3. März 1946. Sie rief die Frauen auf, „als Frau und Mutter", „ als Erzieherin der Jugend" in der jungen Demokratie mitzuarbeiten.5 Ihr Engage­ ment für eine Mitwirkung der Frauen in Politik und Gesellschaft basierte allerdings auf e inem bereits in der Kaiserzeit ent­ wickelten Geschlechtermodel l . Dies verdeutlichte sie in ihrem Vortrag über Frauen und Politik bei der ersten Versammlung der SPD-Frauen: „Die Frau und Mutter als Hüterin der Familie muß als Sozialistin in der Familie walten und das 'Nie wieder Krieg' in ihr Morgen- und Abendgebet einschließen." 6 Zwar wollte sie die Frau ke ineswegs auf die Familie beschränkt 19 sehen, ihr politisches Betätigungsfeld sah sie jedoch, getreu ihres eigenen Handelns, nach wie vor im Bereich des Sozialen. S o erlangte sie bereits vor ihrer erneuten Wahl zur Stadträtin wieder ein Mandat im städtischen Fürsorgeausschuß.7 Mit ihrer Mitarbeit in den städtischen Sozia lausschüssen - Fürsorge-, W o h n u n g s und Krankenhausausschuß - blieb sie bis zum Ende ihrer Stadtratstätigkeit 1959 auf „klassisch we ib l i chem" Politik- Terrain. Lediglich ihre Zugehörigkeit zum Finanzausschuß führ­ te sie 1958 auf bis dahin wei tgehend männlich besetztes Gebiet.8 Kunigunde Fischer war sich im klaren darüber, daß die Frauen trotz der Festlegung gleicher Rechte in der Verfassung weiter um die Gleichberechtigung kämpfen müßten. Von einer eigen­ ständigen, überparteilichen Organisierung der Frauen zu die­ s e m Zweck hielt sie j edoch nichts. S o mach te sie den Mitgl iedern der überpartei l ichen Karlsruher Frauengruppe deutlich, daß sich ihrer Auf fassung nach die Frauen innerhalb der Parteien engagieren sollten.9 Damit verfolgte sie eine sozial­ demokrat ische Frauenpolitik, die den Platz der Frauen stets an der Seite der Männer ihrer Klasse und nicht an der der Frauen anderer Klassen gesehen hatte. Die alten erfahrenen Politikerinnen wie Fischer hatten es in der Nachkriegszeit schwer, Gehör bei der Masse der jungen Frauen zu f inden und diese für ihre Ideen zu gewinnen. Doch es gelang ihnen, für einzelne Frauen der jüngeren Generation zum Vorbild zu werden und sie zu polit ischem Engagement zu ermutigen, wie z. B. im Fall der rund 20 Jahre jüngeren Hanne Landgraf (s. S. 64), die 1953 ebenfal ls in den Stadtrat gewählt wurde und ab 1966 im Landtag saß. 20 Für ihre vielfältigen Verdienste wurde Kunigunde Fischer an ihrem 75. Geburtstag 1957 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Und 1965 sollte sie innerhalb der Kommunalpolitik noch einmal die erste Frau sein: die erste, der die Ehrenbürgerwürde verlie­ hen wurde. Am 21. Februar 1967 verstarb mit ihr eine der herausragenden Persönlichkeiten der Stadtgeschichte. Um die Erinnerung an sie aufrechtzuerhalten, wurden zwei Alten­ wohnheime der Karl-Friedrich-Leopold- und Sophienstiftung, in deren Verwaltungsrat Kunigunde Fischer Mitglied gewesen war, nach ihr benannt. 1 Zur Geschichte der sozialdemokratischen Frauenbewegung Karlsruhes im Kaiserreich vgl. Susanne Asche, Barbara Guttmann, Olivia Hochstrasser, Sigrid Schambach, Lisa Sterr: Karlsruher Frauen 1715-1945. Eine Stadtgeschichte. Karlsruhe 1992 (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bad.15), S. 245-249. 2 Zur Tätigkeit von Frauen in der Kommunalverwaltung während des Kaiserreichs vgl. ebenda, S. 249-256. 3 Vgl. auch im Folgenden maschineschriftliches Manuskript zur Geschichte der Arbeiterwohlfahrt von Hanne Landgraf (veröff. in Mitteilungsblatt der AWO, H. 60, Januar 1986), S. 2. * Vgl. StAK 1 /POA2/1646. 5 BNN 15. 3.1946. 6 BNN 5.3.1946. 7 Vgl. StAK 1./H.-Reg./ 2878. 8 Vgl. StAK 1/H.-Reg./3138. 9 Vgl. BNN 23.10.1947. 21 Ruth Hella Grimm Mein Herz hat immer links geschlagen... Ruth Hella G r i m m war nach d e m Zweiten Weltkrieg im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) aktiv.1 Anfang der fünfziger J ah re wurde sie Vorsitzende des DFD Karlsruhe und des Bezirks Nordbaden. Über das Wirken dieser Frauenorganisation ist uns nur wenig überliefert, denn im Zeichen des Kalten Krieges wurde sie verboten und ihre Mitgl ieder diskreditiert. Es waren ihre Gegnerschaf t zum Nationalsozial ismus und die Überzeugung, daß sich so etwas nicht wiederholen dürfe, die Ruth Gr imm in den DFD und in die KPD geführt hatten. Wie viele ihrer politisch aktiven Zei tgenoss innen wurde auch Ruth Gr imm durch das Elternhaus politisch geprägt. 1910 im Rheinland geboren, verbrachte sie Kindheit und frühe J u g e n d in Berlin. Sie w u c h s in einer Künstlerfamilie auf und bewegte sich im linksintellektuellen Milieu des Berlins der Weimarer Republik. „Künstler sind immer links", dieser Eindruck hat sich ihr eingeprägt. Ende der zwanziger J ah re beobachtete man in diesen Kreisen die politische Entwicklung Deutschlands mit wachsender Sorge. Um der zunehmenden Gefahr von rechts etwas entgegenzusetzen, wählten ihre Eltern im Mai 1928 die KPD, der ältere Bruder die sozialistische Partei. Ähnlich votier­ ten viele Deutsche. Auf SPD und KPD entfielen z u s a m m e n 42 % aller Mandate, eine Zusammenarbe i t der beiden Parteien der Arbe i terbewegung war jedoch undenkbar. Unter dem Sozial­ demokraten Hermann Müller bildete sich eine große Koalition. 23 Im Winter 1928/29 zeichnete sich eine erneute Wirtschaftskrise ab, die mit e inem Au f schwung der Nationalsozialisten einher­ ging. Anges ichts dieser Entwicklung, entschlossen sich jüdi­ sche Freunde der Familie Ruth Gr imms , Deutschland zu verlas­ sen und nach Holland zu gehen. Ruth G r i m m s Familie schloß sich an und übersiedelte nach Den Haag, w o man Ver­ wandtschaft hatte. Zunächst wurde eine Ausre i segenehmigung für drei J ah re beantragt, um zu sehen, wie sich die politische Situation in Deutschland bis dahin entwickelte. Diese wendete sich nicht zum besseren, nach den Reichstagswahlen v o m Juli 1932 stellte die NSDAP die stärkste Fraktion. Die Familie Ruth G r i m m s hatte sich zwischenzeitlich entschlossen, nach Paris zu gehen, auch um einen alten Traum des Vaters zu verwirklichen, der Maler war. Ruth Gr imm studierte in Paris Kunstgeschichte. Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges hielt sich Ruth Gr imm in der Normandie auf, die nun von Aus ländern geräumt werden mußte . Sie wollte zu Freunden nach Orleans, doch auch dies war nicht mögl ich, weil sich dort der französische Generalstab befand und Aus länder ebenfal ls kein Aufenthaltsrecht erhielten. In e inem Troß mit zahlreichen anderen deutschen Emigranten, meist J u d e n , befand sich Ruth Gr imm auf der Suche nach e inem Aufenthaltsort. Da sie sehr gut Französisch sprach, über­ nahm sie die Verhandlungen mit den Behörden. Schließlich fand man in Nevers freundliche Au fnahme . Mit Beginn der deutschen Offensive im Westen kamen viele Flüchtlinge aus Belgien und Luxemburg nach Nevers. Ruth Gr imm arbeitete bei deren Betreuung mit. Im Mai 1940, bei Beginn des Frankreich­ feldzuges, wurden die in Frankreich lebenden Deutschen, dar­ unter viele J u d e n , als feindliche Ausländer interniert (s. S. 44). Auch Ruth Gr imm wurde in das berüchtigte Lager von Gurs 24 gebracht. Nach viereinhalb Monaten kam sie jedoch frei, da der Ehemann ihrer Schwester Franzose war und eine Bürgschaft für sie übernahm. Sie begab sich zunächst zu Schwester und Schwager nach Nizza, kehrte jedoch in das inzwischen von den Deutschen besetzte Nevers zurück, da sie dort ihre Wohnung mit Hab und Gut zurückgelassen hatte. Um an die lebensnot­ wendigen Lebensmittelkarten zu kommen, mußte sie sich auf der Kommandantur, der Höhle des Löwen, melden. Dort bat man sie, angesichts ihrer sehr guten Französisch-Kenntnisse, als Dolmetscherin zu arbeiten. Diese Tätigkeit nutzte sie zugun­ sten der französischen Bevölkerung und widerständiger Kreise. So konnte sie z. B. einmal vor einer drohenden Verhaftung war­ nen. Mit Beginn der alliierten Invasion begannen fürchterliche Bombardements. Nach Nizza zurückzukehren, war angesichts der zerstörten Brücken und Verbindungen nicht möglich. So schloß sie sich Bekannten an, die nach Deutschland gehen woll­ ten. Bei Neuenburg wurde der Zug bombardiert. Man flüchtete hinter den Bahndamm. Doch nun kamen Tiefflieger, so tief, daß Ruth Grimm den Piloten sehen konnte. Ihre Freundin wurde tödlich getroffen. Sie selbst, zunächst auch für tot gehalten, wurde mit sehr schweren Verletzungen in die Universitätsklinik von Freiburg transportiert. Es sollte eineinhalb Jahre dauern, bis ihre Gesundheit wieder einigermaßen hergestellt war, u. a. mußten Hauttransplantationen vorgenommen werden. Sie hatte zahlreiche Durchschüsse, weshalb man sie in der Klinik „das Sieb" nannte. Die Zerstörung Freiburgs im Dezember 1944 betraf auch große Teile der Klinik. Daraufhin begab sich Ruth Grimm in ein Lazarett in die Oberpfalz, weil dort ein sehr guter Chirurg tätig war. Hier erlebte sie das Kriegsende und erst im Herbst 1945 25 konnte sie das Lazarett verlassen. Sie wußte nicht, woh in sie nun gehen sollte. Ein Verwundeter bat sie, seiner Mutter in Lindau die Nachricht zu überbringen, daß er noch lebe. Da Lindau in der französischen Besatzungszone lag, und sie hoffte, von dort aus wieder nach Frankreich gehen zu können, willigte sie ein. Die französische Kommandan tur in Lindau war jedoch nicht gewillt, ihr eine Reiseerlaubnis auszustellen. Vielmehr ver­ dächtigte man sie aufgrund der Tatsache, daß sie zu d iesem Zeitpunkt besser Französisch als Deutsch sprach, Mitglied der Fünften Kolonne, eine Kollaborateurin, gewesen zu sein. Sie wurde z u s a m m e n mit den ortsansässigen Nazis interniert, kam jedoch wieder frei und mußte sich wegen ihres schlechten Gesundhei tszustandes erneut nach Freiburg in die Klinik bege­ ben. Von dort beorderten die Franzosen sie wieder nach Lindau zurück, da der Verdacht der Kollaboration nicht ausgeräumt sei. Sie wurde im Lindauer Gefängnis inhaftiert. Es dauerte lange und war schwier ig , anges ich ts der deso la ten Post- und Verkehrsverhältnisse, Entlastungszeugen aus Nevers aufzutrei­ ben. Nach Wochen erreichte ihre Nachricht den Schwager in Nizza, der die von ihr benannten Zeugen in Nevers kontaktierte und auch in Lindau einen Anwalt mit ihrer Sache betraute. Schließlich schenkte die Kommandantur in Lindau den Zeugen aus Nevers, die aussagten, daß da die völlig Falsche einsaß, Glauben und entließ sie nach fast vier Monaten aus der Haft. Ruth Gr imm verlor trotz dieser ungeheuerl ichen Anschuldi ­ gung, trotz Haft und schlechtem Gesundheitszustand nicht den Mut: „Ich habe mir immer gesagt, wo eine Tür hineinführt, führt sie auch wieder hinaus." 2 1948 kam Ruth Gr imm nach Karlsruhe, w o sie heiratete. Ihr erster Ehemann war zunächst von den Nationalsozialisten aus 26 Karlsruhe ins Saarland geflüchtet und hatte sich nach dessen Ansch luß ans Reich 1936 entschlossen, mit den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco zu kämpfen. Nach dem mit Hilfe Deutschlands und Italiens erfolgten Sieg der putschenden Militärs gegen die Volksfrontregierung wurde er an Deutschland ausgeliefert, w o er zunächst zwei J ahre im Zuchthaus Bruchsal inhaftiert war. Die anschl ießende Haft im Konzentrationslager Dachau wurde erst durch die Befreiung der Amerikaner 1945 beendet. Anges ichts des Lebensweges von Ruth Gr imm erscheint es nur folgerichtig, daß ihr vor allem der Kampf um die Sicherung des Friedens, gegen die Wiederbewaf fnung und atomare Rüstung ein Anl iegen war. So wurde sie, inzwischen Mutter zweier Kinder, im Demokratischen Frauenbund (DFD) aktiv. Der DFD war A n f a n g März 1947 im R a h m e n e ines Deutschen Frauenkongresses für den Frieden in Berlin gegründet worden. Obwoh l an d iesem Kongreß auch Frauen aus den westl ichen Besa t zungszonen t e i l g e n o m m e n hatten, w u r d e der DFD zunächst nur in der sowjet ischen Besatzungszone zugelassen. 1948 erfolgte die Zulassung in West-Berlin. Vorbereitungen zur Gründung in den Westzonen wurden von den Besatzungs­ mächten verboten, die Gründung des DFD in der Bundes­ republik konnte erst im September 1950 erfolgen. Teilweise waren dem schon lokale Gründungen vorausgegangen . Ruth G r i m m fand am DFD, der sich 1948 der Internationalen Demokratischen Frauen-Föderation (IDFF) angeschlossen hatte, den Aspekt der internationalen Zusammenarbe i t mit Frauen anderer Länder interessant . Sie s ch loß sich 1950 d e m Karlsruher DFD an, dessen Vorsitz d a m a l s Friedl Reger" innehatte. A ls d iese 1952 aus gesundhe i t l i chen Gründen 27 zurücktrat, wurde Ruth Grimm ihre Nachfolgerin. Der DFD Karlsruhe zählte ca. 20 Mitglieder, meist Ehefrauen von KPD- Mitgliedern. Daneben gab es einen kleinen Kreis bürgerlich­ intellektueller Frauen, dem Ruth Grimm angehörte, die sich auch außerhalb der offiziellen Veranstaltungen trafen und die Arbeit des DFD wesentlich gestalteten. Einige Aktionen sind Ruth Grimm besonders in Erinnerung geblieben. So etwa eine vom DFD organisierte Demonstration in Stuttgart gegen die Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg in den USA, zu der aus Karlsruhe mehrere Busse hinfuhren. Des weiteren wurden die Frauen gegen die Errichtung des Militärflughafens in Söllingen aktiv. 1954, zum 9. Jahrestag des Atombombenabwurfes auf Hiroshima, verteilte Ruth Grimm gemeinsam mit Edith Dietz5, die ebenfalls dem DFD angehörte, Flugblätter beim Karlsruher Ärztekongreß und diskutierte mit den Medizinern über die Gefahren der atomaren Rüstung. Unmittelbar nach Kriegsende war es noch selbstverständlich gewesen, daß alle (wieder)gegründeten Parteien gemeinsam am demokratischen Neuaufbau arbeiteten. Nicht wenige Menschen wählten wie Ruth Grimm den Weg in die KPD, als einer konsequent antinationalsozialistischen Partei. Sie stellte 1947 vier Stadträte und mit Berthold Riedinger einen Bürger­ meister. Doch die zunehmende Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den West-Alliierten fand bald ihren Nieder­ schlag bis in die lokale Politik. Als im August 1956 die KPD ver­ boten wurde, fanden sich Menschen, die im Widerstand gegen Hitler gewesen und dann teilweise an maßgeblicher Stelle beim Wiederaufbau mitgewirkt hatten, als „Staatsfeinde" wieder. Im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges war jedes Enga­ gement für die Sicherung des Friedens und gegen eine 28 Remilitarisierung der Bundesrepublik verdächtig, von Moskau - oder doch zumindest von Ost-Berlin - gesteuert zu sein. Auch der DFD, dem zwar KPD-Mitglieder, aber auch parteilose Frauen angehörten, geriet zunehmend unter Druck. Als Ruth Gr imm 1957 beim DFD Karlsruhe einen Vortrag über Käthe Kollwitz hielt und deren Werk anhand von Dias erklärte, erfolgte im Ansch luß eine Haussuchung. Diaprojektor und Dias wurden beschlagnahmt, sie selbst von Polizei und Staatsanwaltschaft v e r n o m m e n . Im April 1957 wurde der DFD schließlich mit der Begründung, daß er enge Beziehungen zum Schwesterverband in der DDR halte, in der Bundesrepubl ik verboten. Ruth Gr imm sagt rückblickend: „Mein Herz hat immer links geschlagen." 6 Dies bedeutete für sie jedoch nicht, der Doktrin einer Partei blind zu folgen. Zur KPD und insbesondere der sta­ linistischen Politik hatte sie ein durchaus kritisches Verhältnis, w e n n auch deren ganzes A u s m a ß in jener Zeit nicht zu überblicken war. Wie bereits in ihrer J u g e n d , bewegte sie sich in linken Künstler- und Intel lektuel lenkreisen. Mit den Scheuklappen mancher Parteifunktionäre und auch -mitglieder tat sie sich schwer. Nach dem Verbot von KPD und DFD war es für sie keine Frage, sich weiterhin für die Sicherung des Friedens zu engagieren. G e m e i n s a m mit Freunden unter­ schiedlichster politischer Richtungen und Wel tanschauungen wurde sie in der Deutschen Friedens-Union (DFU) aktiv und beteiligte sich an den Ostermärschen gegen Wiederbewaf fnung und atomare Rüstung. Neben d iesem Engagement für den Frieden war Ruth Gr imm seit 1952 auch im Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegs­ hinterbliebenen und Sozialrentner (VdK) tätig. Zunächs t 29 Mitglied der Rüppurrer Gruppe, wurde sie bald deren stellver­ tretende Vorsitzende. Bei ihrem Umzug nach Oberreut gründe­ te sie 1965 dort eine Ortsgruppe und übernahm deren Leitung. 1969/70 übernahm sie das Amt der Kreiskassiererin. Zunächst war sie jedoch als Vertreterin der kriegsbeschädigten Frauen Mitglied im Kreisvorstand des VdK geworden. Es war ihr ein Anliegen, für die Interessen der an den Folgen von Kriegs­ verletzungen leidenden Frauen sowie der Kriegerwitwen einzu­ treten. Ende der 50er Jahre stieß sie im VdK eine Gesetzes­ initiative gegen die Ungleichbehandlung von Frauen und Män­ nern bei der Entschädigung der Kriegsversehrten an. Hier er­ hielten Frauen eine geringere Entschädigung als Männer, u. a. auch keine Ehegattenzulage. Die von Ruth Grimm initiierte und vom VdK eingebrachte Gesetzesänderung hatte in erster Lesung im Bundestag Erfolg. So kann die jüngst für langjährige Mitgliedschaft im VdK Geehrte heute mit Stolz auf die Tatsache blicken, einen Beitrag zur rechtlichen Realisierung der im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung der Frauen gelei­ stet zu haben. 1 Die fo lgenden Aus führungen stützen sich auf zwei Gespräche, die die Verf. am 30. Mai 1995 sowie am 24. Jul i 1997 mit Ruth Gr imm führte. Schriftliche Materialien zum Lebensweg Ruth G r i m m s sowie zur Geschichte des DFD Karlsruhe liegen nicht vor. Auch Recherchen im Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, in d e m tei lweise Unterlagen des DFD in Westdeutschland überliefert sind, ergaben leider keine Anhaltspunkte zur DFD-Gruppe in Karlsruhe, bzw. Nordbaden. 2 Mündl iche Auskunft Ruth Gr imm, 24. Jul i 1997. 3 Die Geschichte des DFD, insbesondere in den westl ichen Besatzungszonen, bedarf noch einer umfassenden Aufarbeitung. Bislang liegt für Berlin vor: Rita Pawlowski: Der Demokrat ische Frauenbund Deutschlands (DFD), in: Renate Genth, Reingard Jäckel , Rita Pawlowski , Ingrid Schmidt-Harzbach, Irene Stoehr: Frauenpolitik und polit isches Wirken von Frauen im Berlin der Nachkriegszeit 1945 bis 1949. Hrsg. v. d. Senatorin f. Arbeit, berufliche Bildung und Frauen, Berlin. Berlin 1996, S. 75-104. Des weiteren relativ oberflächlich und etwas tendenziös: Florence Herve, Ingeborg Nödinger: A u s der Vergangenheit gelernt? 1945 bis 1949, in: Florence Herve (Hrsg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung. 3., Überarb. u. erw. Aufl . Köln 19877, 30 S.187-205, hier S. 195ff. Wicht ige Hinweise lieferte mir Hilde Zachmann, die Lan­ dessekretärin des DFD Baden-Württemberg war, in e inem Gespräch am 13. Jul i 1995. Dies wird eine ausführlichere Darstellung im für 1999 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe zur Veröffentl ichung geplanten Band d. Verf. zur politischen Partizipation von Frauen in Karlsruhe 1945-1955 f inden. " Friedl Reger, geb. 1903, war bereits vor 1933 in der KPD aktiv gewesen und wurde während des Nationalsozial ismus wiederholt inhaftiert. Nach dem Ende der natio­ nalsozialistischen Herrschaft kandidierte sie 1947 für die KPD in Karlsruhe zum Stadtrat und trat als Referentin bei Frauenversammlungen auf. 5 Edith Dietz war als Jüd in unter dem nationalsozialistischen Regime verfolgt. Sie konnte in die Schweiz fl iehen, w o sie ihren späteren Ehemann, den Journal is ten und Karlsruher Kommunis ten Friedrich K. H. Dietz kennenlernte. Ihm folgte sie 1947 nach Karlsruhe. Dietz wurde für die KPD in den Stadtrat gewählt . Edith Dietz trat nicht der KPD bei. Sie gehörte jedoch dem DFD und auch der überparteilichen Karlsruher Frauengruppe an. Gespräche, die d. Verf. mit Edith Dietz in den Jahren 1995-1997 führte, werden eine Darstellung im Band zur politischen Partizipation von Frauen in Karlsruhe 1945-1955 f inden. 6 Mündl iche Auskunft Ruth Gr imm, 24. Jul i 1997. 31 32 Elisabeth Großwendt Eine große Macht ist den Frauen in die Hand gegeben „ Wie stark geht das alles die Frauen, die Hausfrauen und Mütter an! Gibt es doch kaum ein städtisches Amt, mit dem sie nicht irgendwo und irgendwann in Beziehung treten muß."\ schrieb Elisabeth Großwendt anläßlich der ersten demokrat ischen Stadtratswahlen nach zwölf Jahren Nationalsozial ismus im Mai 1946 in den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN). Sie appel­ lierte nachdrücklich an Karlsruhes Frauen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, schließlich sei das Ergebnis der Wahl von ihnen stark abhängig, bildeten sie doch die Mehrheit der Wählerschaft . Doch bei den fo lgenden Wahlen sah Großwendt ihre Hoffnung enttäuscht, die Frauen würden ihre zahlen­ mäß ige Überlegenheit nutzen, um mehr polit isches Gewicht zu erlangen. Im Dezember 1947 mußte sie resümieren, daß „viele Frauen mit ihrer täglichen Sicht auf zerrissene Strümpfe und schrumpfende Kartoffelvorräte..." zu den Nichtwählern gehör­ ten. Sie beklagte, daß viele verheiratete Frauen das Gebiet der Politik ihren Ehemännern überließen. Da diese dann auch federführend beim Ausfül len der Stimmzettel seien, hätten Frauen nur geringe Chancen, gewählt zu werden. In der Tat, sie selbst von der DVP auf Listenplatz 4 aufgestellt, wurde nicht gewählt.3 Dabei war sie in Karlsruhe durchaus keine Unbe­ kannte. Die zu d iesem Zeitpunkt als Redakteurin der BNN tätige Politikerin ist vielen als originelle, ungewöhnl iche Frauen­ gestalt, meist Zigarren rauchend, in Erinnerung. Sie war von großer, kräftiger Gestalt und energ ischem, aber heiterem Wesen . Vielleicht waren ihre unkonventionel le, die Grenzen damal iger Vorstel lungen von Weiblichkeit sprengende Art und 33 ihre Ansichten von weiblicher Emanzipation für die Wähle ­ rinnen- und Wählerschaft der liberalen Partei zu viel. So konnte sie an ihre von den Nationalsozialisten abgebrochene k o m m u ­ nalpolitische Karriere nach 1945 nicht mehr im erhofften Maße anknüpfen. Dennoch spielte sie in den ersten Nachkriegsjahren eine wichtige Rolle in der städtischen Öffentlichkeit, insbeson­ dere in ihren Bemühungen , den Frauen größeren politischen Einfluß zu sichern. Elisabeth Großwendt gehörte jener Generation von Frauen an, die bereits vor 1933 in der bürgerlichen Frauenbewegung aktiv gewesen waren und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft an deren Traditionen anzuknüpfen suchten. Geboren wurde sie am 26. Mai 1881 in Metz. Nach dem Besuch einer höheren Mädchenschule studier­ te sie an der Universität Straßburg mehrere Semester National­ ökonomie , um danach sechs Monate in verschiedene Fabriken Badens, Bayerns und des damals zu Deutschland gehörenden Elsaß das Leben der Fabrikarbeiterinnen aus eigener Anschau ­ ung kennenzulernen.4 In dieser Zeit verfaßte sie zwei Studien über Die Lage der Fabrikarbeiterin und die Arbeit in der Tabak­ industrie. Großwendt wollte ihre Kenntnisse nutzen, um zur Verbesserung der Situation von Arbeiterinnen beizutragen. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunder ts hatten Arbeiterinnen­ vereine und auch die bürgerliche Frauenbewegung zu d iesem Zweck die Einsetzung weiblicher Beamte bei der staatlichen Gewerbeaufs icht gefordert. Baden kam als erster deutscher Staat dieser Forderung nach und stellte 1900 Else von Richt­ hofen als erste Fabrikinspektorin ein. Elisabeth Großwendt wur­ de 1906 die erste Gewerbeaufs ichtsbeamtin Elsaß-Lothringens. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 übertrug man ihr die 34 Leitung der Zentrale für Kriegsfürsorge der Stadt Colmar. 1916 w u r d e sie als Referentin für Arbe i ter innenfragen an die Kriegsamtsstel le Straßburg berufen. Nach Kriegsende wies man sie aus dem nun französischen Elsaß-Lothringen aus. Sie ging nach Stuttgart, um dort die Tätigkeit einer Referentin beim württembergischen Landesamt für Arbeitsvermitt lung auszu­ üben. Im Jul i 1919 wurde sie schließlich Geschäftsführerin des städtischen J u g e n d a m t e s Halle/Saale. „Ich habe hier eine viel­ seitige verantwortungsvolle Tätigkeit, als deren wichtigsten Teil ich u. a. die Anleitung von 14 Waisen- und Jugendpflegerinnen auffasse [...] - eine Fülle von Aufgaben, in die zu vertiefen es sich lohnt", schrieb sie im November 1919. Doch „... krankt der Süddeutsche in dieser Landschaft und dieser Stadt an dem bekannten Heimweh [...], weil das Verlorene, Heimatliche hier nirgends, auch in keinem leisen Anklang zu finden ist." 5 So beschloß Großwendt bereits wen ige Monate nach A u f n a h m e ihrer Tätigkeit in Halle, sich für die Leitung des J u g e n d a m t e s in Karlsruhe zu bewerben. Möglich geworden war dies durch eine Reform des kommuna len Fürsorgewesens, die im Frühjahr 1920 zur Errichtung eines städtischen Fürsorgeamtes mit der Abtei lung J u g e n d a m t führte. A m 16. April 1920 nahm Elisabeth Großwendt als erste Frau in der Stadtverwaltung Karlsruhe eine Tätigkeit als Amtsleiterin auf.6 Die Bewerbung Großwendts in Karlsruhe war auf Empfehlung Marie Baums erfolgt. Baum selbst war zu diesem Zeitpunkt als Regierungsrätin beim badischen Arbeitsminister ium, später Innenministerium tätig. Bereits von 1901 bis 1907 hatte sie schon einmal bei einer Karlsruher Landesbehörde gearbeitet, als Fabrikinspektorin beim Gewerbeaufs ichtsamt. Es ist wahr­ scheinlich, daß sie mit Großwendt , die damals die elsässische 35 Gewerbeaufsichtsbeamtin war, schon in jener Zeit Bekannt­ schaft geschlossen hatte. Des weiteren konnte sich Elisabeth Großwendt bei ihrer Bewerbung in Karlsruhe auf Referenzen Elly Heuss-Knapps und Dr. Marie-Elisabeth Lüders berufen. Heuss-Knapp und Lüders waren, wie auch Großwendt, Mitglieder der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Die Verbindung zu diesen Frauen war für Großwendt jedoch in erster Linie frauenpolitisch und weniger parteipolitisch begrün­ det. Nicht die „männlichen 'Führer'", sondern die dort „einge­ reihten Führerinnen der Frauenbewegung" hätten sie in die DDP geführt, bemerkte sie später selbst.7 Mit Elisabeth Groß­ wendt kam also eine jener Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung nach Karlsruhe, die das traditionell den Frauen zugeschriebene Feld der Fürsorge professionalisiert hat­ ten. Über ihre Tätigkeit in der Karlsruher Frauenbewegung der zwanziger und dreißiger Jahre ist uns leider nur wenig überlie­ fert. Fest steht, daß sie aktives Mitglied des örtlichen Verbandes für Frauenbestrebungen war, einer dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) angeschlossenen Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung in Baden. Dies belegt u. a. ein Veranstaltungshinweis, der Großwendt als Referentin und Teilnehmerin der Landestagung des Badischen Verbandes für Frauenbestrebung in Freiburg 1932 auswies.8 Wir können nur vermuten, daß eine solche Frau in der damali­ gen Zeit in einer leitenden Position der städtischen Verwaltung gerade von Seiten männlicher Kollegen nicht unbedingt gut gelitten war. Ihr Vorgesetzter, der Leiter des Fürsorgeamtes Dr. Franz Fichtl meldete nach der nationalsozialistischen Macht­ ergreifung jedenfalls Zweifel an, daß sich Großwendt „rückhalt­ los für den nationalen Staat" einsetzen werde.9 Ein mit dem 36 Vollzug des im April 1933 erlassenen Gesetzes zur Wieder­ herstellung des Berufsbeamtentums beauftragter A u s s c h u ß unter d e m Vorsitz des nationalsozial ist ischen Oberbürger­ meisters Friedrich J äger befand zwar, daß aufgrund dieses Gesetzes zu „einem Einschreiten" gegen die J u g e n d a m t s ­ leiterin kein An laß bestehe, schlug jedoch einen anderen Weg vor, sie loszuwerden. Es sei zu prüfen, ob Großwendt infolge einer Organisat ionsänderung entbehrlich sei. So beschloß der Stadtrat schließlich „... im Interesse des jüngeren Nachwuchses in der Freimachung von Arbeitsplätzen" die vorzeitige Zur­ ruhesetzung der zu d iesem Zeitpunkt 52jährigen. Elisabeth G r o ß w e n d t hatte zunächst of fensicht l ich unter Druck ihr Einverständnis hiermit erklärt. A m 16. Oktober 1933 widerrief sie diese Einverständniserklärung, jedoch ohne Erfolg. Ende März 1934 mußte sie aus dem Dienst als Leiterin des städti­ schen J u g e n d a m t e s ausscheiden.1 0 Diese zwangswe ise Zur­ ruhesetzung traf sie hart, hatte doch der Verlust der von ihr so geschätzten Arbeit auch erhebliche materielle Auswirkungen. Statt dem bisherigen Gehalt von 455 RM erhielt sie nun nur noch ein Ruhegehalt von 310 RM. Ihre W o h n u n g in der J a h n ­ straße konnte sie nicht mehr halten, und sie zog in eine kleine­ re im Dammerstock um.11 Elisabeth Großwendt weigerte sich auch in den fo lgenden J a h r e n s tandhaf t , den nat iona lsoz ia l i s t i schen Appara t in irgendeiner Weise zu unterstützen. Im März 1934 erklärte sie dem Winterhilfswerk, daß sie infolge ihrer Zurruhesetzung die Zahlung des bisher gespendeten Beitrags einstelle, da sie mit den ihr verble ibenden Mitteln andere bedürftige Personen unterstützen werde: „Dabei stehen mir nach der Lage der Ver­ hältnisse bedürftige Frauen am nächsten." Und 1937 erwiderte 37 sie auf eine Auf forderung, der NSV beizutreten, daß sie kein Interesse daran habe, „... Volkswohlfahrt mittels der Partei aus­ zuüben. "12 Eine solch klare A b s a g e an die nationalsozialistische (Wohlfahrts-)Politik war durchaus mutig. Die Tatsache, daß d iese Ä u ß e r u n g e n in Elisabeth G r o ß w e n d t s Personalakte gelangten, zeigt, daß ihr Handeln auch nach der Entlassung überwacht wurde. 1945, nach Beendigung des Krieges und der nationalsozialisti­ schen Herrschaft, war diese unangepaßte Frau sofort zur Stelle, um am demokrat ischen Neuaufbau mitzuwirken. Im Jun i bot sie dem städtischen Fürsorgeamt wieder ihre Mitarbeit an. Eben jener Dr. Franz Fichtl, der 1933 Großwendts „nationale Zuverlässigkeit" aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Staatspartei bezweife l t hatte, der über die ganze Zeit des National ­ soz ia l ismus Direktor des Fürsorgeamtes gewesen und noch immer im A m t war, behauptete nun: „Die Verwaltungsober- inspektorin Großwendt ist bekanntlich nicht entlassen, sondern zur Ruhe gesetzt worden. Grund hierfür war nicht ihre Zuge­ hörigkeit zur demokratischen Partei, sondern ihre Leistungen." u Leider schloß sich auch der von den Franzosen kommissar isch eingesetzte Karlsruher Oberbürgermeister dieser Auf fassung an und lehnte eine Wiedereinstel lung endgültig ab. Während Elisabeth G r o ß w e n d t er leben mußte , w ie ihre pol i t ische Haltung und ihre beruflichen Leistungen abqualifiziert wurden, setzte sich die Verwaltung für eine Rehabilitierung des im März 1946 zunächst auf Anordnung der amerikanischen Militär­ regierung aus dem städtischen Dienst entlassenen Dr. Fichtl ein. Noch wen ige Monate vor seiner Zurruhesetzung wurde er erneut zum Leiter der städtischen Wohlfahrtsverwaltung berufen, dies wohl vor al lem, um seine Pension zu sichern.14 38 Doch trotz dieser ungeheuerlichen Vorgänge blieben Elisabeth Großwendts Engagement und ihr Wille, die Beteiligung der Frauen am Aufbau des neuen Staatswesens einzufordern, offensichtlich ungebrochen. Sie wurde im Frühjahr 1946 Redak­ teurin der BNN, verantwortlich für Jugend- und Frauenfragen.15 Bereits in der ersten Ausgabe der neuen Tageszeitung vom 1. März 1946 eröffnete sie eine Rubrik „Die Frau hat das Wort" mit einem Leitartikel „Die Macht der Frau". Sie appellierte an die Verantwortung der Frau als „Trägerin des Lebens" für die Friedenssicherung und den Aufbau eines demokratischen Staates. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit lege den Frauen große Macht in die Hand.16 In ihrer Argumentation folgte Groß- wendt ganz den Vorstellungen der alten bürgerlichen Frauen­ bewegung. Das „weibliche Wesen" sollte über die Familie hin­ aus in der Gesellschaft wirken und dadurch Aufwertung und politische Anerkennung erfahren. Als Redakteurin der BNN versuchte sie, den Frauen eine vom Nationalsozialismus nicht besetzte politische Tradition zu vermitteln. So sorgte sie 1946/47 für eine Artikelserie über die Geschichte der Frauenbe­ wegung. Aber sie war auch für neue Ideen offen. Im Dezember 1948 propagierte sie beispielsweise die Einrichtung von Wohn­ gemeinschaftshäusern, um die Situation der vielen in Folge des Krieges alleinlebenden Frauen mit und ohne Kinder zu verbes­ sern. Die Idee war, ein „Großwohnhaus (in der Art des 'Lauben­ hauses' im Karlsruher Dammerstock)" mit verschiedenen Ge­ meinschaftseinrichtungen zu bauen. Gedacht war an „größere Gemeinschaftsräume für Kinder verschiedenen Alters", wo die­ se professionell betreut werden sollten, eine Art Kantine für die Versorgung berufstätiger Mütter und deren Kinder, Nähstuben, ein Gemeinschaftshaus sowie Verkaufsläden in unmittelbarer Nähe.17 Ein solches Projekt wurde jedoch nie realisiert. 39 Elisabeth Großwendt ist es zu verdanken, daß die BNN in den ersten Jahren ihrer Existenz auch zu einem Diskussionsforum für weibliche Emanzipationsbestrebungen wurde. Doch ihr (frauen-)politisches Engagement erschöpfte sich nicht in der journalistischen Arbeit. Sie wurde wieder Mitglied der im Oktober 1945 gegründeten Demokratischen Partei, der späteren FDP, und nahm dort die Funktion der Schriftleiterin wahr.18 Ihre Kandidatur für diese Partei zum Gemeinderat war leider nicht erfolgreich, dennoch suchte sie als Mitglied des städtischen Fürsorgeausschuß Einfluß auf die kommunale Sozialpolitik zu nehmen.19 Eine Vertretung ihrer Partei im Ausschuß zur Entnazifizierung nahm sie jedoch nicht wahr.20 Möglicherweise hatten sie die Vorgänge um ihre eigene Person und den Amtsleiter Dr. Fichtl am Sinn dieser Institution zweifeln lassen. Wir wissen wenig über Großwendts Arbeit innerhalb der demo­ kratischen Partei. Wie schon in der Weimarer Republik hat sie sicher die Tatsache, daß sich in dieser Partei traditionell die führenden Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung organi­ sierten, zu einem Wiedereintritt bewogen. Schließlich gehörte zu den Karlsruher Gründungsmitgliedern auch die ihr befreun­ dete Luise Riegger (s. S. 93). Doch die Frage der politischen Partizipation von Frauen stand in jenen Monaten keineswegs auf der Tagesordnung der Parteien. Diese Erfahrung mag Großwendt mit bewogen haben, sich an der Schaffung eines Forums für die Interessen von Frauen über Parteigrenzen hin­ weg zu beteiligen. Im Frühsommer 1946 fanden sich auf Anregung Luise Rieggers ca. 15 Frauen zusammen, um zu bera­ ten, in welcher Form die durch den Nationalsozialismus zer­ schlagene Frauenbewegung wiederbelebt werden könne, und 40 wie die Frauen im neu aufzubauenden Staat Einfluß gewinnen könnten.21 Die offizielle Gründung der überparteilichen Karls­ ruher Frauengruppe fand am 17. Oktober 1946 im großen Sitzungssaal der Postdirektion am Ettlinger-Tor-Platz statt. Großwendt veröffentlichte den Gründungsaufruf in den BNN. Dort hieß es, die Gruppe wol le erreichen, daß „... die Frauen über die Familie hinaus gehört werden" und die Männer zu der Einsicht gelangen, „... daß die Frau die selbstverständliche, not­ wendige, gleichberechtigte Mitarbeiterin" beim Aufbau des G e m e i n w e s e n s sei.23 Die Karlsruher Frauengruppe entfaltete in den ersten Nachkriegsjahren ein breites Spektrum politischer, sozialer und kultureller Aktivitäten. Anges ichts der Notsituation der ersten Nachkriegszeit, des Nahrungs- und W o h n u n g s ­ mangels , der großen Zahl auf sich alleine gestellter Frauen, wol lte die Gruppe auch eine Anlaufstel le für ratsuchende Frauen sein, um sich dann durch Intervention bei den entspre­ chenden Behörden um Abhi l fe zu bemühen . Elisabeth Groß­ wendt hielt zu d iesem Zweck einmal wöchent l ich in den Räumen der „Frauenschriftleitung" der BNN eine Sprechstunde der Frauengruppe ab.24 Mit der Pensionierung Elisabeth Großwendt im Dezember 1949 wandel te sich die Berichterstattung der BNN zu Frauenfragen v o m Forum für eine emanzipat ive Frauenpolitik zur Propa­ gierung eines restaurativen Frauenbildes, ganz im Sinne der gesamtgesel lschaft l ich einsetzenden Restauration. Sicher folg­ te dieser Wandel einer a l lgemeinen historischen Entwicklung. Dennoch wird an der journalistischen Tätigkeit Großwendts in den ersten Nachkriegsjahren deutlich, w a s sich verändern kann, wenn politisch bewußte Frauen in einflußreiche, die öffentliche Meinung bes t immende Positionen gelangen. 41 Der Ruhestand bedeutete für Elisabeth Großwendt keinen völli­ gen Rückzug aus dem politischen Leben. Sie war weiterhin in der Karlsruher Frauengruppe , die später im Deutschen Frauenring aufging, sowie in der Frauengruppe der FDP aktiv. Anläßl ich ihres 75. Geburtstages bemerkte sie, sie mache sich noch immer ehrenamtlich nützlich.25 Daneben malte sie, model ­ lierte und fertigte Bilderbücher für Kinder. Martha Schwarz, die Elisabeth Großwendt in jenen Jahren kennenlernte und zeit­ we ise im selben Haus wohnte , schildert in ihrer Erzählung „Die S t i m m e " eindrucksvoll ihre Begegnung mit dieser außer­ g e w ö h n l i c h e n Frau: „... obwohl alle Einzelheiten dieses Gesichts ebenmäßig und in ihrem Gesamtbild so wirkungsvoll waren, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sie schön zu nennen [...] sie ließ sich einfach nicht einordnen in diese Beurteilungsweise." A m markantesten war jedoch ihre S t imme, „... in der sich mitteilte, was sie war - ein Mensch wie ein Baum . . ."26 Der Gedanke an Krankheit und Leiden waren mit dieser starken Frau nicht zu verbinden. Doch Elisabeth Großwendt verstarb am 16. Februar 1960 an den Folgen einer schweren Krankheit in Brettach, nahe Heilbronn, im Hause einer Freundin. Würdigten die BNN sie in ihrem Nachruf noch als eine der „bekanntesten und profiliertesten Frauen" Karlsruhes,27 geriet sie in den fo lgenden Jahrzehnten fast in Vergessenheit . Erst im Rahmen der Arbeiten zur Karlsruher Frauengeschichte erhielten Leben und Wirken dieser „weibl ichen Bahnbrecherin"2 8 ihren Platz in der Stadtgeschichte. 1 BNN 25. 5. 1946. ' Auch im Folgenden BNN 6.1.1948. 3 Vgl. StAK 1/H.-Reg./2896. 4 Vgl. auch im Folgenden StAK 1/POA 1/1011. 42 5 Auch im Folgenden StAK 1/POA 1/1011: Bewerbungsschreiben v o m 19. November 1919. 6 Zur Tätigkeit Elisabeth Großwendts im Karlsruher J u g e n d a m t vgl. Susanne Asche, Barbara Gut tmann, Olivia Hochstrasser, Sigrid Schambach , Lisa Sterr: Karlsruher Frauen 1715-1945. Eine Stadtgeschichte. Karlsruhe 1992 (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bd.15), S. 307-310. 7 StAk 1/POA 1/1011. 8 Vgl. Archiv Deutscher Akademiker innenbund Karlsruhe, Fasz.1, 1927-1933. 9 StAk 1/POA 1/1011: Dr. Franz Fichtl an den Bürgermeister, 14. Jul i 1933. Vgl. hier­ zu auch S. Asche u. a. (wie A n m . 6), S. 327 ff. 10 Vgl. auch im Folgenden StAk 1/POA 1/1011. 11 Vgl. 1/POA 1/1011; schriftliche Auskunft Georg Himmelheber, München, v o m 9. 4. 1996 sowie Adreßbuch der Stadt Karlsruhe 1932/33 ff. 12 1/POA 1/1011. 13 Ebenda. " Vgl. StAK 1/POA 1/2828 und Protokoll der Stadtrats-Sitzung v o m 27. November 1951. Interessanterweise setzt die Personalakte Fichtls erst 1947 ein. Uber seine Amtszeit 1933-1945 sind keinerlei Unterlagen erhalten. 15 Ihre Artikel zeichnete sie, wenn nicht mit d e m ganzen Namen, mit den Kürzeln Elgro., E. G., Eg., oder E. Gw. 16 BNN 1.3.1946. 17 BNN 4.12.1948. 18 Vgl. StAK 1/H.-Reg./A 853. 19 Vgl. StAK 1/H.-Reg./2827. 20 Vgl. StAK 1/Bez. Verw. Amt/100. 21 Vgl. StAK 8/StS 13/824: Ansprache Kathinka Himmelheber vor dem Karlsruher Lyceumclub, S o m m e r 1951. 22 Die Geschichte der Karlsruher Frauengruppe wird eine ausführl iche Darstellung in der von der Autorin verfaßten Studie über die politische Partizipation Karlsruher Frauen in der Nachkriegszeit f inden, die voraussichtl ich 1999 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe erscheinen wird. 23 Auch im Folgenden BNN 12.10.1946. 24 Vgl. BNN 8.1.1948. 25 StAK 7/NI Riegger/64 und StAK 1/POA 1/2828. 26 Marta Schwarz: Die St imme. Erzählungen und Gedichte. Eggingen 1994, S. 17 f. 27 BNN 19.2.1960. 28 Ebenda. 43 44 Gertrud Hammann Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit den Menschen, die man als 'Höhepunkte des Lebens' bezeichnen kßnn.' 1 Gertrud Hammann kehrte 1949 als Landesfürsorgerin beim Evangel ischen Oberkirchenrat in ihre Geburtsstadt Karlsruhe zurück. 1955 übernahm sie die Geschäfts führung des Frauen­ werkes der Evangel ischen Landeskirche in Baden. In dieser Funktion prägte und gestaltete sie insbesondere die sozialen und gesellschaftsorientierten Arbeitszweige der Frauenarbeit. Das Kriegsende hatte sie 1945 in Montpellier erlebt. Von der nationalsozialistischen Rassepolitik außer Landes getrieben, verbrachte sie zehn J ahre ihres Lebens in Frankreich. Die Tat­ sache, einen jüdischen Vater zu haben, hatte ihr das Leben in Deutschland unmögl ich gemacht . Gertrud Hammann wurde am 28. Februar 1910 in Karlsruhe geboren . Eine Ehesch l i eßung ihrer evange l i schen Mutter Philippine Hammann , die von Beruf Modistin war, mit ihrem Vater Hugo Friedmann, dem Inhaber einer Heizungs- und Installationsfirma in Mannhe im, war nicht mögl ich, da dieser einer streng or thodoxen jüdischen Familie entstammte. Im Alter v o n 13 Monaten kam Gertrud H a m m a n n zu einer Pflegefamil ie nach Heidelberg und „... fand in diesem harmoni­ schen Familienkreis für immer ein Heim. " 2 Nach dem Absch luß der Volksschule und ihrer Konfirmation 1924 unternahm sie einen Versuch der Annäherung an ihre leibliche Mutter, der jedoch fehlschlug. Philippine Hammann hatte sich inzwischen in Bremen als Modistin selbständig gemacht . Die Tochter zog zu 45 ihr und besuchte die Haushaltungsschule. Mutter und Tochter fanden keinen Weg zueinander, und Gertrud Hammann ging als Haustochter in ein evangel isches Pfarrhaus. 1929 kam sie dann nach M a n n h e i m an das Mut terhaus für evange l i sche Kinderschwestern und Gemeindepf lege , w o sie 1931 ihr Kinder­ gärtner innen-Examen ablegte. Nach einer kurzen Probezeit in e inem Landkindergarten an der Bergstraße übernahm sie am 3. November 1932 die Leitung des Gemeindekindergartens in Neumühl bei Kehl. A ls 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, gehör­ te Gertrud H a m m a n n , die sich bis dahin wenig um Politik gekümmert hatte, nicht zu deren Gegnern. Die sozialen Ver­ sprechungen der neuen Machthaber - Beseitigung von Inflation und Arbeitslosigkeit, Unterstützung kinderreicher Familien - fand sie durchaus begrüßenswert . Doch die verstärkt einset­ zende antisemitische Propaganda setzte bei Gertrud Hammann eine Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Herkunft, aber auch mit Ant isemit ismen der christlichen Kirche in Gang. Später schrieb sie über jene Zeit: „Dazu [zu dieser Ause in ­ andersetzung] trugen NS-Zeitungen und Schriften bei, die mich lehrten, was das jüdische Volk für ein abscheuungswürdiges Volk, minderwertig und betrügerisch, sei. So manche freie Stunde und Sonntage verbrachte ich damit, die verzerrten Auslegungen der jüdischen Geschichte im /47[AltenTestament] diesen Zeitungen zu entnehmen. Ich war derart betroffen, daß ich selber glaubte, zugeben zu müssen, daß es eine Strafe Gottes ist, zu dieser Rasse zu gehören. Was mich aber über lange Zeit hinaus noch mehr bedrückte, war, daß ich als getauf­ ter Christ, in meiner Kindheit, in den Jugendjahren, in der evan­ gelischen Jugendbewegung gestanden, soviel von Gottes Güte 46 und Allmacht gehört und gelesen habe, von dem Herrn, der alle Menschen annimmt, [...] wie konnte mich die vorgenannte Lektüre für einige Zeit so umwerfen! Ja, es ging soweit, daß ich jede Predigt im Gottesdienst abtastete, ob nicht auch im kirch­ lichen Raum der Jude als Mensch abgewertet wird. " 2 In Neumühl war Gertrud H a m m a n n s jüdische Herkunft nicht bekannt, und so konnte sie zunächst ihre Arbeit im Kinder­ garten und mit der evangel ischen J u g e n d unbehell igt und von der G e m e i n d e allseits geschätzt fortsetzen. Als Anfang 1934 das Evangel ische J u g e n d w e r k in die Hitlerjugend überführt wurde, beschloß man in Neumühl , als Singkreis im Rahmen der örtli­ chen Kirchengemeinde wei terzumachen. So war es dann ihre Tätigkeit als evange l i s che Jugend le i t e r in und nicht ihre Herkunft, die Gertrud Hammann zuerst in Konflikt mit dem nationalsozialistischen Staat brachte. Nach einer Wanderung des Singkreises auf die Hornisgrinde, w o unter ihrer Mit­ wirkung ein Got tesd iens t gefeiert wurde , w u r d e Gertrud H a m m a n n von der Gestapo zu e inem Verhör vorgeladen. Den Vorwurf, staatsfeindliche Reden gehalten zu haben, konnte sie jedoch entkräften. Eines Tages im S o m m e r 1937 teilte ihr dann der Bürgermeister, d e m der Kindergarten unterstand, mit, daß sie sofort ihren Dienst zu beenden und den Kindergarten zu schl ießen habe. Die Anwe i sung hierzu war von der Kreisleitung in Kehl g e k o m m e n , da „jüdisch versippte Leute zur Erziehung der deutschen Jugend nicht fähig seien." 4 Damit wurde einem Erlaß des Reichserziehungsministers v o m 2. Jul i 1937 entsprochen, der die Beschäft igung von J u d e n und „jüdischen Mischl ingen" im Erziehungsbereich verbot.5 Gertrud Hammann m u ß denunziert 47 worden sein, denn ihre Vormundschaftsakten waren im Februar 1919 vernichtet worden , und die später weitergeführten Akten erhielten keinerlei Hinweis auf ihren Vater und somit auf ihre jüdische Herkunft.6 In der Geme inde Neumühl ließ man die beliebte Kinderschwester ke ineswegs gerne ziehen. Sie wurde im g e s c h m ü c k t e n Landauer an die Bahn gebracht und Bürgermeister J a k o b Gilg sandte ihr einen Brief nach, in dem er seine ab lehnende Haltung zu ihrer Entlassung, die er auf A n w e i s u n g der Kreisleitung hatte vol lziehen müssen , ver­ schlüsselt zu übermitteln suchte. Ganz offen versicherte er jedoch, daß „die gesamte Einwohnerschaft" ihren Wegzug „recht schmerzlich" bedauere, und er dankte ihr nochmals für ihre Arbeit „zum Wohle der Gemeinde". 7 Die Solidarität eines großen Teils der Einwohnerschaft Neumühls mit ihrer entlasse­ nen Kindergärtnerin demonstrierten vier Wochen später die Frauen der G e m e i n d e . Der Frauenverein nutzte se inen J a h r e s a u s f l u g , um Gertrud H a m m a n n zu b e s u c h e n , die zunächst ins Schwesternhaus nach Mannhe im zurückgekehrt und dort als „Büroschwester" tätig war. Etwa fünfzig Neu­ mühler Frauen machten g e m e i n s a m mit ihr einen Ausf lug zum Heidelberger Schloß, w o zur Erinnerung ein Gruppenfoto ange­ fertigt und ihr zum Absch luß ein Geschenk überreicht wurde. Doch auch hier war offensichtlich wieder Denunziation im Spiel. Kurze Zeit später wurde Gertrud Hammann erneut zu e inem Verhör bei der Gestapo vorgeladen und in der national­ soz ia l i s t i schen Zei tung Der Stürmer erschien das am Heidelberger Sch loß gefertigte Foto mit der Unterschrift: „Artvergessene deutsche Weiber besuchen eine Jüdin und las­ sen sich mit ihr fotografieren. " 8 Unter der Überschrift „Ein son­ derbarer Frauenverein" wurde das Handeln der Neumühler Frauen angeprangert. Während die Nationalsozialisten des 48 Ortes sich freuten, d a ß nach der Ent lassung Gertrud H a m m a n n s „... endlich der Weg für eine N.S.-Kindergärtnerin frei war", seien die Frauen des Neumühler Frauenvereins „(der dem Roten Kreuz angeschlossen ist)" schwer gekränkt: „Unter reichlichem Tränenfluß wurde die Jüdin von den Vorstands­ frauen zur Bahn geleitet. Das unglaublichste aber kommt noch. Diese sonderbaren deutschen Frauen boykottieren heute die N.S.-Kindergärtnerin, wo sie nur können. ... und jeder Kinder­ schüler bekommt das Bild der Jüdin geschickt." 9 Hiermit ist uns durch den Stürmer der Versuch einer Or tsgruppe des Badischen Frauenvereins vom Roten Kreuz überliefert, der national-sozialistischen Politik etwas entgegenzusetzen. A m 9. Dezember 1937 wurde der Badische Landesfrauenverein vom Roten Kreuz mit dem Reichsgesetz über das DRK offiziell auf­ gelöst.' 1 0 Von dieser Stelle aus läßt sich nicht sagen, welchen Weg die Neumühler Frauen nach dem Verbot gingen, sicher ist jedoch, daß Gertrud Hammann weiterhin Unterstützung aus Neumühl erhielt. Zunächst begann sie, „von den Nürnberger Rassegesetzen zum Lehramt und Erziehung unfähig erklärt",' 1' 1 beim Hessischen Diakonieverein in Darmstadt eine Ausb i ldung zur Kranken­ schwester. Ein ärztliches Gutachten des Gesundhe i t samtes Mannhe im über die Befähigung Gertrud H a m m a n n s zur Auf ­ n a h m e dieser Ausb i ldung belegt, in we lchem Maß die Men­ schen in Deutschland v o m nationalsozialistischen Rassenwahn ergriffen waren. Der zuständige Amtsarzt vermerkte auf die Frage, ob die Betreffende zum Beruf einer Schwester oder Fürsorgerin geeignet sei: „gesundheitlich ja, doch sieht sie sehr jüdisch aus.' n 2 In Darmstadt erhielt sie fast wöchentl ich Be­ suche von der Gestapo, woraufh in sich die anderen Schwestern 49 von ihr distanzierten. Die Oberin eröffnete ihr schließlich, daß Dozenten und Ärzte sie aus politischen Gründen für unzumut­ bar hielten. Sie brach die Ausbildung ab. Doch was sollte sie weiterhin tun, wie ihre Existenz sichern? Eine Arbeit in Fabrik oder Büro aufzunehmen, war ebenfalls nicht möglich, da ihr die Deutsche Arbeitsfront die dafür notwendige Mitgliedschaft ver­ weigerte.13 Der Neumühler Ortspfarrer Frischmann vermittelte ihr schließlich eine Aufenthaltsmöglichkeit im Haus Bethesda, einem Kurhaus im Besitz der Rüschlikoner Bruderschaft bei Badenweiler. Polizeilich nicht gemeldet, ohne offizielle Arbeitserlaubnis, konnte dies kein Aufenthaltsort von längerer Dauer sein. Hier erreichten sie die Briefe ihres Vaters, der in Mannheim selbst in eine immer bedrängtere Lage geriet und ihr deshalb nur gelegentlich eine geringe materielle Unter­ stützung zukommen lassen konnte. Er riet ihr dringend, nach Frankreich zu emigrieren: „Also immer Gottvertrauen, es gibt einen Ausweg. " u Diesen Ausweg fanden die „stets treugebliebenen Gemeinde­ mitglieder in Neumühl."' 1 5 Sie vermittelten ihr den Kontakt zur Oberin des elsässischen Diakonissenmutterhauses von Bisch- willer, die ihr einen Eintritt in die Schwesternschaft anbot. Gertrud Hammanns Ablehnung sollte sich als richtig erweisen, wurde doch Bischwiller im Jahr darauf von den Deutschen besetzt. Die Oberin vermittelte sie weiter an eine ihr bekannte elsässische Familie in Montpellier im Süden Frankreichs, wo sie sich als Hilfe der gelähmten Hausfrau sowie Erzieherin und Deutschlehrerin der beiden Söhne betätigte. Eine Aufenthalts­ genehmigung erhielt sie nur durch den Nachweis, keiner bezahlten Arbeit, sondern Studien nachzugehen. Die Familie konnte ihr auch nicht mehr als ein Taschengeld von monatlich 50 100 Francs geben. Alleine für die Aufenthaltsgenehmigung mußte sie jedoch schon 200 Fr. bezahlen, 125 Fr. für den Transport ihres Gepäcks. So begann sie ihre Zeit in Frankreich mit finanziellen Sorgen, die sie während ihres gesamten Aufenthaltes begleiten sollten. Dennoch empfand sie eine ge­ wisse Erleichterung. „Das war eine schreckliche Zeit vor mei­ nem Hiersein, die dauernde Angst.", schrieb sie nach ihrer Ankunft im August 1938 an ihre Pflegefamilie nach Heidel­ berg.16 Zunächst hatte sie Schwierigkeiten, die Sprache zu ver­ stehen, aber ihr Wille zu lernen, war groß. Im Oktober 1938 begann sie am Konservatorium von Montpellier Gesang zu studieren. Doch es war ihr nur eine kurze Atempause gegönnt. Im Mai 1940 wurden mit Beginn des Frankreichfeldzuges die in Frankreich lebenden Deutschen, darunter viele Juden, interniert (s. S. 22). Gertrud Hammann kam zunächst in das Lager Lodere, von wo aus sie nach einigen Wochen in das Camp de Gurs ver­ legt wurde. Ende Oktober 1940 trafen neue Transporte in Gurs ein: die am 22. und 23. Oktober in Baden und der Pfalz verhaf­ teten Juden.17 Zunächst fehlte es für die neuangekommenen Deportierten an Stroh und Medikamenten. Wenige Tage nach ihrer Ankunft brach im Lager eine Ruhrepidemie aus, an deren Folgen viele der ohnehin geschwächten Lagerinsassen starben. Gertrud Hammann kümmerte sich um die Kinder, deren Mütter dazu nicht mehr die Kraft hatten. Gespräche mit den Menschen im Lager halfen ihr, gegen die Verzweiflung anzukämpfen, doch empfand sie als Christin jüdischer Herkunft auch immer wieder eine tiefe Einsamkeit: „Es waren fast alles jüdische Frauen, die am Freitagabend zu Sabbatbeginn ihre mitgebrachten Lichter anzündeten und ihre Gebete verrichteten. Damals waren wir noch weit davon entfernt, gemeinsam Psalmen in deutscher 51 Sprache zu beten. So war ich auch hier als evangelischer Christ nicht an- und aufgenommen. "18 Im Dezember 1940 gelang es ihr schließlich, das Lager zu verlassen. Der Leiter des Kon ­ servator iums von Montpellier, der Kommun i s t war, bürgte für sie. Nach Wiederherstel lung ihrer Gesundheit , die im Lager von Gurs gelitten hatte, nahm sie ihre Studien am Konservator ium wieder auf. Daneben begann sie an e inem der Universität Montpellier angesch lossenen Institut für Aus länder Französisch zu lernen. Im April 1941 nahm sie eine Stelle als Gouvernante in der nahe gelegenen Hafenstadt Sete an, doch hatte sie dort keine Möglichkeit zu studieren und kehrte deshalb bald wieder nach Montpellier zurück. „Mein Ziel war von nun an soviel als möglich zu lernen, um bereit zu sein, als Lehrerin in der deut­ schen Jugend zu arbeiten. "19 Neben der existenzsichernden Arbeit als Haushaltshilfe bereitete sie sich auf das Examen an der Fakultät für Aus länder vor, das zum Eintritt in die Uni­ versität berechtigte. In den fo lgenden Jahren erwarb sie an der Fakultät für Literatur ein Dip lom, das zum Unterrichten in fran­ zösischer Sprache und Kultur befähigte und legte eine Reihe weiterer Prüfungen in Sprache, Literatur und Philologie ab. Schließlich erhielt sie ein St ipendium der Universität. Auch am Konservator ium erwarb sie eine Reihe von Zertifikaten. Da sie kein Abitur hatte, war es ihr jedoch nicht mögl ich ein ab­ schl ießendes Universitätsdiplom zu erlangen. Ihr Drang zu lernen, war jedoch ungebrochen und so nahm sie am psycho­ l og i s ch -pädagog i schen Institut der Universität Studien in Erziehungswissenschaft auf. Vielleicht haben sie ihr Wissens ­ durst, ihre Lernbegierde über die Einsamkeit hinweggetröstet und ihr das Überleben gesichert. 52 Das Kriegsende erlebte Gertrud Hammann in Montpellier. Erleichtert, daß die ständige Gefahr endlich vorüber war, emp­ fand sie doch nicht die überschäumende Freude wie ihre fran­ zösischen Kommilitonen, denn sie fühlte zugleich eine Verbundenheit mit Deutschland, aus dem sie hatte fliehen müs­ sen. So war sie ständig hin- und hergerissen zwischen den Welten, Christentum - Judentum, Deutschland - Frankreich, nirgendwo ganz zugehörig. „Ich komme mir so entwurzelt vor.", schrieb sie im Juli 1946 aus Paris an ihre Familie nach Heidelberg.20 Sie war bei Kriegsende in Frankreich geblieben, um ihre pädagogischen Studien abzuschließen und absolvierte in einem Pariser Erziehungsheim ein Praktikum. 1947 kehrte Gertrud Hammann nach Deutschland zurück. Ihre Hoffnungen, als Sprachlehrerin tätig sein zu können, zerschlu­ gen sich, da man ihr hier das französische Diplom nicht aner­ kannte. Sie, die zehn Jahre in Frankreich gelernt und studiert hatte, erhielt dafür keine Anerkennung und mußte erneute Studien und Prüfungen absolvieren. Im Frühjahr 1948 legte sie an der Evangelischen Sozialen Frauenschule in Freiburg das Staatsexamen ab. Zunächst nahm sie eine Tätigkeit als Fürsorgerin des Hilfswerks der evangelischen Landeskirche Baden in Offenburg auf, wo sie Flüchtlinge und Vertriebene betreute. Gertrud Hammann wurde zwar offiziell als Verfolgte des Naziregimes anerkannt, eine materielle Wiedergutmachung wurde ihr jedoch verweigert. Neun Jahre Auslandsaufenthalt in größter Unsicherheit und Armut, sieben Monate Internierung in Gurs, der Verlust von Möbelstücken und Sachwerten, die sie in Neumühl zurücklassen mußte sowie zehn Jahre ausgefallener 53 Versicherungsleistungen waren die - materielle - Bilanz, die das nationalsozialistische Regime in ihrem Leben hinterlassen hat. Der bundesrepubl ikanische Staat hielt es nicht für ange­ bracht, ihr hierfür wenigstens eine geringe materielle Ent­ schädigung zukommen zu lassen. Das Landesamt für Wieder­ gutmachung Karlsruhe bezog sich alleine auf die Internierung in Gurs, die doch nicht durch die Nationalsozialisten sondern von den französischen Behörden veranlaßt worden sei. Hier habe es sich um „... kriegsbedingte französische Sicherheits­ akte gegenüber einer feindlichen Ausländerin" gehandelt . „Derartige Maßnahmen entsprechen rechtsstaatlichen Begrif­ fen und völkerrechtlich anerkannten Gepflogenheiten." 2' 1 Sie hat darauf nicht mit Verbitterung oder Resignation reagiert. Ihre Lebensgeschichte hatte sie gelehrt, auf eigenen Füßen zu stehen, sich durchzusetzen und vorwärts zu gehen. Im März 1949 kam Gertrud Hammann als Landesfürsorgerin beim Evangel ischen Oberkirchenrat in Baden nach Karlsruhe. H i e r n a h m s i e sich auch der Wiederbe lebung der evangel ischen Jugendverbandsarbe i t an und engagierte sich insbesondere in der Jugendarbe i t an der Lutherkirche. Im Februar 1955 über­ nahm sie schließlich die Geschäfts führung der Frauenarbeit in der evangel ischen Landeskirche Badens, die sie bis zu ihrer Pensionierung im Oktober 1971 ausübte. Arbeitsweise und Strukturen der evangel ischen Frauenarbeit sind bis heute ganz wesentl ich von Gertrud H a m m a n n geprägt. Sie führte hier als einziges Werk der Landeskirche eine Teamleitung ein. Zwei Frauen, eine Sozialarbeiterin und eine Theologin , verantworten g e m e i n s a m die Geschäf ts führung. Die Arbeit der Mütter­ genesung , bis heute stärkster Arbeitsbereich der evangel ischen Frauenarbeit in Baden, wurde unter ihrer Leitung wesentl ich 54 ausgebaut.22 1956 initiierte sie die Gründung des „Evange­ lischen Dorfhelferinnenwerkes". Besonders nahm sie sich der Frauen über 60 Jahren an und richtete für sie Erholungskuren ein. Neben diesen sozialen Arbeitsbereichen war ihr auch das Mitwirken der Frauen in Kirche und Gesellschaft ein Anliegen. Sie führte staatsbürgerliche Tagungen für Frauen sowie Schulungen für weibliche Kirchenälteste durch. Mütter­ schulungen, Freizeiten für Berufstätige und kunstgeschichtliche Freizeiten in Frankreich waren Aktivitäten, denen sie sich auch nach ihrer Pensionierung weiterhin widmete. Die lebhafte, selbstbewußte und durchsetzungsfähige Frau verstarb am 12. Juni 1990 in Karlsruhe. 1 Gertrud Hammann zit. nach Doris Eck. Im Zuge der Forschungsarbeiten der Verf. zur politischen Partizipation von Frauen in Karlsruhe nach 1945 überließ Frau Eck freundl icherweise dem Stadtarchiv Karlsruhe Unterlagen aus dem Nachlaß von Gertrud Hammann sowie einen biographischen Abriß. Die fo lgenden Informationen wurden, soweit nicht ausdrücklich anderweitig gekennzeichnet, diesen Unterlagen e n t n o m m e n . 2 Handgeschriebener Lebenslauf aus d e m NL Gertrud Hammann (s. A n m . 1). 3 Zit. n. J ö rg Thierfelder: Leben in gefährlicher Zeit. Gertrud Hammann im Dritten Reich, in: Erziehen im Glauben. Bernhard Mauerer zum 60. Geburtstag. Karlsruhe 1989 (=Beiträge päd. Arbeit, Sonderbd.) , S. 87-98, hier S. 88. 4 Lebenslauf (wie A n m . 2). 5 Vgl. Thierfelder (wie A n m . 3), S. 90. 6 Vgl. Schreiben des Amtsger ichtes Mannhe im v o m 10.6.1947 im NL Gertrud H a m m a n n (wie A n m . 1). 7 Schreiben J a k o b Gilg, Bürgermeister von Neumühl , v o m 7.7.1937 im NL Gertrud H a m m a n n (wie A n m . 1). 8 Auch im Folgenden Der Stürmer, Jg. 15 (1937), Nr. 40. 9 Ebenda. 10 Vgl. Susanne Asche , Barbara Gut tmann, Olivia Hochstrasser, Sigrid Schambach , Lisa Sterr: Karlsruher Frauen 1715-1945. Eine Stadtgeschichte. Karlsruhe 1992 ^Veröffent l ichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bad. 15), S. 328-332. 11 Lebenslauf (wie A n m . 2). 12 Ärztliches Gutachten des Staatl. Gesundhe i t samtes Mannhe im v o m 5. Oktober 1937 im NL Gertrud Hammann (wie A n m . 1). 13 Vgl. Schreiben der Deutschen Arbeitsfront v o m 23.11.1937 im NL Gertrud Hammann (wie A n m . 1). 55 14 Schreiben Hugo Friedmanns vom 19.3.1938; des weiteren vom 26.1.; 28.2.; 7.4. und 9.4.1938 im NL Gertrud Hammann (wie Anm. 1). Ob Hugo Friedmann selbst flüchten konnte und den Nationalsozialismus überlebte, war leider nicht mehr in Erfahrung zu bringen. 15 Lebenslauf (wie Anm. 2). 16 Schreiben Gertrud Hammanns vom 16.8.1938 im NL Gertrud Hammann (wie Anm. 1). 17 Vgl. Gurs gestern - Gurs heute. Dokumentation Jugendworkcamp Gurs 1996. Hrsg. v. Stadtjugendausschuß Karlsruhe. Karlsruhe 1997. 18 Gertrud Hammann, zit. n. J. Thierfelder (wie Anm. 3), S. 96. 19 Lebenslauf (wie Anm. 2). 20 Schreiben Gertrud Hammanns vom 22.7.1946 im NL Gertrud Hammann (wie Anm. 1). 21 Bescheid des Landesamtes für Wiedergutmachung Karlsruhe vom 27.7.1960 im NL Gertrud Hammann (wie Anm. 1). 22 Vgl. auch im Folgenden 40 [Vierzig] Jahre evangelische Frauenarbeit in Baden 1916-1956. Ein Rechenschaftsbericht. 56 Kathinka Himmelheber Vorwärtsgehen in die schwere Zukunft Kathinka Himmelheber hatte im Frühjahr 1945 den festen Wil len, am Neuaufbau mitzuarbeiten. „Es sind so viele gute Kräfte da, es gibt so viele wertvolle, gescheite und tatkräftige Frauen, warum sollten sie keinen Einfluß gewinnen können?", schrieb sie an eine nach Israel emigrierte Freundin.1 Es war ihr ein Anl iegen, an die Tradition der deutschen Frauenbewegung vor 1933 anzuknüpfen und deren Programmatik den Erforder­ nissen der Gegenwart anzupassen. Sie wollte den Frauen Mut machen zum „Vorwärtsgehen in die schwere Zukunft". So war es nur folgerichtig, daß sie 1946 z u s a m m e n mit anderen poli­ tisch aktiven Frauen wie Luise Riegger (s. S. 93) und Elisabeth Großwendt (s. S. 32) die Karlsruher Frauengruppe gründete, deren Erste Vorsitzende sie wurde.2 Kathinka Himmelheber war bereits in ihrer J u g e n d durch ein weltof fenes, demokratisch gesinntes Elternhaus geprägt wor ­ den. Sie wurde am 16. Mai 1898 als Tochter des Regierungs- a s sesor s Max Herrmann und seiner Ehefrau Marguer i te Chevalley, einer französischen Schweizerin, in Karlsruhe gebo ­ ren. Von 1905 bis 1917 besuchte sie die Viktoriaschule, ein pri­ vates „Töchter-Institut". Wie etliche andere Frauen der Karls­ ruher Frauenbewegung absolvierte sie sodann das Lehre­ rinnenseminar. Ihren eigentlichen Berufstraum verwirklichte sie jedoch nach dem Lehrer innenexamen 1918 mit dem Eintritt als Anwärterin für den mittleren Bibliotheksdienst an der Tech­ nischen Hochschule. 1921 volontierte sie jewei ls zwei Monate 57 an der Nationalbibliothek in Wien , der Universitätsbibliothek München und der Deutschen Bücherei Leipzig. Im Frühjahr 1926 heiratete Kathinka Herrmann den Architekten Bernhard Himmelheber. Er war ein Sohn eines der bekannten Möbel ­ fabrikanten Gebrüder H immelheber und übernahm später g e m e i n s a m mit se inem Bruder diese Firma. Seine Mutter Luit­ gard Himmelheber war die Vorsitzende des Vereins Frauen­ bildung - Frauenstudium und gehörte 1919, als Mitglied der Deutschen Demokrat ischen Partei (DDP), zu den ersten zehn weibl ichen Stadtverordneten Karlsruhes.3 Kathinka Himmel­ heber schied nach ihrer Verheiratung aus dem Bibliotheks­ dienst aus. 1927 und 1929 gebar sie zwei Söhne . In jenen Jahren verfolgte sie die politische Entwicklung in Deutschland mit Besorgnis. Da sie Hitlers Mein Kampf gelesen hatte, war sie sich über die Absichten der Nationalsozialisten nicht im Unklaren. Für sie war es durchaus vorhersehbar, daß die Nazis einen Krieg v o m Zaun brechen würden. Ihr Sohn, Georg Himmelheber, erinnert sich, daß seine Eltern ihn und seinen Bruder, damals elf und neun J ahre alt, nach dem Novemberprogrom 1938 über das verbrecherische System und ihre innere Gegnerschaft dazu aufklärten.4 Kathinka Himmel­ heber erlebte den Abtransport einer ihrer besten Freundinnen, Else Kapp, und deren Mann nach Gurs. Else Kapp konnte jedoch später fl iehen und nach Israel auswandern , von w o aus sie den Kontakt aufrecht erhielt. Der Krieg brachte die Einberufung Bernhard Himmelhebers und die zeitweise Evakuierung Kathinka Himmelhebers und ihrer Söhne nach Tübingen. Bei e inem Luftangriff am 3. September 1942 wurde die Möbelfabrik Himmelheber fast vol lständig ver- 59 nichtet. Infolge des kriegsbedingten Persona lmange ls war Kathinka Himmelheber als Buchhalterin in die Firma eingetre­ ten. Gegen Ende des Krieges, als beide Firmeninhaber zum Volkssturm eingezogen waren, führte sie die Geschäfte selb­ ständig weiter und brachte die Fabrik wieder in Gang. A l s Buchhalter in der Firma Gebr. H i m m e l h e b e r und als Hausfrau und Mutter hatte Kathinka Himmelheber, wie die mei­ sten Frauen, in jenen Monaten ein gewalt iges Arbe i tspensum zu bewältigen. Dennoch war es ihr ein Anl iegen, am demokra­ tischen Neuaufbau mitzuwirken. Es war ihre Überzeugung, „wenn Männer und Frauen gleichberechtigt und gemeinsam alle Fragen menschlichen Zusammenlebens zu lösen versuchen [...], dann ist es nicht nur freiwillige Aufgabe, sondern geradezu Pflicht aller Frauen, sich mit den Fragen des menschlichen Zusammenlebens, also mit Politik im weitesten Sinne, zu befas­ sen." 5 Im F r ü h s o m m e r 1946 bereitete sie desha lb mit Luise Riegger, Elisabeth Großwendt und ca. zehn weiteren interessierten Frauen die Gründung einer überkonfessionel len und überpartei l ichen Frauenorgan isa t ion vor. Bei der Gründungsverans ta l tung der Karlsruher Frauengruppe am 17. Oktober 1946 äußerte sie in ihrem Eröffnungsreferat die Überzeugung, „... daß ein Fernbleiben vom öffentlichen Leben heute für die Frauen nicht mehr vertretbar ist. " 6 Solche überparteil ichen Frauengruppen gründeten sich im Laufe der J a h r e 1945/1946 in vielen deutschen Städten, zunächst unabhängig voneinander. Im April 1947 beschlossen dann bei e inem Treffen in Heidelberg die in Nordbaden beste­ henden Gruppen, sich zu e inem Landesverband z u s a m m e n ­ zuschließen. Es folgten bald überregionale Treffen. Kathinka 60 Himmelheber nahm für die Karlsruher Frauengruppe an sämt­ lichen wichtigen Frauenkongressen der ersten Nachkriegsjahre teil. Im Mai 1947 begegnete sie beim ersten interzonalen Frauentreffen in Bad Boll den bedeutenden Vertreterinnen der alten Frauenbewegung, A g n e s von ZahnHarnack, Marie Elisa­ beth Lüders und Dorothee von Velsen. Einen Monat später, im Jun i 1947, kehrte sie tief beeindruckt v o m Gründungskongreß des Frauenrings der britischen Besatzungszone in Bad Pyrmont zurück. Im Jul i 1948 beteiligte sie sich an der Gründung der Arbeitsgemeinschaft der überparteilichen Frauen-Organisa­ tionen in der U. S. Zone. Dieser Dachverband sollte den Einfluß der Frauen in der Gesellschaft stärken und ihre Mitarbeit im öffentlichen Leben erleichtern. Zur Förderung des Friedens­ gedankens sollten internationale Kontakte mit Frauenorganisa­ tionen geknüpft werden. Kathinka Himmelheber war der Über­ zeugung, daß es „nach dem grauenhaften Morden in zwei Weltkriegen" für die Frauen eine unbedingte Notwendigkeit geworden sei, dafür einzutreten, daß der Krieg als Mittel der Politik ausgeschaltet werde.7 Sie wurde in den A u s s c h u ß Völkerfrieden der Arbei tsgemeinschaft gewählt . Nach Gründung der Bundesrepubl ik Deutschland schlössen sich die verschiedenen überparteilichen Frauenorganisationen der drei Westzonen zum Deutschen Frauenring zu sammen . Kathinka Himmelheber nahm für die Karlsruher Gruppe an der Gründungsversammlung v o m 7. bis 10. Oktober 1949 in Bad Pyrmont teil. Die Frage der Friedenssicherung war ihr auch wei ­ terhin ein wichtiges politisches Anl iegen. Ihre Tätigkeit im A u s s c h u ß Völkerfrieden sowie im Deutschen Frauenring brach­ te sie mit engagierten Kriegs- und Atomwaf fengegner innen z u s a m m e n . Sie knüpfte Kontakte zu Dorothy T h o m p s o n von 61 der Organisation W.O.M.A.N (World Organisation of Mothers of All Nations) sowie mit der Physikerin Dr. Freda Wuesthoff, die die überparteiliche Frauenorganisation in der französischen Besetzungszone gegründet hatte und den überparteilichen Frauenring in Baden-Baden sowie dem gesamten Südbaden leitete8. Die indifferente Haltung, die jedoch viele der im Deutschen Frauenring organisierten Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung in der Frage der deutschen Wiederbewaff­ nung einnahmen, enttäuschte Kathinka Himmelheber. Sie zog sich zunehmend aus der Vorstandsarbeit der Frauengruppe zurück. Mit Freude und Engagement richtete sie in dieser Zeit jedoch innerhalb der Künstlerinnenvereinigung GEDOK in Karlsruhe die Abteilung Kunstfreundinnen ein. In ihrer Jugend durch einen musikalischen Vater geprägt, wandte sie sich nach dem Tod ihres Ehemanns 1967 wieder ver­ mehrt der Musik zu. Sie verfolgte die neuesten Entwicklungen der Musikkultur, besuchte regelmäßig die Donaueschinger Musiktage und pflegte Kontakte zu jungen Karlsruher Komponisten und Musikwissenschaftlern. Zeitgenossinnen ist sie als eine weltgewandte, kulturell bewanderte Dame in Erinnerung, in deren Haus namhafte Persönlichkeiten der Kunst- und Kulturszene verkehrten. Kathinka Himmelheber ver­ starb am 9. Dezember 1977 in Bad Bellingen. 1 Auch im Folgenden Kathinka Himmelheber zur Gründung der Karlsruher Frauen­ gruppe am 17. Oktober 1946, StAK 8/StS 13/823. Im Zuge der Forschungsarbeiten d. Verf. zur politischen Partizipation von Frauen in Karlsruhe nach 1945 überließ Kathinka Himmelhebers Sohn Dr. Georg Himmelheber, München, freundlicherweise dem Stadtarchiv Karlsruhe Unterlagen aus dem Nachlaß seiner Mutter sowie einen biographischen Abriß. Die folgenden 62 Informationen wurden, soweit nicht ausdrücklich anderweitig gekennzeichnet, die­ sem e n t n o m m e n . 2 Die Geschichte der Karlsruher Frauengruppe wird eine ausführl iche Darstellung in der von der Autorin verfaßten Studie über die politische Partizipation Karlsruher Frauen in der Nachkriegszeit f inden, die voraussichtl ich 1999 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe erscheinen wird. 3 Vgl. Susanne Asche , Barbara Gut tmann, Olivia Hochstrasser, Sigrid Schambach , Lisa Sterr: Karlsruher Frauen 1715-1945. Eine Stadtgeschichte. Karlsruhe 1992 (Veröffentl ichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bad. 15), S. 299. 4 StAK 8/StS 13/823. 5 Rede von Kathinka Himmelheber vor dem Karlsruher Lyceumclub, S o m m e r 1951. StAK 8/StS 13/824. 6 Auch im Folgenden ebenda. 7 Ebenda. 8 Vgl. Die Welt der Frau. Hrsg. v. Annemar ie Weber. Stuttgart, Jul i 1947 und März 1948. 63 64 Hanne Landgraf „Man ist einfach gebraucht worden..." Hanne Landgraf gehörte 1945 zu den „Frauen der ersten S tunde" , deren rasche Hilfe beim Wiederaufbau der städti­ schen Verwaltung nicht aktenkundig wurde , da sie ehrenamt­ lich erfolgte. Wenn wir einen Blick in die städtischen Akten jener Zeit werfen, so ist dort meist nur von Männern die Rede, die durch ihre sicher aufopferungsvol le , aber immerhin bezahl­ te Arbeit das zusammengebrochene städtische Geme inwesen wieder in Gang brachten und somit das Überleben in den ersten Nachkr iegswochen s icherten. O h n e die tatkräftige Unterstützung vieler Frauen wäre dies jedoch nicht möglich gewesen . Nach der Besetzung Karlsruhes durch die Franzosen wurde die Stadt in 16 Verwaltungsbezirke eingeteilt, die jeweils e inem Bezirksvorsteher unterstellt waren. Verwaltungsleiter für den Bezirk Innenstadt-Ost wurde der Sozia ldemokrat Karl Siebert, Hanne Landgrafs Vater.1 Er bezog Anfang Mai2 1945 ein Büro im ehema l i gen jüd i schen G e m e i n d e z e n t r u m in der Kronenstraße. Hanne Landgraf half mit, die Räume in einen benutzbaren Zustand zu bringen und erledigte Schreibarbeiten. „Es wurden KZ-Häftlinge und heimkehrende Soldaten betreut, Lebensmittelkarten ausgeteilt, Wohnungen vermittelt, Woh­ nungseinrichtungen und Kleider verteilt. " 3 Viele Frauen wirkten in jenen Jahren des Au fbaus im Hintergrund, den Schritt in politische Entscheidungsgremien vol lzogen jedoch die wenig ­ sten. Zu ihnen gehörte Hanne Landgraf, die 1953 in den Stadtrat gewählt wurde. Sie selbst bemerkt dazu: „Eigentlich kann ich 65 nichts dafür, daß ich in die Politik hineingeschliddert bin. Ich wurde in eine politische Familie hineingeboren. " 4 Hanne Siebert wurde am 14. Oktober 1914 als erstes der insge ­ samt sechs Kinder des Schlossers Karl Siebert und seiner Frau Frieda geboren. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren zur Zeit des Sozial istengesetzes aus Thüringen ausgewiesen wor­ den. In der Karlsruher Südstadt fanden sie eine neue Heimat und bauten ein Hausha l t swarengeschä f t auf. A u c h die Großeltern väterlicherseits waren Sozialisten. Die Eltern lernten sich im Arbeiterturnverein, den Freien Turnern, kennen. So w u c h s Hanne mit ihren Geschwistern in e inem von der soziali­ stischen Arbe i terbewegung geprägten Milieu auf.5 A ls älteste war sie ihrer Mutter, die im großelterlichen Geschäft arbeitete, e ine w icht ige Stütze. Die Freizeit war knapp b e m e s s e n . Dennoch nahm der Arbeitersport im Leben der ganzen Familie, auch der Mutter, die beim ersten Frauenturnen aktiv mitwirkte, einen wichtigen Raum ein. Bereits im Alter von sechs Jahren turnte Hanne mit, später leitete sie selbst das Kinderturnen. 1931 übernahm die Familie Siebert die Kantine der Freien Turnerund zog in den Hardtwald. 1929 hatte Hanne Siebert die Schule beendet, jedoch trotz guter Noten keine Lehrstelle gefunden. Sie arbeitete zunächst in verschiedenen Firmen als Aushi l f skraf t und belegte Kurse in S tenograph ie und Masch inenschre iben . Dies verhalf ihr schließlich zu einer Anstel lung als Schreibkraft bei der Gewerkschaft.6 Die A u s w i r k u n g e n des Verbots und der Ver fo lgung der Arbe i terbewegung nach der nationalsozial ist ischen Macht­ übernahme 1933 trafen die Familie Siebert empfindl ich. Karl Siebert, der als Maschinenschlosser in der Hauptwerkstatt der 66 Reichsbahn arbeitete und stellvertretender Betriebsrats­ vorsitzender war, wurde mehrfach verhaftet und verlor seine Arbeit. Am 2. Mai 1933 besetzte die SA in ganz Deutschland Häuser und Betriebe der Freien Gewerkschaften. Hanne Siebert erlebte das in Karlsruhe: „... es war furchtbar. Ich war die jüng­ ste im ganzen Haus. Im ganzen Haus stand hinter jedem Stuhl ein SA-Mann, und dann solche dreckigen Rüpel!" 7 Im Juni erhielt sie ihre fristlose Entlassung wegen „politischer Un- zuverlässigkeit". Mit der Arbeitslosigkeit des Vaters und der ältesten Tochter war der Familie Siebert die materielle Existenzgrundlage genommen. Die Situation verschlimmerte sich noch, als im Zuge der „Gleichschaltung" der Sportvereine die SA Sportplatz und Kantine der Freien Turner im Hardtwald beschlagnahmte und die achtköpfige Familie auch ihre Wohnung verlor. Einer der Turner wußte in allerletzter Minute Abhilfe, und man fand eine Wohnung in der Durlacher Straße. Es war eine schwierige Zeit, in der Hanne Siebert am eigenen Leib erfuhr, was Arbeitslosigkeit bedeutet: „Da verarmt eine Familie bis auf die Knochen." 8 Einen Mantel teilte sich ihre Mutter mit ihr und ihrer jüngeren Schwester. Die Findigkeit der Mutter, das im eigenen Garten angebaute Gemüse, die im Wald gesammelten Beeren und Pilze halfen, zu überleben. Trotz stän­ diger Bespitzelungen hielt das Netz der sozialdemokratischen Kontakte. Die Genossen besuchten sich weiterhin gegenseitig, führten politische Gespräche und unternahmen an den Wochenenden gemeinsame Ausflüge. 1936 fand Hanne Siebert schließlich eine Anstellung als Sekretärin beim Dentaldepot Emil Huber, wo sie bis zum Kriegsende arbeitete. Im Juli 1942 heiratete sie Rolf Landgraf, der seit 1939 als Soldat eingezogen war und erst 1948 aus der 67 Gefangenschaft zurückkehren sollte. Bei Kriegsende war sie schwanger und gebar Ende Juli 1945 eine Tochter. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits als Hilfe ihres Vaters bei der Bezirksverwaltungsstelle Innenstadt-Ost in der Kronenstraße tätig. „Ich habe zu meinem Vater gesagt, daß ich eigentlich ein­ mal frei haben müßte, andere Mütter bekämen Wöchne­ rinnenzeit. Ich bin jeden Tag mit in die Kronenstraße gegan­ gen", erinnert sie sich.9 Die rasch mit dem Fahrrad herbeige­ holte Hebamme Reifenberg und ein gerade wieder aus der Gefangenschaft zurückgekehrter Arzt standen ihr bei der Ge­ burt bei. Da sie im selben Haus wie die Eltern wohnte und ihre Mutter das Kind versorgte, war es Hanne Landgraf möglich, weiterhin beim Aufbau der Stadt mitzuarbeiten. Motiviert hier­ zu haben sie die Erfahrungen von Not und Verfolgung, aber auch die Zugehörigkeit zu einem sozialdemokratisch geprägten Umfeld, in dem es selbstverständlich war, sich gesellschaftlich zu betätigen, um die Lage der arbeitenden Menschen zu ver­ bessern. Eines Tages kam Kunigunde Fischer, vor 1933 Stadtverordnete, Mitglied des badischen Landtags und Vorsitzende der Arbeiter­ wohlfahrt Karlsruhe (s. S. 16), mit zwei anderen Frauen zum SPD-Mann und Bezirksverwalter Siebert, um die Wieder­ gründung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) zu besprechen. Diese erfolgte im Februar 1946, zunächst, entsprechend dem Ver­ langen der Militärregierung, unter dem Namen Sozialistische Volkswohlfahrt. Den Vorsitz übernahm Karl Siebert, Fischer wurde zweite Vorsitzende. Hanne Landgraf, die zur ersten Ver­ sammlung gegangen war, ohne eine aktive Beteiligung im Sinn zu haben, wurde zur Kassiererin gewählt. 25 Jahre blieb sie ehrenamtliche Hauptkassiererin der AWO. Daneben war sie 68 Helferin, ab 1948 verantwortl iche Organisatorin der Kinder­ erholung im Waldhe im, w o bis zu 500 durch Krieg und Hunger geschwächte Kinder zu betreuen waren. Bis Oktober 1949 leite­ te sie des weiteren die Ausgabeste l le des Liebesgabendienstes Col is -Suisse des Schweizerischen Arbeiterhilfswerkes Zürich, eine Schwesterorganisat ion der A W O . Im März 1946 trat Hanne Landgraf in die SPD ein. „Ich habe dabei nie daran gedacht, in die Politik zu gehen", sagt sie selbst.10 Doch sie wurde gleich 1946/47 Mitglied des neu kon­ stituierten städtischen Jugendwoh l fahr t s - und des Schulaus­ schusses . „Die SPD hat gesagt, daß ich das machen kann, weil ich ja sowieso bei der AWO war."^ Und da sie schon als Ver­ treterin in e inem städtischen Gremium saß, beschloß die SPD 1947 ihre Kandidatur zum Stadtrat. „Sie wollten für die Liste noch eine Frau. " n Auf Platz 23 hatte sie jedoch wenig Chancen, gewählt zu werden. Dies kam ihr entgegen, denn sie wollte sich lieber auf ihre Tätigkeit bei der A W O konzentrieren. „ 7953 konn­ te ich dann nicht mehr kneifen.", erinnert sie sich.13 Inzwischen hatte sie durch ihre AWO-Tätigkeit in der Stadt einen solchen Bekanntheitsgrad erreicht, daß sie auf Anh ieb gewählt wurde.1 4 Auch im Gemeinderat galt ihr besonderer Einsatz sozialen Fragen. Einen ihrer ersten erfolgreichen Kämpfe focht sie hier um Zuschüsse für Kindergärten. Als Kassiererin der A W O wußte sie, welch großen Prozentsatz ihres Gesamtbudgets die Führung der Kindertagesstätte verschlang. Es war kein Geld da zur Eröffnung neuer Kindergärten, die dringend gebraucht wur­ den, da viele Frauen infolge des Krieges Wi twen geworden waren und erwerbstätig sein mußten. Hanne Landgraf forderte, daß die A W O , deren Vermögen ja von den Nazis enteignet wor­ den war, bei der W a h r n e h m u n g dieser Aufgaben von der Stadt 69 finanziell unterstützt werden solle. Sie erinnert sich, daß ihr Parteigenosse und späterer Oberbürgermeister Günter Klotz die Meinung vertreten habe, die Kinder sollten lieber ihren Müttern am Rockzipfel hängen, statt in den Kindergarten fort­ gegeben zu werden. Hanne Landgraf insistierte aber auf der soz ia lpädagogischen Au fgabe der Kindergärten und erreichte schl ießl ich , d a ß sämt l i che Woh l f ahr t so rgan i sa t i onen , die Kindergärten betrieben, hierfür städtische Zuschüsse erhielten. Dieser Erfolg war für sie eine sehr wichtige Erfahrung, bestätig­ te er doch, daß es richtig war, in die Politik zu gehen und die sozialpolit ischen Weichenstel lungen mit zu beeinf lussen. Die im Stadtrat gesammel ten Erfahrungen hält sie dann auch für eine wichtige Voraussetzung für eine über den lokalpolitischen Rahmen h inausgehende politische Arbeit, die sie bei heutigen Politikern oft vermißt: „Ich wünsche mir eigentlich, daß jeder, der in den Landtag oder in den Bundestag will, unbedingt Gemeinderat sein sollte. "15 Sie selbst wol lte zunächst eigent­ lich nicht in den Landtag. A ls die SPD 1964 auf der Suche nach e inem Zweitkandidaten hinter Walter Wälde le an sie herantrat, war sie wenig begeistert. Die Arbeit im Stadtrat mache ihr so viel Spaß und die A W O so viel Arbeit, erklärte sie den Genossen , daß sie auf eine Landtagskandidatur gerne verzich­ te. Entsprechend e inem Besch luß der SPD-Frauengruppe , schlug sie eine andere Frau zur Kandidatur vor. Das wollte die Partei nicht, dann lieber einen Mann, denn nur von Hanne Landgraf wußte man, daß sie viele S t immen bringen würde. Schließlich entschloß sie sich in dem Vertrauen, daß sie das Ersatzmandat nicht wahrnehmen müsse , zu kandidieren. Nach e inem J a h r wurde Walther Wälde le jedoch Erster Bürger­ meister von Karlsruhe, und Hanne Landgraf zog als Nach- rückerin in den Landtag ein. Die J u g e n d und Altenhilfe, Sport 70 sowie Politik für Behinderte wurden ihre landespolit ischen Schwerpunkte. Heute erfüllt es sie mit großer Sorge, wenn im Zuge der gegenwärt igen Sparpolitik die m ü h s a m erkämpften sozialen Errungenschaften wieder abgebaut werden. Von 1968 bis 1970 war sie die einzige Frau im baden-württembergischen Landtag. Zahlreiche Frauen- und Jugendorgan isa t ionen wollten sie deshalb als Rednerin haben. „Ich hatte das Gefühl, das Bettuch an fünf Zipfeln zu halten. ", bemerkt sie über jene Zeit.16 G e m ä ß eines Beschlusses ihrer Partei, der Doppe lmandate ausschloß, hatte sie ihre Stadtratstätigkeit niederlegen müssen , w a s sie sehr bedauerte. Eine Fülle anderer Aktivitäten und Funktionen brachten sie manchmal an die Grenzen ihrer Kräfte. „Ich hätte manchmal den Mut haben müssen, zu sagen: Ich kann nicht mehr. Aber man ist einfach gebraucht worden...", sagt sie heute.17 A ls 1950 auf Initiative von Elly Heuss -Knapp das Müttergenesungswerk gegründet wurde, arbeitete Hanne Landgraf für die A W O zunächst im Ortsausschuß Karlsruhe, später im Bezirksausschuß Baden und ab 1953 im Landes­ ausschuß Baden-Württemberg mit, dessen Vorsitz sie von 1970 bis 1982 übernahm. 1955 wurde sie Vorstandsmitgl ied des Vereins Jugendschutz und Bewährungshilfe, heute Verein für Jugendh i l f e e. V , 1956 Mitglied des Verwaltungsrates des Lan­ deswohl fahrtswerks Baden-Württemberg. Von 1954 bis 1969 übte sie das A m t einer Schöff in beim Bezirksjugendgericht aus. Innerhalb der A W O nahm sie zahlreiche Funktionen auf Orts-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene wahr, u. a. war sie 1971 bis 1981 Erste Vorsitzende des Kreisverbandes Karlsruhe. Für ihr u m f a s s e n d e s gese l l scha f t spo l i t i sches E n g a g e m e n t w u r d e Hanne Landgraf mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit der Marie- Juchacz -P laket te der A W O , der E l ly -Heuss -Medai l le , d e m 71 Bundesverdienstkreuz erster und zweiter Klasse und der Ver­ d ienstmedai l le des Landes Baden-Württemberg. 1993 verlieh ihr die Stadt Karlsruhe die Ehrenbürgerwürde. Hanne Landgraf ist froh, den Weg in die Politik beschritten und sozialpolit ische Veränderungen erreicht zu haben. Sie bedauert jedoch, daß es nicht gelungen ist, mehr Frauen für die politi­ sche und soziale Arbeit zu gewinnen. So wurde nach ihrem Aussche iden als Vorsitzende des Müttergenesungswerkes ein Mann ihr Nachfolger. Und die e igene Partei nominierte für ihre Nachfolge im Landtag 1976 lieber einen Mann, statt die von ihr favorisierte heutige Regierungspräsidentin Gerlinde Hämmer- le.18 Wenn sich Hanne Landgraf auch weniger als Frauenpoli­ tikerin, denn als Sozialpolitikerin sieht, war es ihr doch ein An l i egen , soz ia ldemokrat i sche frauenpol i t i sche Tradit ionen über die Generat ionen zu wahren. Kunigunde Fischer, eine der bekannten Frauen der badischen Sozialdemokratie des Kaiser­ reichs und Gründerin der sozialdemokratischen Frauengruppe Karlsruhes, war ihr großes Vorbild. Sie ermutigte und motivier­ te sie, politische Funktionen zu übernehmen. 1959 trat Hanne Landgraf mit der Übernahme der Leitung der Frauengruppe der SPD Karlsruhe auch frauenpolit isch in deren Fußstapfen. Ihr Ziel war es, Frauen politisch zu schulen, um ihre Zahl in Parteiämtern und politischen Mandaten zu erhöhen. Rück­ blickend auf diese Tätigkeit formulierte sie: „Ich wünsche, daß die Gesamtpartei der Frauenarbeit etwas positiver gegenüber­ steht und nicht [...] von 'Kaffeekränzchen' spricht, obwohl dies noch lange nicht die schlechteste Kommunikationsform /sf. "19 Vielleicht hat sich hier inzwischen Dank der Beharrlichkeit von Frauen wie Hanne Landgraf einiges zum Besseren verän­ dert. 72 1 Vgl. StAK 1/Bez.Verw.Amt/90. 2 Hanne Landgraf erinnert den 9. April 1945 als Datum, an dem ihr Vater ihr mitteil­ te, daß er nun Bezirksvorsteher sei (mündliche Auskunft vom 21.2.1995). Esmußsich jedoch um den 9. Mai 1945 gehandelt haben, an dem in einem Rundschreiben die Einrichtung der Bezirksverwaltungen bekanntgegeben wurde: StAK 1 ./H.-Reg./2894. 3 Zit. Hanne Landgraf. Stadträtin und Landtagsabgeordnete, in: Blick in die Geschichte. Karlsruher stadthistorische Beiträge 1989-1993. Karlsruhe 1994, S. 218- 221, hier S. 219. 4 Ebenda, S. 218. 6 Vgl. auch im Folgenden Hanne Landgraf, in: Erlebte Geschichte. Karlsruher Frauen berichten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF). Karlsruhe 1983, S. 5-16. 6 Diese Ausführungen beziehen sich auf ein Gespräch, das die Verf. am 21. Februar 1995 mit Hanne Landgraf führte. Das Gesprächsprotokoll ist im Stadtarchiv Karlsruhe hinterlegt. 7 Hanne Landgraf (wie Anm. 5), S. 9, vgl. auch im Folgenden S.10 ff. 8 Ebenda. 9 Ebenda. 10 Hanne Landgraf, Stadträtin (wie Anm. 3), S. 219. 11 Mündliche Auskunft Hanne Landgraf vom 21.2.1995 (s. Anm. 6). 12 Ebenda. 13 Ebenda. 14 Vgl. StAK 1/H.-Reg./2896. 15 Mündliche Auskunft Hanne Landgraf vom 21.2.1995 (s. Anm. 6). 16 Hanne Landgraf, Stadträtin (wie Anm. 3), S. 221. 17 Mündliche Auskunft Hanne Landgraf vom 21.2.1995 (s. Anm. 6). 18 Vgl. Amtsblatt der Stadt Karlsruhe 14.10.1994. 19 Hanne Landgraf: Rückblick auf die Tätigkeit der ASF Karlsruhe ab dem Jahr 1959. Masch. Manuskript, o. J. 73 74 Toni Menzinger Mut und Hilfe für einen neuen Anfang geben Die e h e m a l i g e K o m m u n a l - und Landespol i t iker in Toni Menzinger ist den meisten Karlsruherinnen und Karlsruhern keine Unbekannte. Seit mehr als 65 Jahren ist sie in dieser Stadt und über deren Grenzen hinaus sozial- und kulturpolitisch engagiert. In die Politik ging sie, „um Menschen zu helfen, um Idealen zur Durchsetzung zu verhelfen und um die Demokratie zu stärken".^ Dabei verließ sie immer wieder das traditionell Frauen zugeschriebene politische Terrain. So hielt sie 1957 im Karlsruher Stadtrat als erste Frau die Haushaltsrede der CDU. Toni Menzinger wurde am 17. März 1905 in Düsseldorf geboren und wuchs in e inem rheinisch-katholischen Elternhaus auf. Bildung, Kultur und insbesondere Weltoffenheit waren ihr elter­ liches Erbe. Bereits 1909 organisierte ihr Vater einen deutsch­ französischen Studentenaustausch, „... als Frankreich noch der 'Erbfeind' war". 2 An den Jube l angesichts der abfahrenden Soldaten bei Kriegsausbruch 1914 kann sie sich noch gut erin­ nern. Doch der schlug bereits nach vier Wochen um, und im Lazarett, woh in sie ihre karitativ tätige Mutter begleitete, wurde sie bald mit den Schrecken des Krieges konfrontiert. Kurz vor Kriegsende fiel dann einer ihrer beiden Brüder im Alter von 22 Jahren . Beeinflußt durch den älteren Bruder, las sie nach Kriegsende die zeitgenössischen Schriften der Pazifisten und auch Sozialisten. Insbesondere die Anti-Kriegsliteratur, wie Erich Marie Remarques Im Westen nichts Neues und Ludwig Renns R o m a n e Krieg und Nachkrieg, hat ihr weiteres Leben 75 stark beeinflußt. Nach Abitur und psychologischen Studien mit Praktikum in Kochel am See bei schwer erziehbaren J u g e n d ­ lichen, das ihr wertvol le Erfahrungen sicherte, sollte von da an - und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg - die päda­ gogische Arbeit immer wieder im Mittelpunkt der Interessen der „begeisterten Lehrerin" 3 stehen. Noch in die Studienzeit, in das J ahr 1926, reichen die ersten Besuche der Rheinländerin in Karlsruhe zurück. 1931 heiratete sie den Kaufmann Willy Menzinger und siedelte nach Karlsruhe über. Diese Heirat führte sie in eine bekannte großbürgerl iche Karlsruher Familie, und es wurde von der Schwiegertochter erwartet, daß sie sich karitativ engagierte. Sie wurde Mitglied der Frauen-Vinzenz-Konferenz der St. Sfefan-Pfarrei, die ein ehrenamtl iches Betätigungsfeld im damal igen „Dörf le" fand, w o viele kinderreiche Familien wohnten . Bald wurde Toni Menzinger Vorsitzende der Frauen-Vinzenz-Konferenzen Karls­ ruhes. Die Arbeit in kirchlichen, nicht „gleichgeschalteten" Gruppen war ihr auch in der Zeit des Nationalsozial ismus ein wichtiges Anl iegen. Um die Idee lebendig zu halten, gründete sie nach der nat iona lsoz ia l i s t i schen M a c h t ü b e r n a h m e eine Jung-Elisa- bethen-Konferenz. Diese Aktivitäten brachten sie unter die Auf ­ sicht der Gestapo. Die fo lgenden J ahre waren für Toni Men­ zinger eine Gratwanderung, waren doch ihre drei Söhne und die Familie zu schützen. Dennoch blieb sie standhaft und entschloß sich, keiner national-sozial ist ischen Organisat ion beizutreten. Ihr Mann wurde 1942 NSDAP-Mitgl ied. 1937 zog die Familie Menzinger in ein Haus am Haydn-Platz, dessen Besitzer J u d e war. Wie so viele, glaubte auch ihr Vermieter, als 76 Teilnehmer des Ersten Weltkrieges mit dem Eisernen Kreuz I. ausgezeichnet, v o m Nazi-Terror verschont zu bleiben. Eine Emigration lehnte er bis zur Progromnacht im November 1938 ab. Doch nun war es zu spät. Willy Menzinger beschaffte noch Container in Hamburg, aber die Flucht gelang nicht mehr. Bald schon erfolgte der Abtransport der badischen J u d e n nach Gurs. Toni Menzinger, die bereits 1925 Hitlers Mein Kampf gelesen hatte, war sich durchaus über die verbrecherischen Absichten des nationalsozialistischen Regimes im Klaren: „Man hat das gewußt." 4 Al lerdings hatte sie keine Vorstellung davon , wie unmensch l i ch die Verfolgten in den Konzentrat ionslagern tatsächlich behandelt wurden , bis eines Tages ihr Bruder aus österreichischer Gestapo-Haft sowie ein Freund nach zwei Jahren aus dem Konzentrationslager Dachau zurückkehrten. Das Kriegsende erlebte Toni Menzinger nicht in Karlsruhe. G e m e i n s a m mit ihren Kindern und der Schwiegermutter war sie nach dem Luftangriff v o m 28. November 1944 aus der Stadt weggegangen . Als sie am 27. Mai 1945 in ihre völlig zerstörte W o h n u n g zurückkehrte, war klar, daß sie ihre Tätigkeit in kirch­ lichen Organisat ionen fortsetzen würde . Die während des Nationalsozial ismus aufrechterhaltene Elisabethen-Konferenz bildete ein Reservoir von Kräften, die auch nach dem Krieg zusammenarbei teten. Um den Menschen der Stadt „Mut und Hilfe für einen neuen Anfang" zu geben, gründeten sie zunächst g e m e i n s a m mit dem Jesuiten-Pater Fruhstorfer die Katholische Arbeitsgemeinschaft. 5 Ziel war es, jungen Menschen durch kul­ turelle Arbeit bei der Suche nach e inem ethischen Hintergrund und e inem Weltbild behilflich zu sein. A u s der Katholischen Arbeitsgemeinschaft entwickelten sich u. a. mit Hilfe der Amer i ­ kaner ein S tudentenwohnhe im, das heutige Albertus-Magnus- 77 Haus in der Hirschstraße, die Kunstgemeinde, ein Filmclub und die Christliche Wohnungshi l fe . 6 „Hier setzte sich der weibliche Pragmatismus durch. Ein Dach über'm Kopf ist das Wichtigste." 7 Wie viele bereits vor 1933 aktive Frauen ihrer Generation sah Toni Menzinger es als vordringliche Aufgabe , die Not der Nachkriegszeit zu lindern. So leistete sie zunächst Frauen Hilfe, die in Folge des Krieges alleine mit ihren Kindern zurückgeblie­ ben waren und wirkte an der Wiedereröf fnung einer Nähstube von St. Angela im Dörfle mit. A u ß e r d e m hielt sie in der Pfarrei Peter und Paul Sprechstunden für Flüchtlinge und Vertriebene ab, um diesen bei der Beschaffung von Kleidung und W o h n ­ raum behilflich zu sein. Nachdem ihre S ö h n e aus den Kinderschuhen herausgewach­ sen waren, w idmete sich die Pädagogin Toni Menzinger weite­ ren Aufgaben . Möglich wurde das alles nur, weil ihr Ehemann sie in diesen ehrenamtl ichen Tätigkeiten ideell und materiell unterstütze. Sie erkannte, wie wichtig es war, daß Eltern auf ihre Au fgabe als Vater und Mutter vorbereitet wurden. Deshalb hielt sie, ausgehend von der Erzdiözese Freiburg, in Baden Elternabende sowie geme insam mit e inem Arzt Brautleutekurse ab. Sie wurde zweite Vorsitzende der Katholischen Elternschaft Deutschlands. Sehr bald schlössen sich die deutschen Fami­ l ienverbände über Konfess ionen und Parteien hinweg zusam­ men und wurden Mitglied im A u s s c h u ß Parents et Maitres der UNESCO. Toni Menzinger nahm diese Vertretung wahr und wurde 1974 Vizepräsidentin der Kommiss i on Parents et Maitres im Rahmen der Union Internationale Organismes Familiaux. 8 Aufgrund ihrer zahlreichen Aktivitäten und des Bekanntheits- grades, den Toni Menzinger hierdurch erreicht hatte, trug ihr 78 die CDU zu den Stadtratswahlen 1953 eine Kandidatur an. Sie war zunächst nicht begeistert und fürchtete, dies könnte sie von ihrer eigentlichen Arbeit abhalten. Doch dann sagte sie sich: „Die Würfel fallen oben." 9 In der W a h r n e h m u n g eines politi­ schen Mandates sah sie eine Möglichkeit, ihrer sozialen und kulturellen Arbeit zu mehr Nachdruck zu verhelfen. So gab sie der Bitte der CDU nach, fand sich aber auf dem ziemlich aus­ sichtslosen Platz elf der Liste wieder. Doch die Karlsruherinnen und Karlsruher wählten sie nach vorne auf Platz vier, und so zog sie im Herbst 1953 neben Anna Walch (s. S. 112) und Luise Naumann (s. S. 89) als dritte Frau für die CDU in den Stadtrat ein.10 Bis zu ihrem Aussche iden 1980 w idmete sie sich auch im Stadrat vor allem der Sozial- und Schulpolitik. Im Vordergrund ihrer politischen Arbeit stand stets ihre persönliche Überzeu­ gung. 1955 sprach sie sich g e m e i n s a m mit nur fünf männl ichen Gemeinderatskol legen als einzige Stadträtin gegen den Bau des Kernforschungszentrums aus. Sie verwies auf den Un- sicherheitsfaktor, der bei allen Sicherheitsvorkehrungen noch bestehen bleibe: „Das ist auch der Grund, weshalb ich nach meinem heutigen Wissen den Bau eines Reaktors nicht bejahen kann in solcher Nähe von dicht besiedelten Städten.Toni Menzinger beschränkte sich nicht nur auf ihre parlamentarische Ab lehnung , sie informierte in e inem Flugblatt auch die Öffent­ lichkeit über ihre Bedenken. „Aktivitäten, die weder bei meiner Fraktion noch bei OB Klotz Freude machten. " 1 2 Als 1970 Otto Dullenkopf zum Oberbürgermeister Karlsruhes gewählt wurde, kam Toni Menzinger für ihn in den Landtag. Wie es bei Frauen so oft geschieht, war sie als Zweitkandidatin auf­ gestellt worden. 1972 und 1976 wurde sie dann jedoch direkt gewählt , bis sie 1980 aus Altersgründen freiwillig ausschied. 79 Als Expertin für Fragen der Vorschulerziehung in der CDU- Landtagsfraktion prägte sie das Kindergartengesetz und das Erzieherinnen-Ausbi ldungsgesetz mit. Sie vertrat die CDU in zahlreichen Ausschüssen , u. a. im Sozial-, im J u g e n d - und S p o r t a u s s c h u ß s o w i e H o c h s c h u l a u s s c h u ß , aber auch im Petitions- und im Finanzausschuß. „Mit ganzem Herzen" nahm sie die Au fgaben der stellvertretenden Vorsitzenden des kultur­ politischen Ausschusses wahr.13 Schließlich war sie Mitglied im Fraktionsvorstand der CDU als stellvertretende Fraktionsvor­ sitzende. A m 2. J un i 1976 eröffnete sie als erste Alters­ präsidentin die konstituierende Sitzung des Landtags von B a d e n - W ü r t t e m b e r g . Für ihre Verdienste in Politik und Gesellschaft wurde Toni Menzinger vielfach ausgezeichnet, u. a. mit d e m Bundesverd iens tkreuz , d e m G r o ß e n Bundesver ­ dienstkreuz und d e m päpst l ichen Orden „Pro Eclesia et Pontifice". 1993 wurde ihr die Ehrenbürgerwürde der Stadt Karlsruhe verliehen. Toni Menz inger g ing, w ie die anderen in d i e sem Band Porträtierten, e inen für e ine Frau ihrer Generat ion eher außergewöhnl ichen Weg. Die soziale und politische Arbeit wurde ihr zur Berufung. Sie ist der Meinung, daß Frauen sich in der Politik durch Wissen durchsetzen und die Männer durch ihr Können überzeugen müssen . Den Femin ismus hält sie für „ein­ seitig", doch schätzt sie an Feministinnen ihre Wahrhaftigkeit sowie das Besinnen auf die e igene Kraft und eigene Ideale. Neugierde, im Sinne eines „Hinter die Dinge schauen wollen", hält Toni Menzinger für eine wichtige weibl iche Eigenschaft. Im Mittelpunkt ihrer politischen Bestrebungen standen stets die Kultur, die Bildung des Menschen. Kultur ist für sie jedoch stets eng mit dem sozialen Sektor verbunden, und so sieht sie ihr 80 kulturpolitisches Engagement als Ausgangspunkt für das sozi­ alpolitische. 1 Mündliche Auskunft Toni Menzinger vom 1.12.1994. Die folgenden Ausführungen beziehen sich, sofern nicht ausdrücklich anderweitig gekennzeichnet, auf ein Gespräch, das die Verf. am 1. Dezember 1994 mit Toni Menzinger führte und schrift­ lich festhielt. 2 Ebenda. 3 Ebenda. 4 Ebenda. 5 Toni Menzinger. Stadträtin und Landtagsabgeordnete, in: Blick in die Geschichte. Karlsruher Stadthistorische Beiträge 1989-1993. Hrsg. v. d. Stadt Karlsruhe - Forum für Stadtgeschichte und Kultur. Karlsruhe 1994, S. 222. 6 Vgl. auch Toni Menzinger: Das Geheimnis des Pere Duval, in: Vom Glück in Karlsruhe zu leben, Hrsg. von Doris Lott, Bd. 2. Karlsruhe 1995, S. 45 - 47. 7 Mündliche Auskunft Toni Menzinger vom 1.12.1994. 8 Vgl. Ina Hochreuther: Frauen im Parlament. Südwestdeutsche Abgeordnete seit 1919. Hrsg. v. Landtag Baden-Württemberg u. d. Landeszentrale f. pol. Bildung Baden-Württemberg. Stuttgart 1992, S. 145. 9 Mündliche Auskunft Toni Menzinger vom 1.12.1994. 10 Vgl. StAK 1/H. Reg. 2896. 11 StAK Stadtratsprotokoll vom 20.9.1955. 12 Toni Menzinger (wie Anm. 5), S. 222. 13 Mündliche Auskunft Toni Menzinger vom 7.2.1996. 14 Auch im Folgenden ebenda. 81 Hertha Nachmann Für sie war es selbstverständlich, wieder zurückzukommen „Für die Familie Nachmann war es selbstverständlich, zurück­ zukommen: Sie waren Karlsruher, sie waren deutsch."^ So kehr­ te Hertha Nachmann mit ihrem Ehemann Otto sofort nach Kriegsende aus dem südfranzösischen Exil nach Karlsruhe zurück. Auch ihr Sohn Werner, der sich in Frankreich der Resistance angeschlossen hatte und Soldat in General de Gaulles Erster Französischer Armee wurde, kehrte in den Apriltagen 1945 als französischer Offizier in seine Heimatstadt zurück.2 Diese Heimatverbundenheit war keineswegs selbstver­ ständlich, hatten doch die wenigsten Deutschen versucht, der Verfolgung und Vernichtung von Millionen Juden etwas entge­ genzusetzen. Über 450 jüdische Karlsruher Bürgerinnen und Bürger fanden während der nationalsozialistischen Gewalt­ herrschaft in Konzentrations- und Vernichtungslagern den Tod.3 Der nach Karlsruhe zurückgekehrten Familie Nachmann ist es mit zu verdanken, daß die jüdische Gemeinde wieder zum Leben erweckt wurde und jüdische Traditionen und Kultur auch in dieser Stadt nach dem Nationalsozialismus nicht gänzlich verschwanden. Bekannt sind Otto Nachmann4, als erster Vorsitzender des Oberrats der Israeliten in Baden und vor allem Werner Nachmann5, als Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Karlsruhe ab 1961, als Nachfolger seines Vaters im Amt des Oberrats in Baden und insbesondere als späterer Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Wenig bekannt ist bislang das soziale und kulturelle Engagement Hertha Nach- 83 manns, die in den ersten Nachkriegsjahren einen beachtlichen Beitrag zur Wiederbelebung der Jüdischen Gemeinde Karls­ ruhes leistete. Hertha Homburger wurde am 5. August 1900 als Tochter einer alteingesessenen Karlsruher Familie geboren.6 Ihre Familie mütterlicherseits hieß Stern und kam aus Würzburg, wo sie als Weinhändler tätig waren und den Hof belieferten. Sie heiratete den Kaufmann Otto Nachmann (1893-1962), der seit 1919 den elterlichen Betrieb in Durlach leitete, und gebar 1925 ihren Sohn Werner. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten konn­ ten sich Hertha und Otto Nachmann zunächst nicht ent­ schließen, Deutschland zu verlassen. Doch ihre Existenz in Karlsruhe wurde immer gefährdeter. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 war ein Bleiben nicht mehr möglich. Mit Hilfe eines Führers flüchteten sie bei Lauterburg über die Grenze und wohnten zunächst bei Bekannten in den Vogesen. Bereits einige Wochen zuvor hatten sie ihren damals 13jährigen Sohn in Straßburg in einen Zug nach Paris gesetzt, wo er ein jüdisches humanistisches Gymnasium besuchte. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 flohen Hertha und Werner Nachmann in das französische Alpengebiet. Dort blie­ ben sie auch nach der Besetzung Südfrankreichs durch die deutschen Truppen. Mit Hilfe der Widerstandsbewegung gelang es ihnen, sich zu verstecken. Werner Nachmann blieb bis zur Befreiung Frankreichs mit gefälschten Papieren als einziger jüdischer Schüler in einem Gymnasium in Aix-en- Provence.7 Sein Vater Otto tat sich schwer in Frankreich und lernte nur sehr schlecht die Landessprache. Hertha Nachmann 84 konnte sich offenbar etwas besser einleben und Französisch erlernen. Dennoch wollte auch sie nach der Befreiung sofort nach Karlsruhe zurückkehren.8 Nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft waren einige wenige jüdische Familien in Karlsruhe. Die Frauen der jüdischen Gemeinde veranstalteten bald lose Zusammentreffen. Luise Kahn, die zum jüdischen Glauben übergetreten war, aber in der Terminologie der Nazis als „Nichtjüdin" galt, hatte ihre Kinder Rudolf und Renate Kahn „freiwillig" in die Deportation nach Gurs begleitet. 1943 gelang es ihnen, aus Gurs nach Karlsruhe zurückzukehren. Die letzten Kriegstage überlebten die gefährdeten Geschwister in einem Versteck am Turmberg.9 Frau Krauss kehrte aus dem Lager Theresienstadt zurück, des weite­ ren waren da Frau Grämlich, Lilo Zorn, Frau Mussei und Frau Berli. Außerdem kehrten die Familie Pistiner und Dr. Strauss zurück, nach 1955 kamen die Familie Alt aus Südamerika und Dr. Adler aus den USA zurück.10 Es waren nur wenige Gemeindemitglieder11, und Hertha Nach­ mann bemühte sich, gerade auch die Frauen zusammenzuhal­ ten. Das Wirken in der Gemeinde war für sie aufgrund der Familientradition selbstverständlich. Sie rief einen alten Brauch wieder ins Leben, den Kiddusch, d. h. samstags nach den Gottesdiensten setzt man sich zusammen und ißt eir e Kleinigkeit. Später, ab 1955, wies sie ihre Schwiegertochter, die sie bei den Vorbereitungen hierzu unterstützte, in die Speise­ gesetze ein, u. a. die Trennung von Milch und Fleisch. Das Fleisch mußte in jenen Jahren aus Straßburg herbeigeholt wer­ den, weil es in Karlsruhe kein koscheres Fleisch zu kaufen gab. Sehr wichtig waren für Hertha Nachmann die jüdischen 85 Feiertage. Das erste Pessach-Fest12 nach ihrer Rückkehr feierte sie mit den wenigen Überlebenden der Gemeinde in ihrer damaligen Wohnung in der Durlacher Luststraße. Ab Septem­ ber 1946 konnten im früheren Gemeindehaus der Israelitischen Religionsgemeinschaft in der Herrenstraße 14 wieder regel­ mäßig freitags, samstags und an den jüdischen Feiertagen Gottesdienste abgehalten werden.13 Nun wurde an den Pessach-Festen die gesamte Gemeinde zu einem Mahl eingela­ den. Hertha Nachmann organisierte und leitete die Zubereitung des Pessach-Mahls in ihrer eigenen Küche. Fünf bis sechs Frauen teilten sich die Zubereitung der einzelnen Gänge: zu­ erst gab es Fleischsuppe mit Matzen, dann Braten, Kartoffeln, Salat und am Ende Kompott. Schließlich mußte alles in die Herrenstraße transportiert werden. Ein solches Mahl wurde auch an Neujahr abgehalten. An Jom-Kippur, dem Versöh­ nungsfest, wurde das vorangegangene Fasten in der Synagoge gebrochen. Hertha Nachmann legte eigens dafür Heringe ein. Es wurde ein Schnäpschen dazu gereicht oder es gab Kaffee und Kuchen, damit man etwas Warmes zu sich nahm. Des weiteren bekleidete Hertha Nachmann das ehrenvolle Amt der Totenwäsche. Wenn ein jüdischer Religionsangehöriger stirbt, wird er in ein Leichentuch gekleidet und in einen aus vier einfachen Brettern gezimmerten Sarg gebettet. Dieser Brauch gilt für alle gleich, „ob er Rothschild heißt oder der ärmste Mann ist." u Hertha Nachmann hat mit Hilfe anderer Frauen, u. a. Frau Kahn und Frau Zorn, die Totenwäsche der verstorbe­ nen weiblichen Gemeindemitglieder durchgeführt. Neben diesen im Gemeindeleben wichtigen Tätigkeiten hat sich Hertha Nachmann vor allem sozial engagiert. Für jeden, der in 86 diesen schwierigen Nachkriegsjahren mit e inem Problem zu ihr kam, hat sie eine Lösung gefunden. Sie hat sich um Leute gekümmert , die durch Nationalsozial ismus und Krieg entwur­ zelt waren und nicht mehr wußten , w o sie hingehörten. Sie organisierte für Hilfsbedürftige Essen, Kleidung oder Bargeld. „Manchmal kamen freitagabends Leute und klingelten, dann hat sie ihnen zwanzig Mark gegeben. Sie war da sehr großzügig. "15 Alte Leute und Kranke erfreute sie durch ihre Besuche. Den verschiedenen karitativen Einrichtungen der Stadt stand sie mit Rat und Tat zur Verfügung. Darüber hinaus wurde sie Vorsitzende des Jüd i schen Frauen­ vereins und übte diese Tätigkeit jahrzehntelang aus. Auch an der Gründung des Dachverbandes der J üd i s chen Frauen­ vereine in Deutschland war sie beteiligt. Ihre Sohn , Werner Nachmann, der damal ige Vorsitzenden des Zentralrats der J u d e n in Deutschland, war damit nicht ganz einverstanden. Er war der Meinung, der Frauenverein solle seine Arbeit auf loka­ ler Ebene machen, benötige aber nicht den „Wasserkopf" einer nationalen Organisation, sie erschien ihm überflüssig. Die Gründung des Jüd i schen Frauenvereins auf deutscher Ebene erfolgte dennoch . Hertha Nachmann konzentrierte sich jedoch weiterhin auf die Arbeit vor Ort in Karlsruhe. In Würd igung ihres großen Engagements wurde Hertha Nach­ mann anläßlich ihres 75. Geburtstages das Bundesverdienst ­ kreuz verliehen.16 Bereits 1961 hatte sie ihren Ehemann verlo­ ren. Der Tod ihres S o h n e s im Januar 1988 traf sie schwer. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie im Stephanienstift . Hertha Nachmann verstarb im Frühjahr 1990. 87 1 Mündl iche Auskunft Evelyne Nachmann v o m 9. Oktober 1996. Die fo lgenden Angaben zu Hertha Nachmann wurden, soweit nicht ausdrücklich anderweitig vermerkt, d iesem protokollierten Gespräch e n t n o m m e n . 2 Vgl. J o s e f Werner: Hakenkreuz und Judenstern . Das Schicksal der Karlsruher J u d e n im Dritten Reich. 2. Überarb. u. erw. Aufl . Karlsruhe 1990 (=Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bd.), S. 353f. 3 Vgl. ebenda, Gedenktafel , S. 443-480. 4 Vgl. ebenda, S. 435-440. 5 Vgl. ebenda, S. 439, 441 f. 6 Vgl. Esther Ramon : Die Familie Homburger aus Karlsruhe, in: J u d e n in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Hrsg. v. Heinz Schmitt unter Mitwirkung von Ernst Otto Bräunche und Manfred Koch. Karlsruhe 1988 ^Veröffent l ichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bd. 8), S. 465-468. 7 Vgl. auch im Folgenden J . Werner (wie A n m . 3), S. 243 u. 353 f. 8 Auch im Folgenden mündl iche Auskunft Evelyne Nachmann v o m 9.10.1996. 9 Vgl. J . Werner (wie A n m . 3), S. 353 u. 429 f. 10 Auch im Folgenden mündl iche Auskunft Evelyne Nachmann v o m 9.10.1996. 11 Im Jun i 1946 lebten in ganz Karlsruhe insgesamt 91 J u d e n . Vgl. Werner (wie A n m . 3), S. 436. 12 Das Pessach-Fest beginnt am 14./15. Nisan (März/April) und dauert in Israel sieben, in der Diaspora acht Tage. Es wird zur Erinnerung an den Auszug Israels aus Ägypten gefeiert. Das Fest trägt auch den Namen Fest der ungesäuerten Brote (Matzen). Das christliche A b e n d m a h l geht auf das Pessach-Fest zurück und auch das christliche Osterfest hängt historisch mit ihm z u s a m m e n . 13 Vgl. J . Werner (wie A n m . 3), S. 436 ff. 1951 wurde der Betsaal in der Herrenstraße erneuert und zur S y n a g o g e umgewidmet . Erst am 4. Jul i 1971 konnte eine neue S y n a g o g e an der Knielinger Al lee eingeweiht werden. 14 Mündl iche Auskunft Evelyne Nachmann v o m 9.10.1996. 15 Ebenda. 16 Vgl. BNN 6.8.1975. 88 Luise Naumann Ihre besondere Neigung gehörte dem Krankenhaus- und Schul­ wesen Luise Naumann wurde erst 1953 zur Stadträtin in Karlsruhe gewählt. Kandidiert hatte sie aber bereits bei den Wahlen im Dezember 1947. Allerdings hatte ihre Partei, die CDU, sie damals - wie so oft bei Frauen damals üblich - auf einen wenig aussichtsreichen hinteren Listenplatz gesetzt.1 Bis 1953 hatte die aktive Christdemokratin jedoch in der Stadt offensichtlich einen solchen Bekanntheitsgrad erreicht, daß man sich von ihrer Kandidatur Stimmen erhoffte und sie auf Platz vier der Liste setzte. Die Rechnung ging auf, und sie zog nach Anna Walch (s. S. 112) gemeinsam mit Toni Menzinger (s. S. 74) als dritte Frau für die CDU ins Stadtparlament ein. Bis 1965 übte sie diese Funktion aus, dann kandidierte sie aus familiären Gründen nicht wieder. Luise Karolina Duppler wurde am 19. Mai 1901 in Karlsruhe geboren.2 Während des Ersten Weltkrieges besuchte sie das 1893 gegründete erste deutsche Mädchengymnasium in Karls­ ruhe, um anschließend in Heidelberg acht Semester Medizin zu studieren. In dieser Zeit wurde sie Vorsitzende einer evange­ lischen Studentengruppe. Das Studium hat sie, vermutlich wegen ihrer Heirat mit dem erheblich älteren Ministerialrat Dr. Ing. Erich Naumann, jedoch nicht abgeschlossen. Sie gebar drei Söhne, die in schwierigen Zeiten großgezogen werden mußten. Da ihr Mann jüdischer Abstammung war, wurde er nach Erlaß der Nürnberger Gesetze 1935 von seinem Dienst als 89 90 Leiter der Abtei lung Salinen und Bergbau im badischen Finanz und Wirtschaftsministerium zwangswe ise zur Ruhe gesetzt. Zu ­ nächst erhielt er zwar noch privatwirtschaftliche Aufträge zur Anfertigung von Gutachten u. ä., doch konnte er diese Tätigkeit im Zuge der zunehmenden Verfolgung der J u d e n nicht aufrech­ terhalten.3 In den fo lgenden Jahren erarbeitete Luise Naumann den Lebensunterhalt für die Familie. Sie soll später nie über diese schwierige Zeit gesprochen haben. Doch die Erfahrungen und Vorsätze aus den Jahren der Nazidiktatur bewogen sie, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges politisch tätig zu werden. Als aktives evangel isches Gemeindemitg l ied führte Luise Nau­ manns Weg in die neugegründete christliche Partei, die erst­ mals beide Konfess ionen zu vereinen suchte. Eine Rolle mag dabei auch gespielt haben, daß ihr Mann und ihre Söhne weni ­ ge Monate nach Gründung der CDU in Karlsruhe dieser beitra­ ten. Doch Luise Naumann ging durchaus e igenständige politi­ sche Wege . Sie betätigte sich in der CDU-Frauengruppe, deren Vorsitz sie 1948 übernahm. 1950 wurde sie schließlich Leiterin der Landesfrauengruppe der CDU in Nordbaden sowie Mitglied des Landesvorstandes der Partei. In späteren Jahren hatte sie dann das A m t einer stellvertretenden Landesvorsitzenden inne. Ihr hauptsächl iches Betätii/ungsfeld entfaltete sie im sozialen Bereich. So war sie vo ja -vnfang in der im Jul i 1948 geme insam von der überparteiliiicien Karlsruher Frauengruppe (s. S. 40, G r o ß w e n d t , Riegger, H immelheber ) , den konfess ione l len Frauenverbänden und dem Roten Kreuz in der Durlacher Allee 60 eingerichteten Notverkaufsstelle (s. S. 112) aktiv. Hier arbei­ tete sie eng mit ihrer Parteifreundin Anna Walch (s. S. 112) z u s a m m e n . Doch Kontakte entwickelten sich auch über die Parteigrenzen hinweg. Mit der ab 1956 für die FDP im Stadrat 91 sitzenden Melitta Schöpf verband sie eine Freundschaft seit Kindheitstagen. Die SPD-Stadträtin Hanne Landgraf (s. S. 64) wußte Naumann als eine über Parteigrenzen hinweg um die Sache der Frauen verdiente Kollegin zu schätzen.4 Innerhalb ihrer Stadtratstätigkeit lag Luise Naumann vor allem die Arbeit im Krankenhausausschuß am Herzen. Fragen der modernen Hygiene, des Krankenhausbaus sowie der Müttergenesung beschäftigten sie ebenso wie die Sorge für die Krankenhaus­ bediensteten. „Es ist meine alte Liebe zur Medizin, die hier zum Durchbruch kommt", 5 begründete sie dieses Engagement . Des weiteren betätigte sie sich im Beirat für die Höheren Schulen sowie im Verwaltungsrat der Musikhochschule. Luise Naumann ging, wie die Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) einmal bemerkten, nie auf die Barrikaden.6 Tatsächlich war sie woh l keine v e h e m e n t e Verfechterin der Frauen­ emanzipat ion. Ihr Engagement wurzelte in e inem traditionellen Politikverständnis, das weibl iche Betätigungsfelder in erster Linie im Bereich des Sozialen sah. Dennoch übernahm sie als eine der ersten Frauen der Karlsruher CDU in (par te ipo l i t i ­ schen Ämtern eine gewisse Vorreiterrolle. Sie war auch die erste Frau, die Ehrenmitglied des CDU-Kreisverbandes Karls­ ruhe wurde. 1969 wurde ihr für ihre kommunalpol i t i schen Verdienste das Bundesverdienstkreuz verliehen. Luise Nau­ mann verstarb am 10. April 1974 in Göppingen. 1 Vgl. auch im Folgenden StAK 1/H.-Reg./2896. 2 Folgende biographische Angaben wurden, soweit nicht ausdrücklich anderweitig ausgewiesen, Beiträgen der BNN vom 14.7.1954,18.5.1966,19.4.1969,19.5.1971 und 30.4.1974 entnommen. 3 Vgl. Josef Werner: Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich. Karlsruhe 1988 (= Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bd. 9), S. 49. 4 Vgl. BNN 19.4.1969. 5 BNN 14.7.1954. 6 Vgl. BNN 18.5.1966. 92 Luise Riegger Wir Frauen müssen Politik machen, sonst wird mit uns Politik gemacht. Der Initiative Luise Rieggers ist die Wiederbe lebung der Frauenbewegung in Karlsruhe nach dem Zweiten Weltkrieg zu verdanken . Im F r ü h s o m m e r 1946 - trafen sich auf ihre Anregung ca. 15 Frauen, um zu beraten, in welcher Form die durch den Nationalsozial ismus zerschlagene Frauenbewegung wieder ins Leben gerufen werden könne, und wie die Frauen im neu aufzubauenden Staat Einfluß gewinnen könnten.1 A u s den Erfahrungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik eine Lehre ziehend, wol lte man nun die Spaltung der Frauen­ bewegung in unterschiedliche politische Flügel überwinden. Zu d iesem Zweck wurde am 17. Oktober 1946 die überparteiliche Karlsruher Frauengruppe gegründet. Für Luise Riegger war die­ ses Engagement eine logische Konsequenz und Fortsetzung ihres bisherigen Lebens und Wirkens. Geboren am 7. J a n u a r 1887, erlebte sie den Ersten Weltkrieg und das Ende des Kaiserreiches. Doch sie „erduldete" den Lauf der Geschichte nicht, sondern versuchte stets, ihn aktiv mitzu- gestalten. „Als Vierjährige habe ich schon erklärt, wenn die erste Frau in den Reichstag kommt, will ich dabei sein", erzähl­ te sie später einmal. Die Familie Riegger war Anfang der 1890er J ahre von Kehl nach Karlsruhe gezogen, w o der Vater als Experte für das Geme inderechnungswesen Regierungsrat im badischen Innenministerium wurde. Luise Riegger besuchte 1893 bis 1902 die höhere Mädchenschule . Dem in jener Zeit für 93 94 eine Frau noch ungewöhnl ichen Wunsch , Juristin zu werden, verweigerten ihre Eltern jedoch die Zus t immung . S o ab­ solvierte sie eine zwei jähr ige Frauenschule , besuchte im A n s c h l u ß daran für ein J a h r eine Haushal tungsschule in Frankreich, um schließlich von 1905 bis 1909 im elterlichen Haushalt mitzuarbeiten.3 Anläßl ich einer Einladung der Groß­ herzogin traf sie eine ehemal ige Schulkameradin, die inzwi­ schen das Lehrerinnenseminar besuchte. Ohne das Wissen ihrer Eltern meldete sie sich daraufhin am Prinzessin-Wilhelm- Stift an. „Ein Haushalt braucht viele Hände, aber nur einen Kopf", bemerkte sie zu ihrem Entschluß, dem elterlichen Hauswesen den Rücken zu kehren und das Lehrerinnenstudium aufzunehmen. 4 Durch g e m e i n s a m e Wanderungen mit den Eltern und ihren vier Brüdern war Luise Riegger den Ideen der J u g e n d b e w e g u n g aufgeschlossen, mit der sie 1910 durch die Mathematiklehrerin des Lehrerinnenseminars in Berührung kam. Die Familien­ ausf lüge nahmen ein jähes Ende, als sie und drei ihrer Brüder zur von dem Grötzinger Maler Otto Fikentscher und seiner Frau gegründeten Ortsgruppe des Wandervogels stießen. „Das ging den Eltern gegen den Strich, aber sie ließen uns machen. / / 5 Damit ließen sie ihrer Tochter einen Freiraum, der zu jener Zeit für ein Mädchen aus bürgerl ichem Hause ke ineswegs selbst­ verständlich war. Da aber manch andere Eltern ihre Töchter nicht auf mehrtäg ige Fahrten mit einer aus J u n g e n und Mädchen gemischten Gruppe fahren lassen wollten, wurde Luise Riegger bald Führerin von reinen Mädchenfahrten, leitete jedoch auch weiterhin gemischte Gruppen der Zwölf - bis Yeerzehnjährigen. 95 1913 mußte sie diese Tätigkeit in Karlsruhe vorerst beenden, da sie nach Ab legung des Lehrer innenexamens ihre erste Stelle in Zell im Wiesental antrat. Es war in der damal igen Zeit das Los angehender Lehrerinnen und Lehrer, je nach Bedarf ständig versetzt zu werden. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden viele Lehrer einberufen und Luise Riegger stand alleine vor riesigen Klassen. Es folgten Versetzungen nach Wangen am Bodensee und Überlingen. 1915 unterrichtete sie dann in Mörsch, später in Ettlingen, bis sie 1917 schließlich an der Rüppurrer Riedschule angestellt wurde , w o sie bis zu ihrer Pensionierung als Konrektorin im Jahr 1952 bleiben sollte. Während des Ersten Weltkrieges hatte sie begonnen, sich mit der Geschichte der Frauenbewegung zu beschäftigen. Als sie 1917 wieder nach Karlsruhe zurückkehrte, war aus der J u g e n d b e w e g t e n auch eine Frauenbewegte geworden. Von nun an sollte sie die Geschichte der örtlichen Frauenbewegung wesentl ich mitprägen. Sie schloß sich der Frauenst immrechts­ bewegung an und knüpfte Kontakte zu Gertrud Bäumer und Helene Lange. 1931 wurde sie zur Vorsitzenden des Badischen Verbandes für Frauenbestrebungen, e inem d e m Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) angehörender Dachverband der bürgerlichen Frauenbewegung in Baden, gewählt.6 Neben der Frauenbewegung galt jedoch auch weiterhin der J u g e n d b e w e g u n g ihr Interesse. Sie gehörte dem 1920 von älte­ ren Wandervögeln gegründeten Kronacher Bund an, und auch hier fand ihr Engagement für das Anl iegen der Frauen und Mädchen seinen Ausdruck. 1925 wurde sie auf Antrag der Frauen, gegen alle männl ichen Widerstände als Sprecherin der weibl ichen Mitglieder und damit als erste Frau in die Ältesten- 96 schaft des „Kronacher Bundes" gewählt.7 1921 war sie in Karlsruhe bei der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft aller örtlichen Jugendverbände, dem „Jugendring", mit initiativ. Nun, da infolge der Revolution Frauen endlich das Wahlrecht erlangt hatten, wollte Luise Riegger diese neuen politischen Rechte auch nutzen und beim Aufbau eines demokratischen Staats mitwirken. Wie viele bürgerliche Frauenrechtlerinnen sah sie ihre politische Heimat im Liberalismus. Sie wurde 1918 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). 1922 zog sie als Stadtverordnete in das Karlsruher Rathaus ein und übte dieses Mandat bis 1930 aus.8 Das vielfältige Engagement dieser aufrechten Demokratin wurde durch den Nationalsozialismus unterbrochen. Im Juni 1933 mußte sie den Karlsruher Frauenverbänden mitteilen, daß nach der Auflösung des Badischen Verbandes für Frauen­ bestrebungen durch die Beauftragte der badischen Regierung und spätere Reichsfrauenführerin, Gertrud Scholtz-Klink, auch die Karlsruher Ortsgruppe des Verbandes aufgehört habe zu bestehen.9 Die folgenden Jahre verbrachte Luise Riegger, wie sie es selbst bezeichnete, in „passivem Widerstand".'' 0 „Sie haßte Grundsätze und Methoden der Nazis und jedermann wußte das.", schrieb eine 1941 in die USA emigrierte Freundin.11 Unannehmlichkeiten mit der Schulbehörde blieben nicht aus, und Luise Riegger durfte keinen Geschichtsunterricht mehr erteilen und nur noch in unteren Klassen unterrichten. Eine ihrer Nichten erinnert sich, daß sich ihre Tante „Luis" Maß­ regelungen in der Schule notgedrungen gefügt habe, nicht aber ohne hinzuzufügen, daß sie dieses Regime nicht bejahe.12 Auch ein ehemaliger Schüler berichtet, daß sie nur widerwillig die 97 Fahnenappel le absolvierte und immer deutlich gewesen sei, daß sie d e m nationalsozial ist ischen Reg ime nicht gerade Sympath ien entgegenbrachte.1 3 In eindeutigen Worten kritisier­ te sie die von den Nationalsozialisten eingeführte J u g e n d ­ erziehung, die sie „anekelte". 1 4 Die Kontakte zu ihren jüdischen Freunden hielt sie bis zu deren Emigration aufrecht und nahm deren Kinder mit auf Urlaubsreisen. Offensichtlich sah Luise Riegger in ihrer Position als Lehrerin auf Dauer jedoch keine Möglichkeit, sich einer A u f n a h m e in die Nationalsozialistische Frauenschaft zu widersetzen, einer Übernahme in die NSDAP trat sie aber erfolgreich entgegen.1 5 Infolge der Luftangriffe auf Karlsruhe wurde Luise Riegger 1944 mit ihrer gesamten Schulklasse in den Schwarzwald evakuiert. Nach ihrer Rückkehr nahm sie am 1. Oktober 1945 den Unter­ richt an der Rüppurrer Riedschule wieder auf. Bereits zwei Tage später wurde sie auf Anwe i sung der amerikanischen Militär­ regierung wegen ihrer Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft jedoch wieder entlassen. Dies empfand sie als eine maß lose Ungerechtigkeit, an der sie lange litt. Im Entnazifizierungs­ verfahren konnte sie zwar ihre Gegnerschaft und den passiven Widers tand zum nat ionalsoz ia l is t ischen Reg ime g laubhaf t machen, aufgrund ihrer formalen Mitgliedschaft wurde sie jedoch im April 1947 als Mitläuferin eingestuft.16 Da sie bereits Ende 1945 einen Offizier der MiMtärregierung von ihrer oppos i ­ t ionel len Haltung g e g e n ü b e r d e m nat iona lsoz ia l i s t i schen Sys tem überzeugen konnte, erfolgte im Dezember 1945, kurz vor Weihnachten, ihre Wiedereinstel lung als Lehrerin. Sie über­ nahm eine fünfte Klasse, die erste koedukative Klasse an der Riedschule, die sie bis zum Schulabschluß 1949 führte und in allen Fächern außer Musik unterrichtete.17 Den Schülerinnen/ 98 Schülern erschien die neue Lehrerin zunächst sehr streng. Doch sie verstand es, sie für das Lernen zu begeistern und wurde von ihnen bald heiß verehrt. Gegenseit iger Respekt und eine gewis­ se Nähe kennzeichneten die entstehende Freundschaft zwi­ schen Lehrerin und Schülerinnen/Schülern, die bis an das Lebensende Luise Rieggers dauern sollte. Sie ist ihnen als eine außergewöhnl iche Lehrerin in Erinnerung gebl ieben, die immer ihren Weg gegangen sei und ihre Meinung vertreten habe, ohne opportunist isch zu sein. Luise Riegger, „Erzieherin mit Leib und See/e"18 , verstand es, die infolge des Krieges entstan­ denen großen Lernlücken zu schließen und vermittelte ihnen weit über den Lehrplan hinausreichende Kenntnisse. So lehrte sie z. B. nach Unterrichtsschluß außerp lanmäßig Englisch. Den Idealen und Erfahrungen aus der J u g e n d b e w e g u n g entspre­ chend, suchte sie die Solidarität unter den Schüler innen/ Schülern zu fördern: die mit guten Noten sollten denen mit schlechten helfen. Sie brachte Jugend l i che mit sozialen und Lernproblemen, die heute wahrscheinl ich in Sonderschulen landen würden, zu e inem Schulabschluß. Schließlich unter­ stützte sie ihre Absch lußschü le r innen / - s chü le r bei den Bemühungen um eine Lehrstelle. Alle, auch die Mädchen - w a s in dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit war - , absolvierten eine Berufsausbi ldung. Besonders wichtig war es Luise Riegger jedoch, demokrat isches Denken und Handeln zu vermitteln. Hatten schon die Nazis versucht, dies zu unterbinden, indem sie ihr verboten, Geschichtsunterricht zu halten, setzte sie sich über das anfangs von der Militärregierung verhängte generelle Verbot des Geschichtsunterrichts hinweg. „Heimlich" vermittel­ te sie ihrer Klasse historische Kenntnisse, ohne die sie eine demokrat ische Erziehung für mangelhaft hielt. Enttäuscht war sie darüber, daß keine/r ihrer Lieblingsschülerinnen/schüler, 99 ebensowen ig wie ihre Nichten, selbst politisch aktiv wurde. Für ihre Schülerinnen/Schüler repräsentierte sie die „Demokratin alten Schlags"' 1 9, weit von der Politikder heutigen FDP entfernt.19 Wie bereits nach Ende des Ersten Weltkrieges war es Luise Riegger auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein Anl iegen, den demokrat ischen Neuaufbau aktiv mitzugestalten. „Politik wird in jedem Fall gemacht. Wenn wir Frauen sie so durchgeführt sehen wollen, wie wir sie für richtig halten, müssen wir mitma­ chen; sonst wird mit uns Politik gemacht." 2 0, war ihre Über­ zeugung. Um den weibl ichen Einfluß in Staat und Gesellschaft zu sichern, hielt sie eine überparteiliche und überkonfessionel ­ le Zusammenarbe i t aller Frauen für notwendig, doch bedeutete das für sie nicht, parteipolitisch abstinent zu sein. Da sie sich dem Liberalismus verpflichtet fühlte, gehörte sie 1945 nach d e m Ende der nat iona lsoz ia l i s t i schen Herrschaft zum Karlsruher Gründerkreis der Demokratischen Partei, der späte­ ren FDP, in Karlsruhe.21 Auch in der Parteiarbeit war es ihr jedoch stets wichtig, die Emanzipation der Frauen voranzutrei­ ben. Sie führte u. a. den Vorsitz der FDP-Frauengruppe Karlsruhe sowie des im März 1954 konstituierten Bezirks­ f rauenausschusses der FDP Nordbaden. Daneben war sie Mitglied des Landesfrauenausschusses , zu dessen Ehrenvor­ sitzenden sie 1955 gewählt wurde, und nahm in dieser Funktion ein Mandat im Bundes f rauenausschuß der FDP wahr.22 A ls es in den fünfziger Jahren um die rechtliche Umsetzung der im Grundgesetz garantierten Gleichberechtigung ging, erinnerte sie die Bundestagsfrakt ion ihrer Partei an die historische Verbundenheit der Frauenrechtlerinnen mit dem Liberalismus und suchte sie im Sinne ihrer frauenpolit ischen Traditionen auf ein Abst immungsverha l ten im Interesse der Frauen zu ver- 100 pflichten.23 Vielleicht war es gerade dieses konsequente Eintreten für die Interessen von Frauen, das eine weitere poli­ tische Karriere Luise Rieggers innerhalb ihrer Partei verhinder­ te. Ihre ehemaligen Schülerinnen/Schüler nahmen die unkon­ ventionelle, geradlinige Frau als „Exotin" im politischen Spektrum wahr.24 Zwar arbeitete sie für die FDP im städtischen Fürsorge-, Jugendwohlfahrts- und Schulausschuß mit, wo sie ihre vielfältigen Erfahrungen auf diesen Gebieten einbringen konnte, der Einzug in den Stadtrat gelang ihr jedoch erst 1964 als Nachrückerin.25 Bei den Gemeinderatswahlen im Dezember 1947 hatte die sich zu diesem Zeitpunkt DVP nennende spätere FDP die erfahrene Kommunalpolitikerin auf dem wenig aus­ sichtsreichen Rang 14 ihrer Wahlvorschlagsliste plaziert.26 Dies sollte sich auch bei den folgenden Wahlen nicht ändern. Die kleineren Parteien, „...die nur wenige Sitze erwarten können, haben Angst, daß Frauen ihnen Sitze wegnehmen. Sie wollen nur ihre Namen darauf als Zugkraft. Die Sitze wollen die Männer...", bemerkte Luise Riegger nach der Kommunalwahl von 1953.27 Eine Verbündete im Kampf um mehr Frauenrechte innerhalb und außerhalb der Partei hatte Luise Riegger in Elisabeth Großwendt (s. S. 32). Die Freundschaft der beiden Frauen dürf­ te wohl bis in die zwanziger Jahre zurückreichen, als Groß­ wendt das städtische Jugendamt leitete, Riegger den Jugend­ ring mit gründete und beide in der bürgerlichen Frauen­ bewegung aktiv waren. Es war ihnen ein Anliegen, für die Rechte der Frauen einzutreten und politische Verantwortung zu tragen. Es waren wohl auch die nicht immer positiven Erfahrungen innerhalb der Partei, die ihnen einen Zusammen­ schluß von Frauen über die Parteigrenzen hinweg notwendig 101 erscheinen ließ. So gehörten sie 1946 zum Gründerinnenkreis der überparteilichen Karlsruher Frauengruppe. 2 8 Die neuge­ gründete Frauengruppe wollte sich zunächst auf vier Aufgaben­ gebiete konzentrieren: Mitwirkung beim Wiederaufbau der Stadt, Mitarbeit in Flüchtlings-, Gesundheits - und anderen sozialen Fragen, Unterstützung in allen Frauenfragen und Haus f rauenange legenhe i ten s o w i e insbesondere pol it ische Schulung und Erziehung von Frauen und Mädchen in demokra­ t ischem Sinn.29 In den unmittelbaren Nachkriegsjahren ent­ wickelte sie ein breites Spektrum von Aktivitäten und zählte über 100 Mitglieder. Ihren Anspruch , die politische Spaltung der alten Frauenbewegung zu überwinden, konnte die Frauen­ gruppe leider nie ganz einlösen. Zwar gehörten ihr anfangs einige Frauen aus kommunis t i schen Kreisen an, und hin und wieder nahmen auch Sozia ldemokrat innen an ihren Veran­ staltungen teil, getragen wurde sie jedoch überwiegend von Frauen, die aus der alten bürgerl ichen F r a u e n b e w e g u n g kamen. Sie gehörten, wenn sie nicht parteilos waren, meist der FDP oder auch der CDU an. Die Geschichte dieser bedeutenden Karlsruher Frauenorganisation der Nachkriegszeit, die sich 1955 dem Deutschen Frauenring anschloß, ist untrennbar mit dem Namen Luise Riegger verbunden. Noch 1967, im Alter von 80 Jahren , war sie Vorsitzende dieser bis heute bestehenden Gruppe des Frauenrings. Luise Riegger nahm auch nach ihrer Pensionierung regen Anteil am gesellschaftl ichen und politischen Leben. Sie blieb aufgeschlossen und interessiert für die Belange der Frauen wie die der J u g e n d . Auf ihre Initiative geht die Einführung des Jungbürger fes tes zurück.30 Mit der Aktion Alt aber nicht einsam schuf sie ein Forum für die Alten. Daneben saß sie im 102 A u f s i c h t s r a t d e r G a r t e n s t a d t u n d w a r l a n g e J a h r e a l s e h r e n ­ a m t l i c h e V e r w a l t u n g s r i c h t e r i n tä t ig . Für ihr p o l i t i s c h e s u n d s o z i a l e s W i r k e n w u r d e s i e m i t d e m B u n d e s v e r d i e n s t k r e u z , d e r T h o m a s - D e h l e r - M e d a i l l e d e r FDP, d e r T h e o d o r - H e u s s - M e d a i l l e u n d d e r E h r e n m e d a i l l e d e r S t a d t K a r l s r u h e a u s g e z e i c h n e t . A n l ä ß l i c h i h r e s 95 . G e b u r t s t a g e s v e r l i e h d i e Arbeitsgemein­ schaft Karlsruher Frauenorganisationen i h r e m T r e f f p u n k t a m F e s t p l a t z d e n N a m e n Luise-Riegger-Haus. 3' 1 L u i s e R i e g g e r s t a r b a m 6. F e b r u a r 1985. B i s i n s h o h e A l t e r w a r s i e b e w e g l i c h g e b l i e b e n - u n d d a s s o w o h l g e i s t i g a l s a u c h k ö r p e r l i c h . S o h a t t e s i e n o c h m i t 7 5 J a h r e n R a d t o u r e n n a c h I ta l ien u n d F r a n k r e i c h u n t e r n o m m e n , g e t r e u i h r e m W a h l s p r u c h „Man muß bis an seine Grenzen gehen." 3 2 1 Vgl. Ansprache Kathinka Himmelheber vor dem Karlsruher Lyceumclub, Sommer 1951, StAK 8/StS 13/824. 2 BNN 18.1.1975. 3 Vgl. Ilse Brehmer, Karin Ehrich: Mütterlichkeit als Profession? Lebensläufe deut­ scher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Bd. 2: Kurzbio­ graphien. Pfaffenweiler 1993, S. 213. 4 BNN 7.1.1977. 5 Zit. n. Sigrid Bias-Engels: Verantwortung für die Gemeinschaft. Luise Riegger (1887-1985), in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd.16/1986- 87, S. 323-326, hier S. 323, vgl. auch im Folgenden ebenda. 6 Vgl. Karlsruher Tagblatt 17.11.1931. 7 Vgl. Brehmer (wie Anm. 5), S. 213 f; Bias-Engels (wie Anm. 7), S. 325. 8 Vgl. Susanne Asche, Barbara Guttmann, Olivia Hochstrasser, Sigrid Schambach, Lisa Sterr; Karlsruher Frauen 1715-1945. Eine Stadtgeschichte. Karlsruhe 1992 (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs. Bd. 15), S. 300f. 9 Das Schreiben Luise Rieggers an die Vorsitzenden der Karlsruher Frauenverbände vom 2.6.1933 ist im Archiv des DAB Karlsruhe überliefert und liegt d. Verf. in Kopie vor. 10 GLA 465a/511414353. 11 Auch im Folgenden Kopie eines Schreibens von Elsbeth C. Shellens an Fred Weissman, Selfhelp of Emigres from Central Europe, New York, vom 21.8.1946, GLA N Veit/626. 103 12 Mündl iche Auskunft Dr. Roswitha Baurmann v o m 17.6.1996. 13 Mündl iche Auskunft Werner Hettich v o m 13.11.1996. 14 Aktennotiz August Furrer v o m 26.9.1946, GLA N Veit/626. 15 Vgl. GLA 465a/51/4/4353 und Gesprächsprotokol l Luise Riegger v o m 27.7.1984, StAK 8/StS 17/106. 16 Vgl. GLA465a/511414353. 17 Die fo lgenden Aus führungen beziehen sich auf ein Gespräch mit den ehemal igen Schülerinnen und Schülern dieser Klasse, Gisela Becker, Sonja Boldt, Gertrud Hettich, Werner Hettich, Blandina Linder, geführt am 13.11.1996. 18 Zit. Melitta Schöpf , BNN 25.9.1962. 19 Gespräch mit ehemal igen Schülerinnen und Schülern (wie Anm.17) . 20 Zit n. BNN 15.11.1947 21 Vgl. J o s e f Werner: Karlsruhe 1945. Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternen­ banner. Hrsg.: Stadt Karlsruhe, Stadtarchiv. 2. Aufl . Karlsruhe 1986, S. 288 ff. Günther Serfas: „Lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit". Der Neubeginn der Demokrat ischen Volkspartei in Würt temberg -Baden 1945/46. Heidelberg 1986, S. 41. 22 Vgl. StAK 7/NL Riegger/36, 37, 39, 69. Im Zuge der Recherchen d. Verf. zur politischen Partizipation von Frauen in Karlsruhe 1945-1955 wurde dem Stadtarchiv durch Rita Fromm der politische Nachlaß Luise Rieggers freundl icherweise über­ lassen. 23 Vgl. Schreiben Luise Riegger v o m 26.1.1957: StAK 7/NI Riegger/39. 24 Gespräch mit ehemal igen Schülerinnen und Schülern (wie A n m . 1). 25 Vgl. StAK 1/H.-Reg./2885, 2887. 26 Vgl. StAK 1/H.-Reg./2896. 27 7/NI Riegger/50 28 Die Geschichte der Karlsruher Frauengruppe wird eine ausführl iche Darstellung in der von der Autorin verfaßten Studie über die politische Partizipation Karlsruher Frauen in der Nachkriegszeit f inden, die voraussichtl ich 1999 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe erscheinen wird. 29 Vgl. BNN 12.10.1946. 30 Vgl. Walther Wäldele : Von der Jungbürgerfe ier zum Jungbrunnenfes t . A u s dem Wirken einer beispie lgebenden Frau, in: Vom Glück in Karlsruhe zu leben. Hrsg. v. Doris Lott. Karlsruhe 1993, S. 131 - 133. 31 Vgl. BNN 24.9.1962, 7.1.1967,18.4.1973,18.1.1975, 7.1.1982,19.5.1983. 32 Zit. n. Roswitha Baurmann (wie A n m . 12). 104 Erna Schettler ... unsere Erfolge sind durchaus geeignet, uns mit uns selbst zu imponieren Erna Schettler kam 1951 als erste Frau ans Bundesverfassungs­ gericht nach Karlsruhe. Zwölf Jahre lang sollte sie die einzige Frau inmitten des Kollegiums von zunächst 24 dann 20 Bundes­ verfassungsrichtern bleiben. Als Richterin am Ersten Senat des höchsten Deutschen Gerichtes hatte sie vor allem an den Ent­ scheidungen zur Gleichberechtigung der Frau einen großen Anteil. Geboren wurde Erna Friedenthal am 21. September 1893 in Breslau als Tochter eines jüdischen Vaters und einer protestan­ tischen Mutter.1 Sie war erst elf Jahre alt als der Vater, der Besitzer einer Ölmühle war, starb. Der Tod des Vaters ließ sie erfahren, wie schwierig es um die Jahrhundertwende war, sich als Frau zu behaupten, ohne dieselbe Rechtsstellung wie die Männer zu haben. Zu sehen, wie ihre junge Mutter von Vormund und Testamentvollstrecker in Abhängigkeit gehalten wurde, wurde für sie zum Schlüsselerlebnis und wohl prägend für ihren weiteren Lebensweg. Sie beschloß, selbständig zu werden und studierte nach dem Abitur Jura in Heidelberg, München, Berlin und Breslau. 1914 schloß sie das Studium mit der Promotion ab. 1916, als sie geheiratet hatte, versetzte sie die Tatsache, daß die Bank sich nun nicht mehr mit ihrer eige­ nen Unterschrift begnügte, sondern die Zustimmung ihres Mannes verlangte, wenn sie über ihr eigenes Konto verfügen wollte, in helle Empörung.2 Auch der Staatsdienst war Juristin- 105 106 nen damals verschlossen. Erna Schettler sammelte ihre ersten Berufserfahrungen in einer Anwaltskanzlei. Während des Ersten Weltkrieges wurde sie in der deutschen Zivil-Verwaltung im besetzten Brüssel eingesetzt. Erst in der Weimarer Republik war es Frauen dann möglich, die juristischen Staatsprüfungen abzulegen. 1921 bestand sie die Referendar-, 1925 die Assessorprüfung. Bereits Mutter einer Tochter, eröffnete sie eine Anwaltspraxis in Berlin. 1928 erfolgte ihre Übernahme in den preußischen Justizdienst. Im Jahr 1934 wurde sie wegen ihrer jüdischen Abstammung als Amtsgerichtsrätin beim Amts­ gericht Berlin-Mitte entlassen. Nach Kriegsende 1945 baute Erna Schettler das Landgericht in Berlin mit auf. Diese ersten Nachkriegsjahre als Landgerichts­ direktorin zählte sie zu ihren interessantesten als Richterin. Nach der Währungsreform folgte sie ihrem Mann, Georg Schettler, der an das dortige Oberlandesgericht berufen wurde, nach Düsseldorf. Sie nahm Abschied von der Ziviljustiz und wandte sich dem öffentlichen Recht zu. Erna Schettler wurde eine „Frau der ersten Stunde" bei der neu eingerichteten Verwaltungsgerichtsbarkeit und bereits nach einem Jahr erfolg­ te ihre Berufung zur Verwaltungsgerichtsdirektorin. Es war ihre Auseinandersetzung mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die ihr den Weg ins Bundesverfassungs­ gericht ebnete. 1950 hielt sie beim Deutschen Juristentag in Frankfurt das vielbeachtete Hauptreferat zum Thema Gleich­ berechtigung. Sie wurde daraufhin in die Hauptdeputation des Deutschen Juristentages gewählt und 1951 erfolgte ihre Berufung zur Bundesverfassungsrichterin. In den folgenden Jahren wirkte sie an der rechtlichen Umsetzung des Artikel 3 107 Abs . 2 des Grundgesetzes - Männer und Frauen sind gleich­ berechtigt - maßgebl ich mit. Sie war es, die im Jul i 1959, in Vertretung des erkrankten Verfassungsgerichtspäsidenten, ein für die Gleichberechtigung der Frau entscheidendes Urteil verkündete. Der „St ichentscheid" , d. h. das letztliche Ent­ scheidungsrecht , des Vaters bei Differenzen zwischen den Eltern in bezug auf die Kindererziehung wurde v o m Bundes­ verfassungsgericht für ungesetzlich erklärt. In ihrem Wirken für die Gleichberechtigung der Frauen wurde Erna Scheffler durch alle Frauenorganisat ionen unterstützt, die sich intensiv mit dieser Problematik auseinandersetzten. Enge Verb indungen unterhielt sie insbesondere zum Deutschen Akademikerinnenbund (DAB), in dem sie selbst aktiv mitar­ beitete. Bei der Nürnberger Tagung des DAB im Jul i 1951 hielt sie den Eröffnungsvortrag Die Gleichberechtigung der Frau im neuen Recht. 3 Die im Dezember 1949 wiedergegründete Karlsruher Gruppe des DAB begrüßte sie im September 1951 an ihrem neuen Wirkungsort.4 Im November d. J . hielt Erna Scheffler dann das Hauptreferat bei e inem v o m Karlsruher DAB veranstalteten süddeutschen Akademikerinnen-Treffen. An der Arbeit der Karlsruher Gruppe nahm sie auch in den fol­ genden Jahren regen Anteil. Darüber hinaus gehörte sie dem 1950 gegründete Verband berufstätiger Frauen in Karlsruhe an.5 Hier trafen nicht nur Akademiker innen, sondern berufstätige Frauen aus den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen zusam­ men. Nach ihrer Pensionierung im Jahr 1963 leitete Erna Scheffler sechs Jahre (1964-1970) die bundesweite Organi­ sation des DAB. Dieser Tätigkeit Erna Schettlers verdankte Karlsruhe ein Kongreß-Ereignis von internationaler Bedeutung. V o m 8. bis 15. A u g u s t 1968 tagte hier die International 108 Federation of University Women (IFUW), die ihr 50jähriges Bestehen feierte. Erna Schettler, die nach ihrer Pensionierung in Karlsruhe- Wolfartsweier lebte, w idmete sich auch als Vorsitzende des DAB weiterhin ihrem zentralen Thema: der Gleichberechtigung der Frau. So reichte der Akademiker innenbund unter ihrer Präs identschaft be im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Teilzeitarbeit für Beamtinnen ein. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermögl ichen und die Selbständigkeit der Frau zu sichern, waren ihr stets ein wicht iges Anl iegen: Es „... hat uns wohl alle die Erfahrung gelehrt, daß - aller Wertschätzung der Hausfrauen- und Mutterleistung zum Trotz - nur eigene Berufsarbeit, eigenes marktwirtschaftliches Einkommen die Frau wirklich selbständig macht..." 6 Der Probleme, die das mit sich bringt, war sie sich durchaus bewußt , und bis in den Herbst 1972 hat sie in öffentlichen Vorträgen immer wieder auf die Mehr fachbe las tung der berufstätigen Frauen und auf Möglichkeiten der Veränderung hingewiesen. Wenn wir heute ihre Texte lesen, erscheinen die Ansichten dieser Frau, die den etablierten Frauenverbänden angehörte, nicht so weit entfernt von denen der in jenen Jahren entstehenden a u t o n o m e n Frauenbewegung, wenn sie auch in ihren Formulierungen nicht so radikal wirkte. „Der Mann mißt sich selbst an seiner Leistung - vom Kopfjäger bis zum Raumfahrer - die Frau mißt sich an ihrem Sein als Frau und Mutter;... Aber es paßt heute nicht mehr. Angesichts der Technisierung reicht für den Mann im all­ gemeinen die berufliche Leistung heute nicht mehr. Er muß auch in der Familie dasein, nicht nur nebenherlaufen." Und es reicht „für die Frau nicht mehr ihr Dasein in der Familie, sie muß auch im Rahmen der größeren Gemeinschaft etwas 109 leisten." 7 Damit nicht noch die nächste und übernächste Frauengeneration von „Haushalt und Kindern aufgefressen werden", forderte sie einen Wandel der Geschlechterrollen und die Schaf fung gesellschaftl icher Einrichtungen zur Kinder­ betreuung, wie „ausreichende und gute Tageskindergärten und Tagesschulen." 8 Es mag fast etwas entmutigend wirken, wenn wir bedenken, daß sich in den über 25 Jahren seit Erna Scheffler diese Ansichten formulierte, in dieser Richtung so wenig vorwärtsbewegt hat. Doch sie hielt es für wichtig, den Elan zu f inden, „auch in scheinbar rückläufigen Zeiten immer von neuem zu beginnen. " 9 Erna Scheffler hat in ihrem eigenen Lebensweg den Wandel der Rechtsstellung der Frau im 20. Jahrhundert mitvol lzogen: von der rechtlichen Unmündigkei t der Ehefrau und beruflichen Zulassungsbeschränkungen für Frauen bis hin zur - zumindest auf dem Papier garantierten - völl igen Gleichberechtigung. Frauen wie sie hatten einen erheblichen Anteil an d iesem Fortschritt. Bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen, die bei der Umse tzung der im Grundgese tz garantierten Gleich­ berechtigung in die Realität immer wieder zu verzeichnen sind, fand sie es wichtig, sich nicht entmutigen zu lassen und sich des bereits Erreichten zu versichern: „... unsere Erfolge sind durchaus geeignet, uns mit uns selbst zu imponieren. "10 Erna Scheffler verstarb am 22. Mai 1983 im Haus ihrer Tochter in London.11 1 Folgende biographische Angaben wurden entnommen: Erna Scheffler (1893- 1983), in: Frauen in Wissenschaft und Politik. [Sammelband anläßlich des 60jährigen Bestehens des Deutschen Akademikerinnenbundes e. V.]. Hrsg. v. D. Frandsen, U. Huffmann, A. Kuhn. Düsseldorf 1987, S. 75-77 sowie BNN 21.9.1973 und 27.5.1983. 110 2 Vgl. Erna Scheffler: Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im Wandel der Rechtsordnung seit 1918 (1970), in: Frauen in Wissenschaft und Politik (wie A n m . 1), S. 77-97, hier S. 79. 3 Vgl. Archiv DAB Karlsruhe, Fasz. 2 (1948) 1950-1953. Im Zuge der Forschungs ­ arbeiten zur politischen Partizipation von Frauen in Karlsruhe nach 1945 überließ der DAB, Gruppe Karlsruhe, der Verf. freundl icherweise seine Verbandsunterlagen zur Einsicht. 4 Vgl. auch im Folgenden ebenda. Die Geschichte des DAB Karlsruhe wird eine aus­ führliche Darstellung in der von der Autorin verfaßten Studie über die politische Partizipation Karlsruher Frauen in der Nachkriegszeit f inden, die voraussichtl ich 1999 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe erscheinen wird. 5 Der unter Leitung der Jurist in Dr. Alice Haidinger gegründete Verband berufstäti­ ger Frauen Karlsruhe wird ebenda Berücksichtigung f inden. 6 E. Scheffler (wie A n m . 2), S. 92. Ebenda, S. 93. 8 Ebenda, S. 93 f. 9 Ebenda, S. 94. 10 Ebenda S. 78. 11 Vgl. ebenda, S. 77. Eine Todesanzeige des Präsidenten des Bundesver fassungs ­ gerichtes, BNN 27.5.1983, nennt den 23. Mai als Todesdatum. 111 Anna Walch ... geradezu in die CDU hineingeboren „Die Sozialarbeit hat es ihr angetan. Deshalb war sie auch 1945 gleich mit dabei, als es galt, durch mutiges Zupacken der Nachkriegsnot Herr zu werden. "1 Mit diesen Worten würdigten die Badischen Neuesten Nachrichten 1954 Anna Walch. Die Frau, die der Not Herr werden wollte, war bereits nach dem Ersten Weltkrieg führend in der katholischen Frauenarbeit und Sozial fürsorge Karlsruhes tätig gewesen . 1925 veranstaltete sie in der St. Bernhardus-Pfarrei die ersten Basare für Wohltät ig­ keitszwecke. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Anna Walch in der Erholungsfürsorge für Kinder sowie in der Flüchtl ingsfürsorge tätig. Als nach der Währungsre form im Jun i 1948 viele Familien und al leinlebende Frauen infolge des Verlustes von Ersparnissen in finanzielle Schwierigkeiten gerie­ ten, initiierte sie die Einrichtung einer Vermittlungsstelle für Notkäufe. Hiermit sollte den in Not Geratenen die Möglichkeit geboten werden, entweder Gegenstände zu verkaufen oder auch dringend Benötigtes günstig gebraucht zu erwerben. Die in der Durlacher Al lee 60 errichtete Notverkaufsstelle wurde lange J ahre von Anna Walch geleitet und von der Karlsruher Frauengruppe (s. S. 93, Porträt Riegger) g e m e i n s a m mit den konfessionel len Frauenverbänden und dem Roten Kreuz getra­ gen.2 Als Anna Z i m m e r m a n n am 20. November 1881 in Weiler, Kreis S insheim geboren, übersiedelte sie nach dem frühen Tod ihres Vaters mit Mutter und Geschwistern nach Karlsruhe. Sie erlern- 113 te einen kaufmännischen Beruf und hatte im Alter von 25 J a h ­ ren die Position einer Abteilungsleiterin in e inem Karlsruher Kaufhaus inne. Nach nur fünf Ehejahren verlor sie im Ersten Weltkrieg ihren Mann. Der einzige Sohn fiel im Zweiten Welt­ krieg. Diese schmerzhaften Verluste mögen mit eine Antriebs­ feder für ihr sozialpolit isches Engagement gebildet haben. Anna Walch wußte auch, daß die soziale Arbeit nur durch eine Verankerung in der Gemeindepol i t ik erfolgreich abgesichert sein würde. Folgerichtig führte sie ihr Weg in den Gemeinderat . Als katholische Sozialpolitikerin fand sie ihre politische Heimat in der CDU. „Man holte mich einfach. Ich wurde geradezu in die CDU hineingeboren." 3, bemerkte sie später selbst.3 Im Dezember 1947 wurde sie als erste CDU-Frau g e m e i n s a m mit 13 männl ichen Fraktionskollegen in den Stadtrat gewählt.4 Bereits 1946 war sie für ihre Partei in die Ver fassungsgebende Nat iona lversammlung von Würt temberg-Baden eingezogen.5 Ihr hauptsächl iches Betätigungsfeld sah sie jedoch in der Kommunalpol i t ik , w o sie vor allem im Fürsorge-, Krankenhaus- und W o h n u n g s - und Schulge ldausschuß sowie im A u s s c h u ß für J u g e n d e r h o l u n g tätig war.6 Auch ihr frauenpol i t isches Engagement betrachtete sie als eine soziale Frage, nicht als eine Frage der Gleichberechtigung. So forderte sie z. B. im März 1949 angesichts der Arbeitslosigkeit von Frauen die Stadt auf, sich um die Ans ied lung von Textilfirmen und die Schaffung von Heimarbeitsplätzen zu kümmern. 7 Es ging ihr also nicht um die Eroberung neuer Arbeitsgebiete für Frauen, v ie lmehr hielt sie an einer traditionell geschlechtsspezif ischen Arbeitsteilung fest. Anna Walch stand in jener Tradition der katholischen Frauen­ arbeit, die „Mutter- und Schwesternarbeit" in das Gemein ­ schaftsleben hineintragen wollte.8 114 Für ihr politisches und karitatives Wirken wurde sie anläßlich ihres 75. Geburtstages 1956 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Anna Walch starb am 17. März 1966 in Karlsruhe. 1 BNN 10.7.1954. 2 Vgl. BNN 17.7.1948, 11.2.1949, 20.11.1951 und 20.11.1956. 3 BNN 10.7.1954. 4 Vgl. StAK 1/H.-Reg. A 2896. 5 Vgl. Ina Hochreuther: Frauen im Parlament. Südwestdeutsche Abgeordnete seit 1919. Hrsg. v. Landtag Baden-Württemberg u. d. Landeszentrale f. pol. Bildung Baden-Württemberg. Stuttgart 1992, S.118. 6 Vgl. StAK 1/H.-Reg./1878, 2879, 2880. 7 Vgl. Stadtratsprotokoll vom 22. März 1949. 8 Auch im Folgenden BNN 20.11.1951. 115 116 Gisela Walter Mit Freude und großem Wir-Gefühl den Wiederaufbau der katholischen Jugendarbeit gestaltet Das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialisti­ schen Herrschaft bedeutete für Gisela Walter Aufbruch, jedoch nicht Neuanfang.1 Wie bereits in den Jahren vor 1945 war sie in der katholischen J u g e n d b e w e g u n g aktiv. Sie leitete eine Mäd­ chengruppe von St. Stephan, später kam die Leitung einer Gruppe in Mühlburg, Peter und Paul, hinzu. 1951 wurde sie als Vertreterin der Kathol ischen J u g e n d in den S tadt jugend ­ ausschuß delegiert, w o sie 1952 die Funktion der stellvertreten­ den Vorsitzenden übernahm. Der katholische Glaube und die kirchliche Jugendarbe i t hatten das Leben Gisela Walters, geb. Hauser, bereits seit ihrer Kindheit wesentl ich geprägt. Sie wurde 1924 in Rastatt ge­ boren. Ihr Vater, der Notar war, verstarb früh und so wuchs sie mit ihrer Mutter und e inem Bruder auf. Sie besuchte zunächst die Volksschule in Rastatt. 1934 zog die Familie nach Karlsruhe um, w o sie v o m fo lgenden J a h r an bis zum Kriegsbeginn 1939 das F ichte -Realgymnas ium besuchte. 1940/1941 verbrachte sie in Bad Mergentheim und beendete dort die Schule mit dem „Einjährigen", der Mittleren Reife. Nach erneuter Rückkehr nach Karlsruhe besuchte sie zunächst die Hausha l tungs ­ schule des Roten Kreuzes und absolvierte anschl ießend die Krankenpf legeschule des St. Vincent ius-Krankenhauses, die sie 1944 mit dem Examen der „Großen Krankenpf lege" ab­ schloß. 117 Das nationalsozialistische Regime suchte mit einer Vielzahl von Organisat ionen gerade auch auf Kinder und J u g e n d l i c h e Einfluß zu nehmen. Obwoh l Gisela Hauser im katholischen Glauben erzogen und in kirchlichen Kinder- und Jugendgrup ­ pen aktiv war, übte der Bund Deutscher Mädel- hier die Gruppe J u n g m ä d e l der 10- bis 14jährigen - (BDM), insbesondere die Fahrten, die veranstal tet w u r d e n , zunächst eine gew i s se Faszination auf sie aus. Wenn sie mit der J u n g m ä d e l - G r u p p e des BDM auf Wochenendfahrten ging, machte ihre Mutter jedoch stets zur Bedingung, daß sie sonn tagmorgens den Gottesdienst besuche. So mußte sie vor den Fahrten immer fra­ gen, ob es am Zielort auch eine Kirche gab. Das kostete jedes­ mal Überwindung. Meist waren sie dann in der ganzen Schar nur zwei Mädchen, die zum Gottesdienst gingen. Sie empfand die Mutter in ihrem Beharren als streng. Erst im Nachhinein bewunderte sie ihr konsequentes Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime. Bald verlor der BDM auch für sie seine Anziehungskraft . Nach e inem Bombenangr i f f 1942, bei dem das Haus, in dem sie wohnten , zerstört wurde, verließ die Familie für kurze Zeit Karlsruhe. Als sie zurückkehrte, wurde sie nicht mehr als BDM-Mitglied geführt, jedenfal ls forderte sie keiner mehr zur Tei lnahme auf. Im Mittelpunkt stand für sie nun die katholische Mädchenarbeit in St. Stephan. Sie waren eine e ingeschworene Gruppe, und die Kontakte und g e m e i n s a m e Arbeit im kirchlichen Spektrum haben bis in die Gegenwart überdauert. Es war den kirchlichen Gruppen von den National­ sozialisten nur erlaubt, eine „rein religiöse" Arbeit zu machen, doch sie fanden Wege , die engen Bes t immungen zu umgehen. Das Bewußtsein , d iesem Regime entgegenzustehen, war stets lebendig. A ls ein Jesui tenpater für einige Tage an St. Stephan weilte und Vorträge hielt, stenographierten Gisela Hauser und 118 drei andere Mädchen seine Predigt mit. Noch in der gleichen Nacht transkribierten sie die Texte, die dann vom Pater selbst an „seine" Soldaten an die Front verschickt wurden. Im Jahr 1941, so erinnerte sich Gisela Walter, skandierte die katholische Jugend nach einem sehr gut besuchten Gottesdienst mit Erzbischof Gröber in der kath. Stadtpfarrkirche St. Stephan vor dem danebenliegenden Pfarrhaus in der Erbprinzenstraße mit lauten Sprechchören: -„Wir wollen unseren Bischof sehen", obwohl sich der Kirche gegenüber die von SS oder SA bewach­ te höchste Landesbehörde Badens, die Reichsstatthalterei, war. Wenn Gisela Hauser als junges Mädchen auch nicht direkt bedroht war, bekam sie doch mit, daß diese Opposition gefähr­ lich war. So sehnte man das Ende des Nationalsozialismus her­ bei, um sich endlich wieder frei und nach außen gerichtet reli­ giös betätigen zu können. Das Kriegsende erlebte Gisela Hauser als Krankenschwester des St. Vincentius-Krankenhauses. Die Schwesterntracht bot einen gewissen Schutz vor Übergriffen und ermutigte sie zu einem sicheren Auftreten. Dies war nötig, denn sie war alleine, die Mutter war nach Tauberbischofsheim evakuiert worden, der Bruder sollte erst 1954 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehren. Sie empfand die Situation zwiespältig: Einerseits war sie froh, daß der Nationalsozialismus besiegt war, doch sie konnte den Siegern nicht „um den Hals fallen", war doch da auch die Ungewißheit, was diese vorhatten. Die Franzosen, die am 4. April die Stadt besetzt hatten, ließen sie zunächst in der nach der totalen Zerstörung ihres Elternhauses zugewie­ senen Wohnung in der Weifenstraße wohnen. Als Kran­ kenschwester wurde ihr das Recht zugestanden, in dem an­ sonsten geräumten Wohnbezirk zu bleiben. Als Anfang Juni 119 1945 dann die Amerikaner kamen, „befreiten" diese sie von der W o h n u n g und der gesamten Einrichtung.2 Vier J ahre waren sie und ihre Mutter gezwungen , in e inem kleinen Z immer unter primitiven Verhältnissen zu hausen. Dies alles, ausgebombt zu sein, ohne W o h n u n g , ohne jegl iches Hab und Gut dazustehen, hat sie lange nicht überwunden. Dennoch, trotz aller Schwierigkeiten, hat sie das Kriegsende auch als Erleichterung, als Befreiung empfunden . Es herrschte unter den katholischen Jugend l i chen eine Au fbruchs t immung und Begeisterung, etwas miteinander leisten zu können. Ganz entscheidend war das Bewußtsein , nun endlich die J u g e n d ­ arbeit ohne Zwänge entfalten zu können. Man veranstaltete große Kundgebungen . Die Jugendgot tesd iens te in St. Stephan - bis auf den letzten Platz besetzt - waren von der Freude getragen, endlich wieder z u s a m m e n sein zu können. Das katho­ l ische J u g e n d b ü r o im sog . Gesellenhüttchen in der S o p h i e n s t r a ß e 58, geführt von Dekana ts jugendsee l sorger Dietrich Binder, erarbeitete Programmvorsch läge für die einzel­ nen Gruppen und unterstützte deren Arbeit . Es w u r d e n Lesekreise, Volkstanz- , Musikzirkel und Theater -Arbe i ts ­ gemeinschaf ten initiiert und für Jugend l i che ab 18 Jahren Tanzabende mit Motto und Programm veranstaltet. Geme inde ­ abende und die großen Feste der Pfarreien wurden von der J u g e n d gestaltet. Höhepunkte stellten g e m e i n s a m e Fahrten und Lager dar. J e d e s J ahr im September traf sich die gesamte kathol ische J u g e n d Kar lsruhes auf d e m Michelsberg bei Untergrombach. Es wurden politische und religiöse T h e m e n diskutiert. A ls Sieger des dort ausgetragenen Sängerwett ­ streites gingen oft die Mädchen von St. Stephan hervor. Die Begeisterung dieser Jahre , die Freude am Frieden und an der 120 Möglichkeit, etwas aufzubauen, vermittelt sich noch heute in den Erzählungen Gisela Walters. Nun konnte sie auch ihren lange gehegten Entschluß, Sozial­ arbeiterin zu werden, in die Tat umsetzen. Die Ausb i ldung zur Krankenschwes ter war e ine Stat ion auf d e m Weg zum Berufsziel gewesen , das Engagement in der Jugendarbe i t lie­ ferte weitere wichtige Erfahrungen und Kenntnisse. Zunächst absolvierte sie im Kathol ischen Männerfürsorgevere in ein Vorpraktikum, um dann ab 1949 die Soziale Frauenschule in Freiburg zu besuchen. 1951 schloß sie diese Ausb i ldung mit e inem Diplom als Gesundhei ts - und Jugend-Fürsorger in ab. Danach nahm sie eine Tätigkeit beim J u g e n d - und Sozialamt der Stadt Karlsruhe auf. Im selben Jahr wurde sie für die katho­ lische J u g e n d in den neu gegründeten Stadt jugendausschuß delegiert, dessen stellvertretenden Vorsitz sie im fo lgenden Jahr übernahm. Strukturen und Arbeitsweisen dieses von Männern dominierten G r e m i u m s waren ihr zunächst etwas f remd, doch eröffnete ihr die Auseinandersetzung mit den anderen, ganz unterschiedlichen Jugendorgan isa t ionen neue Horizonte. Im Mai 1955 heiratete sie Ludwig Walter. Bei der Geburt ihrer ersten Tochter 1956 war es für sie selbstverständlich, sich Kind und Familie zu w i d m e n und die Berufstätigkeit als Fürsorgerin zunächst aufzugeben. In den fo lgenden Jahren gebar sie drei weitere Töchter. 1974 kam sie als ehrenamtl iche Mitarbeiterin zum Sozialdienst katholischer Frauen (SKF), ein Frauen- und Fachverband im Deutschen Caritasverband, dessen stellvertretenden Vorsitz sie 121 1976 übernahm. Seit 1980 ist sie die Erste Vorsitzende dieses regen Vereins, der seine Beratungsstelle inzwischen in einem schönen alten Haus in der Wörthstraße führt. In dieser Tätigkeit kamen Gisela Walter ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus ihrem Beruf als Sozialarbeiterin zugute. 1 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf zwei Gespräche, die d. Verf. am 6. Februar 1996 sowie am 30. Juli 1997 mit Gisela Walter führte sowie auf schriftliche Notizen, die Gisela Walter freundlicherweise d. Verf. überließ. 2 Zit. Gisela Walter bei einer Veranstaltung zur Situation von Frauen bei Kriegsende am 11. April 1995. 122 Frauenbeauftragte der Stadt Karlsruhe Rathaus am Marktplatz 76124 Karlsruhe Telefon 07 21/1 33 - 30 60, 30 61, 30 62 Termine nach Vereinbarung Jede Frau kann sich über Benachteiligungen beschweren, bei der Durchsetzung ihrer Rechte Unterstützung suchen, Infor­ mationen und Auskünfte erhalten, Anregungen zur Ver­ besserung der Situation von Frauen in Karlsruhe geben. Veröffentlichungen der Frauenbeauftragten der Stadt Karlsruhe: Karlsruher Frauenhandbuch „Wer - Wo - Was", Frauen­ gruppen, Frauenverbände, Beratungsstellen, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte, 1990, 294 Seiten „Auf den Spuren Karlsruher Frauen - ein historischer Stadtrundgang'VOlivia Hochstrasser, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte, 1994, 99 Seiten, Schutzgebühr 5 - DM Mädchengerechte Spielplätze „Beteiligungsprojekt in Oberreut", Dokumentation, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Jugenddezernat und Frauenbeauftragte, 1995, 48 Seiten „Tätigkeitsbericht der Frauenbeauftragten 1990 - 1995", Arbeitsfelder, Erfahrungen und Planungen, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte, 1995 „Frauen erzählen - Karlsruher Frauenportraits'VGun Strecker, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Frauenbeauftragte, 1996, 95 Seiten, Schutzgebühr 5 - DM „Frauen Macht Politik", Dokumentation des Symposiums am 22. November 1996, Hrsg. Stadt Karlsruhe und Stadtarchiv, 121 Seiten Weitere Veröffentlichungen sind im Büro der Frauenbeauf­ tragten erhältlich. 123 Stadtarchiv Karlsruhe Markgrafenstraße 29 76124 Karlsruhe Telefon 07 21/1 33 - 42 23, 42 24 und 42 25 Öffnungszeiten: Montag - Mittwoch 8.30 - 15.30 Uhr Donnerstag 8.30 - 18.00 Uhr Freitag nach Vereinbarung Jeder, der Interesse an der Stadtgeschichte hat, ist willkommen und kann die Archivalien einsehen. Für Gruppen können Führungstermine vereinbart werden. Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs: Band 10 Manfred Koch: Karlsruher Chronik. Stadtgeschichte in Daten, Bildern, Analysen, 1992, 356 Seiten Band 15 Susanne Asche u.a.: Karlsruher Frauen 1715 - 1945. Eine Stadtgeschichte, 1992, 455 Seiten Band 18 Erich Lacker: Zielort Karlsruhe. Die Luftangriffe auf Karlsruhe im Zweiten Weltkrieg, 1996, 232 Seiten Forschungen und Quellen zu Stadtgeschichte: Band 3 Jürgen Schuhladen-Krämer: Zwangsarbeit in Karlsruhe 1939 - 1945. Ein unbekanntes Kapitel Stadtgeschichte, 1997, 176 Seiten Weitere Veröffentlichungen zur Stadtgeschichte: 100 Jahre Mädchengymnasium in Deutschland, Hrsg. Stadt Karlsruhe, 1993, 131 Seiten Straßennamen in Karlsruhe, Hrsg. Stadt Karlsruhe, Karlsruher Beiträge Nr. 7, 1994, 216 Seiten Auf dem Weg zur Großstadt. Karlsruhe in Plänen, Karten und Bildern 1834- 1915. Ausstellungskatalog, hrsg. von Manfred Koch, 1997, 80 Seiten Weitere Publikationen des Stadtarchivs sind im Buchhandel oder im Stadtarchiv erhältlich. 124 Wer waren in Karlsruhe die Frauen, die nach 1945 die Stadt wieder aufbauten? In diesem Buch werden 13 von ihnen vorgestellt, Politikerinnen, Juristinnen, Sozialarbeiterinnen und Vertreterinnen von Frauenorganisationen und konfessionellen Gruppen. Einige von ihnen waren Verfolgte des Nationalsozialismus, die hierher zurückkehrten. Andere überwinterten die NS-Zeit in der inneren Emigration. Alle beteiligten sich am Wiederaufbau einer demo­ kratischen Kommune in Karlsruhe. Sie sind die „Mütter der gegenwärtigen Gesellschaft", deren Erinnerungen und Leistungen in diesem Band präsentiert werden. WM Karlsruhe
https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/frauengeschichte/truemmern/HF_sections/content/1330429237172/ZZkpIo94pmFFPk/zwischen_truemmern.pdf
Karlsruhe: Stadtgeschichte Gedenkbuch für die Karlsruher Juden: Lebenslauf Familie Zimmermann Liba und Israel, Jonas und Moses Zimmermann In Erinnerung an die Familie Liba und Israel, David, Erna, Ida Judith, Jonas und Moses Zimmermann Die Namen der Eheleute Israel Mendel und Liba Nacha Zimmermann und die ihrer beiden Söhne Jonas und Moses Zimmermann sind auf dem Gedenk­stein für die von den Natio­nal­so­zia­lis­ten ermordeten Karlsruher Juden zu lesen, der auf dem jüdischen Friedhof in Karlsruhe im Jahr 2002 zum Gedenken an die vielen ermordeten Menschen unserer Stadt aufge­stellt wurde. Das Leben der Familie Zimmermann nachzu­voll­zie­hen, war anfangs keine einfache Sache gewesen, da außer wenigen Dokumenten im Stadt­ar­chiv und im Generallan­des­ar­chiv Karlsruhe keine Spuren geblieben sind. Aber gerade deshalb habe ich diese Heraus­for­de­rung gerne angenommen und habe auf vielen Wegen versucht, etwas mehr über Israel und Liba und ihre Kinder David, Erna, Ida Judith, Jonas und Moses Zimmermann heraus­zu­fin­den. Über einen großen und glück­li­chen Zufall habe ich Kontakt zu Herrn Israel Cabasso in den USA bekommen, dem Sohn von Ida Judith Zimmermann, der es mir erlaubt und mir geholfen hat, die Geschichte seiner Familie auch für andere Menschen zugänglich zu machen. Er besuchte im September 2002 seinen 92-jährigen Onkel David Zimmermann in Israel, der ihm manches über seine Geschwis­ter und seine Eltern berichtete. Beide stellten mir Fotogra­fien und Briefe der Familie zur Verfügung. David Zimmermann starb im Juni 2003. Die Wurzeln der Familie Zimmermann liegen nach Aussage von David Zimmermann im Schwarz­wald, von wo die Vorfahren nach Osteuropa ausge­wan­dert waren. Israel Mendel Zimmermann wurde am 15. Mai 1880 in der Industrie-und Handels­stadt Ostrowiec bei Radom, damals Russisch-Polen, geboren, als Sohn des Kaufmanns Pinkus Zimmermann und von Pessel Zimmermann, geborene Weissvogel. Israel Zimmermann besuchte in Ostrowiec die Volks­schule, und war nach der Schule bis zu seinem Militär­dien­stein­tritt im elter­li­chen Geschäft tätig. Er diente von 1901 bis 1906 im russischen Heer und musste dabei den Krieg zwischen Russland und Japan in einer nicht genauer bekannten Form mitmachen. Nach seiner Militär­dienst­zeit heirateten er und Liba in Ostrowiec, die Eheleute betrieben gemeinsam und selbstän­dig ein Manufak­tur­wa­ren­ge­schäft. Liba Nacha Zimmermann war die Tochter von Moses Antflick und Idesa Antflick, geborene Fuden. Sie war am 28. August 1875 ebenfalls in Ostrowiec auf die Welt gekommen. Die Vornamen Liba Nacha hat sie selbst in den Antrag auf Einbür­ge­rung in den badischen Staats­ver­band, den die Familie im Oktober 1930 gestellt hatte, einge­tra­gen, daher werden diese beiden Namen in der Biographie benutzt; aber auch die Namen Liese und Lina wurden von ihren Kindern und auf Dokumenten, die für diesen Beitrag vorlagen, verwendet. In den Jahren 1906/1907 kam es in der Heimat der beiden Eheleute immer wieder zu Juden­po­gro­men, daher beschlos­sen sie beide wegzu­zie­hen, in ein vermeint­lich und tatsäch­lich vorläufig sichereres Umfeld. So waren sie seit 1907 in Karlsruhe wohnhaft. Sie zogen in das "Dörfle", die Karlsruher Altstadt mit einem relativ hohen Anteil an jüdischen Bewohnern. Israel Zimmermann war in Karlsruhe in den Jahren von 1907 bis 1909 bei der Firma Richard Pahr in der Kronen­straße als Schneider in Heimarbeit tätig, diesen Beruf hatte er noch in der alten Heimat während seines Militär­diens­tes erlernt. Seit dem Jahr 1909 betätigte er sich selbstän­dig als Trödler und Altwa­ren­händ­ler. Aus den Adress­bü­chern der Stadt Karlsruhe ist ersicht­lich, dass die Familie bis 1916/17 in der Durlacher Straße 75 (die heutige Brunnen­straße bzw. Straße Am Künst­ler­haus) wohnte, danach bewohnten sie eine Wohnung in der Durlacher Straße 42. Als Berufs­an­gabe für Israel Zimmermann findet sich in den Adress­bü­chern in der Anfangs­zeit Schneider, später ab 1921 Händler und ab 1922 Handels­mann. Ab der Ausgabe des Karls­ru­her Adress­bu­ches von 1923 ist die Adresse Markgra­fen­straße 3 aufgeführt. Dieses beschei­dene zweiein­halb­stö­cki­ge Mehrfa­mi­li­en­wohn­haus war durch Kauf am 10. Mai 1922 das Eigentum der Zimmer­manns geworden. Im Erdge­schoss des Hauses betrieb die Familie ihr Geschäft, im 1. Oberge­schoss bewohnten sie eine kleine Vierzim­mer­woh­nung mit "Salon" (Wohn­zim­mer), mit einem Esszimmer, mit einem Schlaf­zim­mer und einem Kinder­zim­mer mit drei Betten und der Küche. Das Haus hatte noch zwei weitere Wohnungen, die vermietet waren. Leider wurde das Haus 1944 total ausgebombt, Fotos davon liegen keine vor, so dass sich das genaue Aussehen nicht mehr feststel­len lässt. Im Jahr 1910 kam das erste Kind der Zimmer­manns auf die Welt, David Zimmermann. David wurde am 14. Februar in Karlsruhe geboren. Laut seiner späteren Ehefrau Lisa hatte er die Realschule besucht. Im November 1930, als 20-Jähriger, war er als Reisender auf Provi­si­ons­ba­sis für eine Firma Schader & Companie in Pausa, im Vogtland, tätig und verdiente seinen eigenen Lebens­un­ter­halt. Er konnte schon recht früh, nämlich im Jahr 1934, nach Palästina auswandern. Dies tat er gemeinsam mit seiner Frau Lisa, geborene Kafka, die ebenfalls in Karlsruhe zuhause gewesen war. Beide hatten in Karlsruhe am 26. Juni 1934 geheiratet. 1938 fand David Zimmermann Arbeit bei der Raffinerie in Haifa. Seit Ende der 1950er Jahre lebte er als Beamter der Haifaer Raffi­ne­rien in Kiriat-Motzkin bei Haifa. David Zimmermann starb im Juni 2003. Genau zwei Jahre nach David, am 14. Februar 1912, kam das zweite Kind der Zimmer­manns auf die Welt, Erna. Im Antrag auf Einbür­ge­rung der Familie von 1930 ist angegeben, dass Erna im November 1930 eine Nähschule besuchte, ohne eigenen Verdienst war und bei den Eltern zuhause wohnte. Auf jeden Fall schaffte sie es, recht­zei­tig in die USA zu entkommen. Hier heiratete sie im Oktober 1939 Egon Stern, mit dem sie gemeinsam vier Kinder hatte. Erna Stern verstarb in den USA bereits im April 1960. Das dritte Kind der Familie, Moses - er wurde von der Familie Mosch genannt -, kam am 27. September 1914 in Karlsruhe zur Welt. Aus dem Antrag auf Einbür­ge­rung ist zu entnehmen, dass Moses im November 1930 das Polster­hand­werk erlernte, noch ohne eigenen Verdienst war und ebenfalls zuhause bei den Eltern wohnte. Sein Bruder David berichtet, dass er als junger Mann ein halbpro­fes­sio­nel­ler Fußball­spie­ler war, immer genügend Geld hatte, sich daher auch ein Auto leisten konnte und viele Reisen unternahm. Moses verlobte sich mit Magdalena (Lena) Kafka. Sie hatten beide vor, gemeinsam in die USA auszu­wan­dern. Lena war die Schwester von Lisa Kafka, die David Zimmermann gehei­ra­tet hatte und mit ihm gemeinsam im Sommer 1934 nach Palästina der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verfolgung entkommen konnte. Lena selbst konnte nach England gelangen und lebte dort lange Zeit alleine, bis sie erst in den Jahren 1959/60 durch eine Suchan­zeige, die sie in einer deutsch­spra­chi­gen Zeitung in Israel aufgegeben hatte, ihre Schwester und ihren Schwager David wiederfand und dann auch nach Israel zog. Am 1. Juni 1917 kam das vierte Kind, Jonas auf die Welt. 1930, zum Zeitpunkt des Einbür­ge­rungs­an­tra­ges, lebte er zuhause bei seiner Familie, er ging als 13-Jähriger noch zur Schule. Jonas erlernte wohl, wie sein Vater, den Beruf des Schneiders. Schließ­lich kam am 31. März 1920 Ida Judith auf die Welt. Als die Familie den Antrag auf Einbür­ge­rung stellte, war sie zehn Jahre alt. Sie ging acht Jahre zur Markgra­fen­schu­le (heute Hans-Thoma-Schule) in der Markgra­fen­straße, die Straße in der die Familie auch wohnte. Nach der Schule begann sie im Geschäft Beer & Haas am Mühlburger Tor eine Ausbildung zur Modis­tin/­Putz­ma­che­rin. Gleich­zei­tig besuchte sie ab dem 5. Oktober 1934 die Gewer­be­schule. Ida Judith verließ im Juli 1935 die Schule, da sich die Lehrer immer unerträg­li­cher antise­mi­tisch verhielten. Kurz danach musste sie auch ihre Ausbildung aufgeben, da die Ausbil­dung ohne Besuch der Berufs­schule nicht möglich war. Ida Judith gelang es 1936, mit 16 Jahren, nach Palästina auszu­wan­dern. Hier warteten anfangs große Probleme auf sie: Sie hatte kein Geld und keine Kenntnisse der hebräi­schen Sprache. Die ersten zwei Jahre ihres neuen Lebens in Palästina verbrach­te Ida Judith im Kibbuz Aschdoth Jaakow, danach verließ sie den Kibbuz und versuchte, als Hausan­ge­stellte ihren Lebens­un­ter­halt zu verdienen. Am 14. Juli 1940 heiratete sie ihren Mann Viktor (Haim Ezra) Cabasso, der als Kaufmann ein eigenes kleines Geschäft besaß. Bis zur Geburt des ersten Sohnes im November 1942 war sie als Kinder­pfle­ge­rin tätig, 1951 kam das zweite Kind, eine Tochter auf die Welt. Ida Judith verstarb 1997 in Israel. Ein Antrag auf Erlangung der deutschen Staats­bür­ger­schaft war von der Familie Zimmermann im Oktober 1930 gestellt worden. Offen­sicht­lich wollten sie nicht mehr länger mit dem Status der Staaten­lo­sig­keit bzw. der offizi­el­len Zuordnung als polnische Staats­bür­ger hier leben. Sie gaben unter anderem an, dass die Familie schon 23 Jahre in Karlsruhe wohnte, dass sie ein genügend hohes Einkommen vorweisen könnten (neben dem Geschäft des Vaters betrieb Liba einen Handel mit Eiern, Butter und Fett bei jüdischen Familien, die sie in ihren Wohnungen aufsuchte), dass alle Kinder in Karlsruhe geboren wären und sich alle aus diesen Gründen mehr in Deutsch­land als in Polen zuhause fühlten. Mehrere Zeugen, die über die Familie Aussagen machten, sprachen vom guten Ansehen, das die Familie genieße. Vom Oberbür­ger­meis­ter der Stadt Karlsruhe wurde der Antrag am 12. März 1931 jedoch abgelehnt. Wie muss man sich das Leben von Israel und Liba Zimmermann und ihrer Kinder in den 1930er Jahren in Karlsruhe vorstel­len? Das Buch "Haken­kreuz und Judens­tern", Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich, von Josef Werner enthält viele Infor­ma­tio­nen, die hier in Teilen genannt, helfen, sich das Leben der Familie ein wenig vorstellen zu können. Nach der "Machter­grei­fung" Hitlers fanden in Karlsruhe in der Kaiser­straße am 13. März 1933 die ersten Demons­tra­tio­nen gegen jüdische Geschäfte statt. Zimmer­manns in der Markgra­fen­straße werden davon verschont geblieben sein, aber was mag sich in ihren Köpfen abgespielt haben? Am 1. April 1933 fand ein Boykott gegen alle jüdischen Geschäfte in ganz Deutsch­land statt. Spätestens jetzt wird die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Hetze die Familie in vollem Umfang erreicht haben. Kurz danach, am 17. Juni wurden auf dem Schloss­platz Bücher jüdischer und solcher, die die Natio­nal­so­zia­lis­ten als "undeut­sche" Autoren bezeich­ne­ten, verbrannt. Noch im Jahr 1933 konnten 165 Karlsruher Juden auswandern, ab Herbst 1935 wurden Juden Reise­päs­se überwie­gend nur noch für Geschäfts­rei­sen ausge­stellt. Ab Oktober 1935 wurde die sogenannte Juden­kar­tei in Karlsruhe angelegt. Sie diente der syste­ma­ti­schen Erfassung aller Juden, um auf alle einen schnellen Zugriff haben zu können. Ein Teil der Karlsruher "Juden­kar­tei" ist heute noch überlie­fert. Von keinem aus der Familie Zimmermann aber ist die Kartei­karte erhalten geblieben. Ende 1938 war es für alle Juden in Deutsch­land verpflich­tend, Israel und Sara als zweite Vornamen anzunehmen. Im Oktober 1938 ergab sich für die Familie eine absolute Zuspitzung der immer schreck­li­cher werdenden Umstände: Alle volljäh­ri­gen männlichen Juden mit polni­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit wurden am Vorabend und in der Nacht zum 28. Oktober 1938 verhaftet und aus Deutsch­land nach Polen ausge­wie­sen. Dies betraf den Vater Israel und seine beiden Söhne Jonas und Moses, David war glück­li­cher­weise schon seit 1934 nicht mehr da. Ida Judith war ebenfalls seit 1936 nach Palästina entkommen. Vermutlich war auch Erna zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bei der Familie. So blieb Liba Zimmermann alleine in Karlsruhe zurück. Die drei Männer wurden mit vielen anderen am 28. Oktober 1938 vom Verla­de­bahn­hof Karlsruhe zunächst nach Mannheim trans­por­tiert. Dann wurden sie in Zügen bis zur deutsch-polnischen Grenze zum Ort Bentschen (Zbaszyn, in der Woiwod­schaft Posen) trans­por­tiert, auf Lastwagen bis an die Grenze heran­ge­fah­ren und dann auf die Felder nach Polen gejagt. Die polnische Regierung weigerte sich, die Männer aufzu­neh­men, so mussten die Ausge­wie­se­nen mehrere Monate lang im Niemands­land durch­hal­ten. Danach kam es im Januar 1939 aufgrund von inter­na­tio­na­len Protesten zu einer Verein­ba­rung zwischen Polen und dem Deutschen Reich, die den Abgescho­be­nen eine kurze Rückkehr in ihre Heimatorte zur Abwicklung von Geschäften, von Haushalts­auf­lö­sun­gen und der Auswan­de­rung erlaubte - die Durch­füh­rung zog sich bis zum Kriegs­be­ginn hin. Es existiert ein Brief, den Jonas und sein Vater Israel aus Bentschen an den Bruder David geschrie­ben hatten. Er datiert vom 5. Mai 1939, das heißt, die Männer waren bereits sieben Monate dort. Im Brief bittet Jonas seinen Bruder verzwei­felt, öfter zu schreiben, da die Nachrich­ten von zuhause das einzige wären, was ihnen bliebe. Er schrieb, dass es ihnen den Umständen entspre­chend ginge, sie lebten einge­schlos­sen in einer Sumpf­land­schaft und viele Menschen im Lager wären schwer krank. Jonas berichtete auch, dass sie von seiner Schwester Erna regelmäßig Post erhalten würden, und von ihr auch regelmäßig Geld empfingen, was sie am Leben erhalten würde. Aus dem Schreiben ist ersicht­lich, dass die Mutter in Karlsruhe alleine wohnte und mit den drei Männern in Brief­kon­takt war. Auch die Mutter war verzwei­felt, keine Infor­ma­tio­nen über ihre Kinder zu haben. Im Brief überlegte Jonas, aus dem Lager zu fliehen und sich illegal durch­zu­schla­gen. Er bat seinen Bruder David verzwei­felt um Rat, was er denn tun solle. Laut Ida Judith kamen ihr Vater Israel und ihre Brüder Jonas und Moses dann im Sommer 1939 wieder nach Karlsruhe zurück. Welche genauen Pläne sie hatten, ließ sich nicht heraus­fin­den. Anträge auf Ausreise haben sie jeden­falls nicht gestellt. Israel Zimmermann ging sicherlich zu seiner Frau zurück, um sie nicht alleine zu lassen. Das Haus der Zimmer­manns wurde von der Stadt Karlsruhe am 10. August 1939 zwangs­weise zurück­ge­kauft. Im Kaufver­trag stand zu lesen, dass sie ihre eigene große Wohnung räumen müssten, dafür war die Benutzung einer Zweizim­mer­woh­nung mit Küche gestattet, aber nur bis spätestens 1. Oktober 1939. Bei der Unter­zeich­nung des Vertrages war Israel Zimmer­mann anwesend, er unter­schrieb gemeinsam mit seiner Frau Liba. Kurze Zeit später, am 1. September 1939 wurde Israel Zimmermann von der Geheimen Staats­po­li­zei Karlsruhe verhaftet. Ob er gewusst hat, welches Schicksal ihn erwartet? Dazu musste er seine Frau auch noch alleine zurück­las­sen! Israel Zimmermann wurde in das KZ Dachau gebracht, er bekam die Häftlings­num­mer 19574, nach einem Jahr wurde er im KZ Sachsen­hau­sen (am 17. September 1940) regis­triert, am 12. Juli 1941 kam er in das KZ Buchenwald (Häft­lings­num­mer 8626). Dort verstarb Israel Zimmermann am 13. August 1941 um 2:55 Uhr, im Alter von 61 Jahren. Als seine Todes­ur­sa­che war Herzin­suf­fi­zi­enz angegeben worden, wie so oft bei Juden, die man verhungern ließ oder auf andere Weise grausam ermordete. Was geschah mit den beiden Söhnen? Nach einem Bericht von Lena Kafka wurde ihr Verlobter Moses während der Reichspo­grom­nacht am 9./10. November 1938 in Karlsruhe verhaftet, später in ein KZ verschleppt und umgebracht. Dies waren die Infor­ma­tio­nen, die ihr bekannt waren. Moses Zimmermann war wie all die anderen verhaf­te­ten jüdischen Männer in Karlsruhe nach dem KZ Dachau verbracht worden. Anders als die meisten davon, wurde er nicht im folgenden Dezember oder Januar wieder entlassen. Im April 1939, als seine Verlobte ausreisen konnte, war Moses immer noch in Haft, muss dann aber in der Folgezeit entlassen worden sein. Denn nach Beginn des Krieges 1939 war er in Halle an der Saale bei der jüdischen Gemeinde regis­triert. Dorthin waren zahlreiche Juden aus Karlsruhe aus Furcht vor Kriegs­hand­lun­gen gegangen, da sie im Gegensatz zu den "arischen Volks­ge­nos­sen" nicht durch behörd­li­che Organi­sa­tion in sichere "Evaku­ie­rungs­gaue" gebracht wurden. Moses Zimmermann wohnte in Halle in einer Massen­un­ter­kunft. Aus einem Brief von Moses an seinen Bruder David vom 7. September 1941, übermit­telt durch das Rote Kreuz, geht hervor, dass er sich zu diesem Zeitpunkt immer noch dort befand. 1942 begann in Mittel­deutsch­land die syste­ma­ti­sche Depor­ta­tion der Juden. Moses wurde nachweis­lich am 30. Mai/1. Juni 1942 in einem Sammel­trans­port von Leipzig nach Lublin (Lublin war die Hauptstadt des gleich­na­mi­gen Distriktes, das Ghetto in Lublin bestand bis Oktober 1942) gebracht. Von dort wurde er nach Majdanek (Vernich­tungs­la­ger im Distrikt Lublin, von Herbst 1942 bis Ende 1943 fanden Massen­tö­tun­gen durch Gas statt, im November 1943 Masse­n­er­schie­ßun­gen) gebracht und ermordet. Sein Name ist auf einer Krema­to­ri­ums­liste zu finden. Wann er dort genau ermordet wurde, ist nicht mehr aufzu­klä­ren. Amtsge­richt­lich wurde Moses später auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt, doch dieses Datum diente lediglich juris­ti­schen Ansprüchen. Laut Israel Cabasso erhielt seine Mutter Ida Judith 1987 den Bericht von einer Frau, die Moses angeblich in Berlin gekannt hatte, dass Moses Zimmermann aus dem KZ hätte fliehen können und sich angeblich in Berlin einer Wider­stands­gruppe angeschlos­sen habe und hier von der Gestapo 1942 erschossen worden sei. Diese Nachricht - trotzdem sie sehr zweifel­haft ist - war für seine Schwester furchtbar. Sie scheint, da sie nie einen endgül­ti­gen Beweis hatte, dass ihr Lieblings­bru­der nicht mehr lebte, all die Jahre gehofft zu haben, ihn eines Tages wieder zu sehen. Und sein Bruder Jonas? Über seinen Weg gibt es keine weiteren Infor­ma­tio­nen. Daher wurde der Todes­zeit­punkt für Jonas amtlich ebenfalls auf den 8. Mai 1945 festgelegt. Liba Zimmermann war ganz alleine geblieben, ohne ihren Mann, ohne ihre Kinder. Es ist schwer vorstell­bar, was in ihr vorge­gan­gen sein muss. Für die Zeit zwischen der Verhaf­tung von Israel Zimmermann am 1. September und dem Datum des 19. September 1941 ließ sich nicht heraus­fin­den, in welchen Verhält­nis­sen sie genau leben musste. In der "Nament­li­chen Liste von polnischen Juden in Karlsruhe" und in einer "Nament­li­chen Liste von polnischen Juden", zusam­men­ge­stellt von der Geheimen Staats­po­li­zei Berlin, ist die Angabe zu finden, dass sie etwa 1939 zur Ausweisung nach Polen vorgesehen war. Sehr wahrschein­lich hielt sie sich in dieser Zeit aber in Halle auf. Am 19. September 1941 kam sie dann nachweis­lich nach Leipzig. Ob sie gewusst hat, dass ihr Mann nicht mehr lebte? In Leipzig hatte sie ihren letzten Wohnsitz in der Gustav-Adolf-Straße 7, dies war ein so genanntes Judenhaus. Liba Zimmermann musste wie alle anderen Juden seit September 1941 den Judenstern tragen. Am 21. Januar 1942 wurde sie, 66-jährig, aus Leipzig nach Riga (Lettland) deportiert. Es ist bekannt, dass in dem strengen Winter 1941/1942 für die Depor­tier­ten nur unbeheiz­te Güterwagen verwendet wurden. Ob und wie lange sie in Riga in dem dortigen Ghetto leben und leiden musste, ist nicht bekannt. Aufgrund ihres Alters wäre auch anzunehmen, dass sie beim Erreichen von Riga mit anderen älteren Menschen und Müttern mit kleinen Kindern nicht in das dortige Ghetto, sondern in den Wald von Bikernieki oder Rumbula gebacht wurde, um dort erschossen zu werden. Falls sie nicht unter den sofort Erschos­se­nen war, muss sie ein grausames Schicksal im Ghetto erlitten haben. Die Räumung des Ghettos begann im Spätsommer 1943, alle als arbeits­un­taug­lich geltenden Menschen wurden Anfang November nach Auschwitz deportiert und dort ermordet, die anderen in das KZ Kaiserwald trans­por­tiert. Am 30. November 2001 wurde in Anwesen­heit der letti­schen Minis­ter­prä­si­den­tin und vieler Reprä­sen­tan­ten aus Deutsch­land und weiterer europäi­scher Länder die Gräber- und Gedenk­stätte in Riga-Bikernieki eingeweiht. Auf dem zentralen Gedenk­platz wurde ein Altarstein errichtet, in den Metall­kap­seln mit den Namen der Opfer einge­mau­ert werden. Auch Liba Zimmer­manns Name ist hier zu finden. Israel Cabasso, dem Sohn von Ida Judith Zimmermann, bin ich sehr verbunden und dankbar, dass er mich bei der Biographie der Familie so freundlich unter­stützt hat. (Monika Dech, November 2003)
https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/gedenkbuch/kontakt/zimmermann
Karlsruhe: Stadtgeschichte Katholische Kirche St. Michael Gebhardstraße 44, Beiertheim-Bulach Der Beiert­hei­mer Altar Der Beiert­hei­mer Altar, ein spätgo­ti­scher Flügel­al­tar, entstammt der nach 1521 errich­te­ten und erstmals 1527 urkundlich erwähnten "Beiert­hei­mer Michaels­ka­pel­le". Seine Skulpturen im Schrein werden der Straß­bur­ger Werkstatt des Hans Wydyz (1497 – 1510 in Freiburg im Breisgau nachweis­bar) zugeschrie­ben, die Malereien auf den Flügeln einem Meister, der mit L. F. signiert und die Malereien auf "1523" datiert. Das diesbe­züg­li­che Inven­tar­ver­zeich­nis von 1535 nennt einen Altar "unser lieben fraun". Das Speyerer Visita­ti­ons­pro­to­koll - Beiertheim gehörte damals zum Bistum Speyer - meldet 1702 "Altar Beatae Virginis, S. Michaelis, S. Wende­li­nis". In der Folgezeit, etwa um 1745, nahm man den Altar ausein­an­der und rahmte seine Flügel als Einzel­bil­der. Die drei Schrein­fi­gu­ren wurden in einen eigens geschaf­fe­nen barocken Altarauf­satz der Michaels­ka­pelle gestellt. Die Altarteile nahmen in der Folgezeit am Schicksal der immer als baufällig geschil­der­ten Kapelle teil. Erst 1936 wurde die Zusam­men­ge­hö­rig­keit der Altarteile bei der Inven­ta­ri­sie­rung der Kunst­denk­mä­ler wieder festge­stellt. Der Zweite Weltkrieg verhin­derte einen begon­ne­nen Restau­rie­rungs­ver­such. 1939 wurde der Altar nach Moosbronn ausge­la­gert, wo er den Krieg überstand. Auch die Michaels­ka­pelle erlitt 1944 nur einen verhält­nis­mä­ßig leichten Bomben­scha­den, wurde jedoch jahrelang nicht gesichert, so dass ihre Reste 1957 nur noch abgeris­sen werden konnten. Nach der Rückkehr des Altars aus Moosbronn stand die Predella auf dem linken Seiten­al­tar der bereits 1914/15 errich­te­ten Beiert­hei­mer Notkirche, die Figuren in der Sakristei, die Flügel­bil­der auf dem Speicher. Die heutige St. Michaels­kir­che war der erste katho­li­sche Kirchenbau in Karlsruhe nach dem Zweiten Vatika­ni­schen Konzil und wurde 1963-1965 von Werner Groh erbaut. Das Äußere ist durch Sichtbeton bestimmt, das Innere mit gelben Ziegeln verkleidet. In das Baupro­gramm der neuen Kirche mit quadra­ti­schem Grundriß wurde an der südwest­li­chen Ecke eine dreisei­tige Kapelle eigens für den Beiert­hei­mer Altar angefügt. In zweijäh­ri­ger Arbeit wurde das Altarwerk mit einem Kosten­auf­wand von 30.000,— DM in einem schlich­ten neuen Gehäuse wieder zusam­men­ge­führt und vollstän­dig restau­riert. Die Farben der Altar­flü­gel prangen nun in ursprüng­li­cher Pracht. Die mittleren Schrein­fi­gu­ren wurden aller Übermalung entledigt, das Lindenholz einge­wachst und konser­viert. Bei der Predel­la­gruppe wurde die Urfassung freigelegt; ebenso stieß der Restau­ra­tor bei der Kreuzi­gungs­gruppe auf die noch erhaltene Urfassung. Ein Blick auf den geöff­ne­ten Flügel­al­tar Im Schrein: Links: Hl. Wendelin, bärtig, in Hirten­tracht mit Hirten­ta­sche. Ochse und Hund sind als Attribute beigegeben. Sie weisen ihn als Patron der Bauern und Hirten aus. In St. Wendel bei Trier ist sein Grab. Er starb Ende des 7. Jh. (Fest am 20. Oktober.) Mitte: Maria als Königin­mut­ter mit Kind. Sie steht auf der Mondsichel, darin ein Türken­haupt mit Turban, was auf den jahrhun­der­te­lan­gen Kampf zwischen Kreuz und Halbmond hindeutet, der durch die Fürbitte der Gottes­mut­ter zugunsten des Kreuzes entschie­den wurde. Rechts: St. Michael, Patron der alten Michaels­ka­pelle, der 1914/1915 erbauten Notkirche wie auch der neuen Kirche. Mit dem Schwert bedroht er den Teufel, der sich in sein Gewand verkrallt. (Fest am 29. September.) Die geschnitzte Predella zeigt das Abendmahl. Die Apostel sitzen in zwei Gruppen hinter langge­streck­ten Tischen. Die Chris­tus­fi­gur wurde im 19. Jh. ergänzt. Der belebende Rhythmus, der die originären Zweier­grup­pen der Apostel durchweht, die anstei­gen­den Tische mit den überwal­len­den Gewändern lassen auf einen hervor­ra­gen­den Meister schließen. Die Kreuzi­gungs­gruppe mit Maria und Johannes auf dem Schrein gehört derselben Zeit an. Das ebenfalls alte Kruzifix ist jedoch eine spätere Ergänzung. Die Urfassung der ausdrucks­star­ken Figuren ist unter der abgenom­me­nen mehrfachen Übermalung gut erhalten geblieben. Diese Gruppe stand wohl ursprüng­lich in einem Gesprenge, auf das bei der Neuan­fer­ti­gung des Schreines verzichtet wurde. Die Dreh- und Stand­flü­gel des Altars, der nur an Feiertagen geöffnet werden darf, sind mit Heili­gen­dar­stel­lun­gen bemalt. Linker Drehflügel - Vorder­seite Hl. Valentin, Bischof mit Kasel und den gewöhn­li­chen Emblemen Buch und Stab. St. Valentin ist Patron der Epilep­ti­ker und Krüppel, daraus erklärt sich die Gestalt zu seinen Füßen als beson­de­res Attribut. (Fest am 7. Januar.) St. Margareta wurde zu Antiochia in Pisidien zur Zeit des Diokletian gemartert, weil sie den Stadt­prä­fek­ten Olybrius, der sie begehrte, nicht ehelichen wollte um den Preis des Glaubens­ab­fal­les. Mit dem Kreuz­zep­ter besiegt sie den Drachen der Ichver­haf­tet­heit. (Fest am 20. Juli.) Rechter Drehflügel - Vorder­seite Blasius, Bischof von Sebaste, wurde unter Kaiser Diokletian gemartert und gehört zu den 14 Nothelfern. Er trägt den Bischofs­stab, aber nicht das gewohnte Buch. Seine Linke hält eine Kerze, was auf die vielen Votiv­ker­zen hinweist, die bei schweren Krank­hei­ten vor seinem Bild aufge­stellt wurden. Der Blasi­us­se­gen mit den beiden zum Andre­as­kreuz geformten Kerzen hält sein Andenken bis heute wach. (Fest am 3. Februar.) Hl. Juliana in falten­rei­chem, oben anschlie­ßen­dem Gewand ohne Krone. Als Attribut hält sie das Buch der Bibel in der Hand. Zu ihren Füßen kauert eine Teufels­ge­stalt, die sie mit einer Kette in ihrer Linken bändigt, was auf die Bewäl­ti­gung wider­gött­li­cher Verlo­ckun­gen bis hin zum Martyrium hindeutet. Sie wurde gemartert unter Kaiser Diokletian. (Fest am 16. Februar.) Blick auf den verschlos­se­nen Flügel­al­tar Linker Stand­flü­gel Bischof Theodulf mit Pluviale und den gewöhn­li­chen Attributen Buch und Stab. Er gehört in die Reihe der Sittener Bischöfe. Drei seines Namens werden aus dieser Reihe als Heilige verehrt. Er starb 390. (Fest am 16. August.) Zu seinen Füßen liegt ein Zettel, der die Entste­hungs­zeit des Altares mit "1523" angibt, also zur Zeit der begin­nen­den Refor­ma­tion in Deutsch­land. Im Schweiß­tuch des Bischof­sta­bes steht das Künst­ler­mo­no­gramm "L", während auf dem rechten Stand­flü­gel ein "F" zu entdecken ist. Das Monogramm "L F" ist bis heute nicht sicher zu deuten. Jedoch zeigen die gemalten Tafeln und die geschnitz­ten Figuren einen einheit­li­chen Stil. Sie sind sicher oberrhei­ni­scher Herkunft. Wieweit ein Zusam­men­hang besteht mit dem gotischen Flügel­al­tar im Münster St. Stephan zu Breisach (1523/26 HL) oder dem rechten Seiten­al­tar in der Kath. Pfarr­kir­che Mariä Krönung in Lautenbach, bedarf noch der näheren Erfor­schung. Linker Drehflügel - Rückseite Hl. Leonhard, Edelmann am Hofe der Franken­kö­nige. Er wählte das Ordens­le­ben und gründete die Abtei Noblac bei Limoges. Er trägt ein ungegür­te­tes weitär­me­li­ges Abtsgewand. Regelbuch und Abtsstab sind die Attribute. Seine Linke hält eine Kette, daran ein Eber, was ihn als Schutz­pa­tron der Haustiere im bäuer­li­chen Kult des Mittel­al­ters ausweist. (Fest am 6. November.) St. Ursula nach alter Überlie­fe­rung die Tochter eines briti­schen Königs. Sie wurde auf einer Wallfahrt nach Rom mit ihren Gefähr­tin­nen in Köln durch hunnische Pfeil­schüt­zen getötet. Sie trägt ein rotes Manteltuch und auf dem Haupte die Märty­rer­krone. Der Pfeil in ihrer Hand deutet die Art ihres Todes an. (Fest am 21. Oktober.) Rechter Drehflügel - Rückseite St. Anna, die Mutter Mariens, der Mutter Jesu, mit dem Jesuskind. Nach spätmit­tel­al­ter­li­chem Sprach­ge­brauch wird sie "Anna Selbdritt" genannt (Anna zu den dreien; lateinisch: mettertia). St. Anna im Matro­nen­ge­wand reicht Maria das Kind hin. (Fest am 26. Juli.) Apollonia war eine christ­li­che Jungfrau aus dem römischen Adel, die um 245 als Märtyrin zu Alexan­dri­en starb. Beim gewalt­sa­men Tod wurde ihr die Kinnlade zerschla­gen bzw. wurden ihr die Zähne ausge­schla­gen. Daher erklärt sich ihr besonderes Attribut: Zange mit einem Zahn. Sie gilt deshalb als Patronin der Zahnärzte. Rechter Stehflügel St. Wolfgang mit Pluviale. Er wurde 972 Bischof von Regensburg, starb 994 und wurde zu St. Emmeran in Regensburg beerdigt. Er trägt das gewöhn­li­che Attribut Buch und Stab. Sein spezielles Attribut, Kirchen­mo­dell mit Beil, weist ihn als den großen Seelsorger aus, der in den Herzen unzähliger Menschen Kirche gestaltete. (Fest am 31. Oktober.) Seit dem 12. Jh. entwickelt sich der bildge­schnitz­te Altarauf­satz (Retabel) bis hin zu den reichen Formen des Flügel- und Wandel­al­ta­res der Spätgotik und der Renaissance. Mit Vorliebe wählt man Darstel­lun­gen Mariens, der Apostel, der Kirchen-, Altar- und Ortspa­trone. Die Predella als Untersatz des Flügel­al­ta­res wurde im 15. Jh. gebräuch­lich. Die Heiligen haben ihre bestimmten Attribute, weil jeder Heilige die besondere Sorge seines Erden­le­bens um die Nöte der Menschen mit in den Himmel nimmt, etwa St. Wendelin um die Haustiere, St. Blasius um die Krank­heits­nöte usw. Darüber hinaus reprä­sen­tie­ren die darge­stell­ten Heiligen die Scharen der Heiligen im Himmel überhaupt. Die Anregung hierzu - die Predella und die Retabel stehen ja auf oder hinter dem Altar - kommt aus dem Meßkanon selber. Der Flügel­al­tar ist uns teuer um seiner hohen künst­le­ri­schen Qualitäten willen. Er ist das bedeu­tendste und älteste noch erhaltene Altarwerk im Raum Karlsruhe. Mehr noch ist er uns teuer als Ausdruck des Glaubens früherer Genera­tio­nen. Literatur: Peter Pretsch: Der Beiert­hei­mer Altar. In: Blick in die Geschichte, Karlsruher Blick­punkte, Nr. 69, 09.12.2005 Spätgotik am Oberrhein. Meister­werke der Plastik und des Kunst­hand­werks 1450 - 1530. Ausst.-Kat. Badisches Landes­mu­seum. Karlsruhe 1970, S. 192, Abb. 130 Text: Sigrid Eder, Bürger­ver­ein Beiertheim
https://www.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/kulturdenkmale/denkmaltag_archiv/2007/beiertheim/st.michael